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Wochenlang habe ich nach einem passenden Geschenk für George gesucht. Ich wollte etwas besonderes finden, etwas das ihn begeistern würde. Begeistern und ablenken.

Mir fehlt das Strahlen seiner Augen, sein ausgelassenes Lachen.

Wie zufällig bin ich schließlich über einen kleinen, chaotischen Laden in der Nähe des Bahnhofs gestolpert, welcher wie eine andere Welt wirkte.

Leise öffne ich nun seine Zimmertür und hoffe, dass der hinein fallende Lichtschein ihn nicht wecken wird. Das flache Holzkästchen in meiner Hand fühlt sich schwer an. „Eiche ist das.", hat die Verkäuferin vergnügt gesagt. „Echte Eiche, natürlich behandelt, null Giftstoffe."

Ich bin mir nicht sicher, ob George das Eichenholz wertschätzen wird, aber vielleicht kann ihn der Inhalt überzeugen...

Er schnauft leise, als ich das Geschenk auf dem Nachttisch neben seinem Bett ablege. Wie friedlich er aussieht. Wie unschuldig.

Der Tag am See kommt mir wieder in den Sinn. George, wie er mit hochgekrempelter Hose durchs Wasser watet und Steine sammelt. „Guck dir den mal an, Helena! Der sieht aus wie ein Drachenei!"

Damals konnte ich nicht erkennen, nicht nachvollziehen, was er sah.

George wandelt in einer anderen Welt, einer Welt die ich niemals erreichen werde. Sanft küsse ich ihn auf die Stirn und ziehe leise die Zimmertür hinter mir zu.

Wenigstens in seinen Träumen kann er frei sein.

Dad und Ma warten schon vor seinem Zimmer auf mich. Verschlafen starrt Dad mich an und ich weiß, dass ihm ein unsiniger Witz auf der Zunge liegt doch Ma stößt ihn unsanft mit dem Ellenbogen an. „Schatz? Zündest du die Kerzen an?"

Sie hält einen Schokoladenkuchen in den Händen. George vergöttert Schokolade.

„Als ob der Mensch den Himmel zu sich geholt hat, Helena", sagt er oft und seine Augen leuchten dabei so hell, dass ich fast selbst daran glaube. „Schokolade ist magisch. Sie macht dich von allem Bösen frei."

Wenn es doch wirklich so wäre...

Als die zwölf Kerzen flackernde Wärme auf unsere Gesichter werfen bedeutet Ma mir, die Tür zu öffnen. Dad greift nach dem Geschenk, welches er auf dem Boden gestellt hat. Es ist flach und länglich und in hellblaues Geschenkpapier mit roten Feuerwehrautos eingepackt. George hasst es, daran erinnert zu werden, dass er ein Kind ist.

Er sitzt bereits aufrecht im Bett und hibbelt aufgeregt auf und ab. Als wir zu singen beginnen, breitet sich ein strahlendes Lächeln auf seinem Gesicht aus.

„Alles alles Liebe zum Geburtstag, mein Liebling!", flüstert Ma heiser und umarmt ihn fest. Ich weiß, dass sie versucht die Tränen zurückzuhalten. Sie zeigt es nicht oft, aber ich weiß dass sie George unglaublich liebt. „Ich kann nicht glauben, wie groß du geworden bist. 12 Jahre!"

Auch Dad setzt sich zu ihm aufs Bett und küsst ihn sanft auf die Stirn. Beim Anblick des kindlichen Geschenkpapiers verdüstert sich Georges Miene.

Mit einem kräftigen Atemzug pustet er die Kerzen aus, welche flackernd erlischen. Mit einem Ruck ziehe ich die Vorhänge auf und helles Sonnenlicht flutet den Raum.

Ich entdecke mein Geschenk auf dem Nachtisch, das Kästchen ist offen. George, der meinem Blick gefolgt ist, lacht hell auf. „Hier Helena!", sagt er und deutet auf die Kette, die er um den Hals trägt. Der silberne Drache baumelt langsam hin und her. „Ich bin in der Nacht von einem Traum aufgewacht.", kurz zögert er und sein Blick huscht zu Ma und Dad, dann murmelt er leise: „Ein Engel hat mir die Welt gezeigt."

Ich schlucke. George und seine Engel. „Das klingt nach einem schönen Traum.", antworte ich dann und zwinge mich zu einem Lächeln.

Er nickt gedankenverloren, dann beginnt sein Gesicht wieder zu leuchten. „Jedenfalls hab ich dein Geschenk gesehen. Ich konnte einfach nicht bis morgens abwarten."

„Magst du sie denn?"

„Ich liebe sie!", er birgt den Drachenanhänger in seinen zarten Händen. „Der Drache wird mich beschützen."

„Ja, das wird er.", antworte ich. „Das wird er."

„So, jetzt mein Geschenk!", ruft Dad und legt George das Päckchen in den Schoß, der meinen Blick sucht und eine Grimasse zieht. Ich kichere.

Raschelnd knüllt George das Papier zu mehreren Bällen zusammen, ehe er den Karton näher betrachtet, der zum Vorschein gekommen ist.

Dad springt auf und formt seine Arme zu einem Kreis. „Hier! Wenn du triffst, schenk ich dir noch zwanzig weitere Geschenke! Zwanzig Geschenke und tausend Küsse."

George lacht. „Ich brauch die Geschenke nicht, Dad."

Aber dann wirft er dennoch in die Arme meines Vaters, woraufhin dieser sich auf ihn stürzt und sein Gesicht mit Küssen bedeckt.

„Hör auf, Dad! Hör auf!", sein Lachen tanzt durch den Raum und erfüllt mich von innen mit sprudelndem Glück.

Ma nimmt den Karton vorsichtshalber zur Seite. Als sie ihn in den Händen hält, verändert sich ihre Miene. Sie wirkt bekümmert, ja fast wütend. Doch als sie meinen Blick bemerkt, lächelt sie schnell. „Darf ich jetzt weiter auspacken, Dad?", stößt George atemlos hervor. „Bitte?"

Er lässt sich Zeit. So ist George, er macht die Dinge in seinem eigenen Tempo. Doch irgendwann hat er das Klebeband abgerissen und klappt den Deckel auf.

Mit zusammengepressten Lippen hockt er auf seinem Bett, und starrt sein Geschenk an.

„Gefällt es dir?", fragt Dad und legt ihm einen Arm um die Schultern.

Ich recke den Hals, kann aber nicht erkennen was sich in dem Karton befindet. Warum sagt George denn nichts?

Ma scheint es sehr genau zu wissen, denn sie lächelt sanft. „Du musst es nicht behalten, mein Schatz. Gib es Daddy einfach zurück, er kann ohnehin viel mehr damit anfangen als du.", obwohl sie lächelt, ist ihr Blick stechend. Eine steife Grimasse.

Dad seufzt genervt und ich merke, dass sie diese Diskussion in der letzten Zeit schon einige Male geführt haben.

„Du bist jetzt zwölf, sei stolz auf dich.", sagt er dann und klopft George auf den Rücken, welcher unter jedem Schlag mehr zusammensackt. „Du bist kein Kind mehr, du bist ein Mann. Mein kleiner Mann."

Ich sehe zu dem Geschenkpapier auf dem Boden und unterdrücke ein Lächeln.

Doch dann greift George in den Karton und holt die Waffe hinaus. Sein Blick ist ehrfürchtig und ich merke, wie seine Hände beben.

„Komm", sagt Dad und springt schwungvoll auf. „Ich zeig dir, wie du sie benutzt."

Ma starrt ihn fassungslos an. „Ist das dein Ernst? Vor dem Frühstück? Lass den Jungen doch erst mal aufwachen..."

Doch Dad steht schon im Flur. „George! Kommst du?"

Zögernd steht er auf und schleift die Waffe hinter sich her. Sie wirkt zu groß, zu mächtig. Was hat Dad sich nur dabei gedacht?!

An der Tür dreht er sich um. „Ich komme gleich wieder rein."

Ma nickt nur und als der erste Schuss draußen ertönt vergräbt sie ihr Gesicht in den Händen. Leise sammle ich die Geschenkpapierknäuel zusammen. Ein zerknittertes Feuerwehrauto scheint mich höhnisch anzugrinsen.

Die Schüsse hören nicht auf. Schon seit einigen Stunden knallt es immer wieder ohrenbetäubend laut, was es mir wirklich unmöglich macht mich auf mein Buch zu konzentrieren. Ma ist irgendwann seufzend aufgestanden und sagte, sie ginge auf unbestimmte Zeit spazieren. Seit Georges Geburtstag haben Ma und Dad sich nicht mehr in die Augen gesehen. Irgendwann nachts ist Dad dann mit seinem Lkw verschwunden. „Irgendjemand muss hier ja arbeiten...", hat er entschuldigend gemurmelt, als ich mich von ihm verabschiedet habe.

George scheint es gar nicht zu bemerken. Er hat eine seiner Phasen. Sein ganzes Zimmer ist voller Papiere, die beim kleinsten Lufthauch umher flattern wie ein Schwarm Tauben. Er verlässt sein Zimmer nur noch zum Essen und wenn immer ich seinem Blick begegne, falle ich in tiefe schwarze Löcher.

Es knallt wieder und ich schrecke hoch. Das reicht. Ich bin mir nicht sicher, was er da tut, aber es reicht.

Seine Zimmertür ist nur angelehnt. Als hätte er darauf gewartet, dass jemand kommt.

Er sitzt am offenen Fenster, mit dem Rücken zu mir, und lässt die Beine baumeln. Sein Haar ist verwuschelt und er trägt eines von Dads alten T-Shirts wodurch er noch kleiner und zerbrechlicher wirkt. Dann reißt er mit einer fließenden Bewegung die Waffe hoch und schießt in die Luft.

„George?"

Er hört mich nicht.

Noch ein Schuss.

Mit einem leisen Rascheln stürzt ein Vogel am Fenster vorbei. Es knallt, als er unten auf dem Steinboden aufschlägt.

„GEORGE!"

Mit wenigen Schritten bin ich bei ihm und packe ihn am Arm. „Was tust du da?"

Langsam dreht er sich zu mir, starrt mich an. Seine Augen sind dunkel, viel zu dunkel.

„Ich schieße.", antwortet er tonlos. „Ich schieße auf Vögel."

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