𝗞𝗮𝗽𝗶𝘁𝗲𝗹 𝟮: 𝒟𝑒𝓇 𝒜𝓊𝓈𝒷𝓇𝓊𝒸𝒽 𝒶𝓊𝓈 𝒹𝑒𝓂 𝑔𝑜𝓁𝒹𝑒𝓃𝑒𝓃 𝒦𝒶̈𝒻𝒾𝑔



Ein wenig einschüchternd kletterte die Kunststofffassade der Eishalle über Sunoos Kopf in den Himmel. Sie bildete eine imposante Kuppel, unter welcher sich der Junge die meiste Zeit noch kleiner und unbedeutender fühlte, als er es ohnehin schon tat. Blassgrau spiegelte sie sich in seinen Augen, die gedankenverloren gen Decke starrten. In seinem Brustkorb wurde es derweil enger, seine Atmung verschnellerte sich, je länger sein Blick auf dem Gewölbe klebte. Schon seit einer Ewigkeit ließ ihn dieses Gefühl nicht mehr los, wenn er sich bewusst machte, wo er sich gerade befand. Immer wieder aufs Neue fragte er sich, wie diese Halle zu seinem Käfig geworden war?

Mit einem mühsamen Atemzug, der nur schwerlich seine zusammengedrückten Rippen auseinanderpresste, riss er sich von dem Deckenfirmament los. Keine Sekunde später lag sein Blick bereits auf den schneeweißen Schlittschuhen an seinen Füßen. Unsicher standen sie auf dem grauen Schaumstoff. Durch Sunoos weiche Knie begannen die Schuhe hin und wieder zu erzittern. Jedes Mal wenn der blondhaarige Junge Schlittschuhe an seinen Füßen trug, überkam ihn ein mulmiges Gefühl. Die meiste Zeit schaffte er es nicht dieses Gefühl in gut oder schlecht einzuordnen. Doch heute - nach diesem schrecklichen Wettkampftag - ja heute, da trug er die Schuhe mit mehr Zuversicht und Sicherheit, als an jedem anderen Tag.

Bedächtig fuhren seine Augen über das weiße, zum Teil zerschlissene Kunstleder. Es hatte ihn einiges an Überwindung gekostet sich das erste Mal heimlich in der Eishalle zu verstecken und sich zu allem Überfluss auch noch in das Schlittschuhlager zu schmuggeln. Damals war es für Sunoo noch eine der größten Herausforderungen seines Lebens gewesen und hatte ihn einiges an Überwindung gekostet.

Mittlerweile war jedoch nicht nur das Verstecken, sondern auch das vorübergehende Borgen der Schlittschuhe - wobei er wusste, dass dies ohne Absprache eher einem Diebstahl glich - zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Diese Dinge bereiteten ihm keine Sorgen mehr. Seine Ängste waren zum einen, dass seine Familie irgendwie von alle dem hier erfahren würde. Seiner Meinung nach fragten seine Eltern nämlich eindeutig zu oft nach seinem imaginären Freund und dass dieser noch nie bei Sunoo Zuhause war, ließ sie hin und wieder kräftig die Stirn runzeln. Zum Glück bohrten sie aber auch nicht weiter nach, sondern akzeptierten widerwillig, dass ihr Sohn einen komischen Kauz zum Freund hatte, der ihn immer weiter verderben würde.

Dem Blondschopf war es aber lieber, dass seine Eltern sich in ihren Köpfen ihre eigene dramatische Wirklichkeit zusammenbauten, als dass sie von den heimlichen Eskapaden in die Eishalle erfahren würden. Er wollte sich gar nicht erst ausmalen, was dann geschehen würde.

Zum anderen schlich sich jedes Mal ein mulmiges Gefühl in Sunoos Bauch - was wenn er nicht doch nicht alleine hier war? Was, wenn ihn jemand beobachten würde?

Deshalb schnellte sein Blick im nächsten Augenblick bereits herauf. Er hielt den Atem an.

Wachsam spitzte er seine Ohren, lauschte ob ein verdächtiges Geräusch das monotone Brummen der Turbinen durchschnitt. Seine Augen jagten über jeden Winkel der Tribüne, spähten hinter die Glaswände an der Bande - und das ganze drei Mal. Als sich weder in seinen Ohren etwas tat, noch eine eigenartige Bewegung sich in seinem Blickfeld regte, stieß er erleichtert die angehaltene Luft aus.

Erst dann schloss er seine Augen.

Eine kleine Dunstwolke bildete sich bei jedem Atemzug vor seinen Lippen.

Er zog ein letztes Mal die kalte Luft tief in seine Lunge.

Als er seine Augen schließlich wieder öffnete, blitzte ihm ein so strahlendes Weiß entgegen, dass er mehrmals kurz blinzeln musste. Erst nach einigen verstrichenen Sekunden konnte er die kristallene Eisfläche vor sich gänzlich betrachten.

Ohne zu zögern setzte er seine silbernen Kufen auf das ebene Weiß und schlitterte geradewegs auf die Mitte der Fläche zu. Seine Hände hatte er tief in den Taschen seines schwarzen Hoodies vergraben. Jedem Zuschauer in der Halle wäre das Bild, welches sich unten auf dem Eis für sie bot, ziemlich ulkig vorgekommen. Ein gänzlich in Schwarz gekleideter Junge auf dieser riesigen, kahlen Eisfläche. Sunoo musste einsam und verloren aussehen.

Komisch war nur, dass er selbst sich in diesem Moment keineswegs so fühlte. Ganz im Gegenteil.

Als der Junge in der Mitte zum Stehen kam, fühlte sich sein Herz nicht mehr ganz so schwer an und auch die festgezogenen Seile um seinem Brustkorb lockerten sich Stück für Stück.

Sunoo fühlte sich nicht einsam - nicht wenn er ganz allein auf dem Eis war.

Dies war der Moment, wo er sich seine gestohlene Freiheit zumindest für eine Weile zurück stehlen konnte. Mit aufgeregtem Herzen nahm er die Hände aus seinen Taschen und legte sie an seine Kapuze. Mit einem Ruck zog er sich das schwarze Stück Stoff am heutigen Tag zum ersten Mal selbst vom Kopf. Hier musste er sich nicht verstecken.

Er stemmte die silbernen Kufen in das Eis, drückte sich mit einem Fuß ab und nahm kräftig Schwung.

Nach der ersten Kurve, legte sich ein zaghaftes Lächeln auf die rosa Lippen des Jungen. Nach der zweiten Kurve öffnete er seine Arme. Nach der dritten Kurve drehte er eine grazile Pirouette. Mit jeder weiteren Kurve ließ er sich von dem Gefühl der wiedergewonnenen Freiheit durchströmen. Er spürte, wie die Beklemmung aus seiner Brust wich und die Steine von seinen Schultern fielen.

Hier, nur hier, fühlte Sunoo sich als könnte er fliegen.

-

Keine halbe Stunde später saß er bereits auf einem der hinteren Sitze irgendeines Busses, der ihn weg von der Eishalle nach Hause brachte. Für Sunoo bedeutete es aber viel mehr zurück in sein goldenes Gefängnis zu treten. Müde lehnte er sich gegen die Rückenlehne des Sitzes. Sie war unbequem. Wie gerne wäre er noch länger in der Halle geblieben und hätte seine Runden auf dem Eis gedreht. Seine Gedanken hatten heute einfach keine Ruhe gefunden und gerade als er angefangen hatte die Erlebnisse mit seiner Familie weit von sich zu schieben, musste er das Eis auch schon wieder verlassen, um den letzten Bus noch zu erwischen.

Draußen regnete es inzwischen wie aus Eimern. Allerdings war das nicht der einzige Grund, weshalb Sunoo seine Kapuze erneut tief in sein Gesicht gezogen hatte.

Bei seinem Blick heraus auf die nassen Straßen zogen die Regentropfen kleine Rinnsale über das Busfenster. Hier draußen fühlte Sunoo sich beobachtet. Sogar die Tropfen schienen ihn anzustarren und zu allem Überfluss fielen immer mehr von ihnen an die Scheibe des Busses. Er mochte es nicht unter Menschen zu sein. Weder in der Öffentlichkeit, noch in der Schule. Dies hing vor allem mit zwei Dingen zusammen.

Erstens: Der Berühmtheit seines Bruders.

Und zweitens: Seinen Versagensängsten.

Wobei an letzteren ebenfalls seine Familie und sein Bruder Schuld waren, sodass der zweite Punkt eigentlich nicht wirklich zählte.

"Nächster Stopp: Kkeodtgil", schallte es mit einem Mal blechern durch den Bus, sodass Sunoo aus seiner Gedankenwelt gerissen wurde und seine Augen von der verregneten Straßen nahm. Mit einem Seufzen warf er sich seinen Rucksack über die Schulter. "Danke, dass sie sich für Maeul-Busses entschieden haben", verabschiedete die monotone Stimme den Jungen in den prasselnden Regen. Gleich als die Tür sich quietschend öffente, sprang er mit einem Satz aus dem Bus heraus und wie hätte es auch anders kommen können, direkt in eine tiefe Pfütze. In hohem Bogen spritzte die braune Suppe an seiner Hose herauf und tränkte seine Schuhe. Erneut verließ ein Seufzen die Kehle des Jungen, bevor er durch den Starkregen schlenderte. Jetzt machte es für ihn sowieso keinen Sinn mehr sich zu beeilen und zu versuchen möglichst wenig von dem Himmelswasser abzubekommen.

Mit hängenden Schultern bog er in die nächste Seitenstraße ein. Hier wimmelte es nur so von protzigen Stadtvillen. Das Seoul der gehobenen Gesellschaft blitzte zwischen den dicken Tropfen in den Augen des Jungen auf. Die weiß verputzten Fassaden spiegelten sich auf der nassen Straße. Sunoo stapfte mit seinen Sneakers immer genau in die Spiegelbilder, verwischte damit den trügerischen Glanz. Für Sunoo hatte nichts von alle dem hier mit gehobener Gesellschaft oder einer besseren Klasse zutun. Er wusste was hinter den dicken Wänden der Villen vor sich ging und wie sehr hier alle ihre goldene Hülle um jeden Preis bewahren wollten.

Die Beine des Jungen wurden immer schwerer, je näher er der imposanten Haustür eines modernen Gebäudekomplexes kam. Laut stürzte der Regen auf das Flachdach herab. Zu seinem Bedauern waren in so gut wie jedem Zimmer des Hauses noch die Lichter an. Aber er hätte sich auch denken können, dass seine Familie nach so einem Wettkampf noch hellauf sein würde. Wenn er Pech hatte, dann waren seine Eltern sogar betrunken. In seinem Kopf ploppten fortwährend neue Gründe auf, warum er die Tür, die nun direkt vor seinen Füßen aufragte, nicht öffnen sollte.

Dennoch legte der Blondschopf seine kalten Finger um den Schlüsselbund in seiner Hosentasche, zog ihn missmutig heraus und schloss im nächsten Moment die Haustür auf. Gerade hatte er den ersten Schritt in den Flur gemacht, da ertönte auch schon die aufgebrachte Stimme seiner Mutter: "Also jetzt gibt es aber was." Sunoo konnte den Ärger in ihrer Stimme hören. Keine Sekunde später stand sie bereits im Flur. Außer, dass sie ihre Haare von der Haarspange befreit hatte und sie ihr nun locker über die Schultern fielen, hatte sich an ihrer Erscheinung nichts geändert. Noch immer trug sie den engen Bleistiftrock mit dem dunkelgrünen Blazer und sah wie aus dem Ei gepellt aus.

"Sunoo, wo warst du?", kam es ihr zerknirscht über die Lippen, bevor sie ihre Augen jedoch entsetzt aufriss. Der pitschnasse Junge warf in der Zeit die Tür hinter sich in Schloss und begann sich seine durchtränkten Schuhe von den Füßen zu schälen. "Warum bist du denn so nass?", ihre Stimme war eine Oktave heraufgeklettert, als sie den Jungen am Arm packte und so auch Bekanntschaft mit dem nassen Pullover machte. Hastig zog sie ihre Hand wieder an sich und verzog angewidert ihren Mund. "Du tropfst hier den ganzen teuren Marmorboden voll! Ab mit dir!", meckerte sie ununterbrochen. "Ab ins Badezimmer und raus aus den Klamotten!" Sie schob ihren Sohn in Richtung Treppe und machte ihm mit wild gestikulierenden Händen klar, dass er keine Sekunde länger mehr dort unten etwas zu suchen hatte.

"'Hallo' auch an dich, Mutter", brummte  Sunoo genervt und verdreht die Augen "und draußen regnet es zufälligerweise."Es hätte ihm ja klar sein können, dass seiner Mutter der ach so teure Marmorboden wichtiger war als seine Gesundheit. "Jetzt werde nicht auch noch frech", patzte sie und verengte ihre Augen, "dazu hast du kein Recht. Wer so spät nach Hause kommt und dann noch..."

Der Monolog Jiseols verblasste in Sunoos Ohren, als er ohne ein weiteres Wort zu verlieren die Treppe heraufstampfte. Mit jedem Schritt fielen ein paar der Regentropfen auf den weißen Marmor und hinterließen eine Straße der Erniedrigung. Sunoo war es gewohnt so von seinen Eltern behandelt zu werden und dennoch versetzte es ihm einen derben Stich ins Herz, als er die Worte seines Vaters noch hörte, kurz bevor er ins Badezimmer abbog. "Jetzt müssen wir für den Nichtsnutz um diese Uhrzeit auch noch den Wischer rausholen", blaffte er und Sunoo konnte das mitleidige Seufzen seiner Mutter hören. "Ach Heewon", klagte die Frau geschafft, "er wird es nie zu etwas bringen."

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