Weihnachten mit der Familie
Weihnachten war eigentlich noch nie etwas sonderlich Besonderes für Phillis gewesen.
Das Beste an Weihnachten und den Ferien war immer gewesen, dass sie nach Hause zu ihrer Mum gehen konnte und dass sie eine Auszeit von Hogwarts gehabt hatte – das beste Weihnachtsgeschenk war also gewesen, dass sie zu Hause sein konnte (und Phillis fand, das beschrieb ihre Beziehung zu Schule ausgezeichnet).
Aber dieses Jahr war es natürlich anders.
Es waren immer nur Phillis und Sara gewesen. Phillis hatte von anderen Schülern gehört, die mit ihren großen Familien die Feiertage verbrachten und sie hatte gehört, dass auch Tanten, Onkel, Cousins und Großeltern zu diesen Events eingeladen wurden, aber für Phillis waren sie immer nur zu zweit gewesen.
Dieses Jahr aber nicht, denn dieses Jahr war auch Familie von ihr im Haus und verbrachte Weihnachten mit ihnen.
Es war zwar immer besser, wenn man das mit der göttlichen Familie nicht so genau nahm, aber genau genommen waren Birget und Laertes Phillis' Cousins und natürlich Ruth, ihre Schwester, also konnte Phillis wohl von sich behaupten, dass ihre Familie zu Weihnachten gekommen war.
Antonin war nie zu Weihnachten gekommen, nicht einmal, als er noch irgendwie ein Teil der Familie gewesen war und ihre Großeltern hatte Phillis nie kennengelernt, also hatte sie nie gewusst, wie es war, nicht alleine mit ihrer Mutter im Haus zu sein.
Es war wohl auch für Sara ungewohnt, aber sie passte sich ausgezeichnet an die Situation an und schien geradezu aufzublühen in der Gesellschaft der göttlichen Familie, obwohl sie immer behauptete, dass sie nicht viel von Menschen hielt.
„Noch mehr Eierlikör?", fragte sie heiter und Birget nickte nur aufgeregt, als Sara ihr das bestimmt vierte oder fünfte Glas einfüllte. Es war natürlich ohne den traditionellen Rum gemacht, aber vielleicht war auch genau das Saras Geheimnis für perfekten Eierlikör, der viel besser schmeckte, als einer mit Alkohol. Nicht, dass Phillis wusste, wie Eierlikör mit Alkohol schmeckte, aber sie bezweifelte, dass es noch besser werden konnte, als er schon war.
Der Weihnachtsbaum strahlte. Normalerweise hatten sie immer nur einen ganz kleinen Baum, aber dieses Jahr hatten Laertes und Birget zusammen eine ziemlich große Tanne aus dem Wald geklaut, die so hoch war, dass sie nicht einmal in das ziemlich hohe Wohnzimmer passte und sie hatten die Spitze einfach angeschnitten und auf der Seite mit festlichem Polizeiband festgebunden (das Laertes ebenfalls irgendwann geklaut hatte, aber keiner fragte nach, woher genau und wahrscheinlich war das auch besser so).
Sie hatten zusammen den Baum geschmückt und Sara bereute das vermutlich schon, denn sie hatten kaum traditionellen Baumschmuck verwendet. Neben dem gelben Polizeiband waren auch noch einzelne Trophäen, die Phillis oder die anderen Demigötter bei sich gehabt hatten und so hingen einige getrocknete Krallen von Raben, ein bronzenes Messer, löchrige Socken (in XXXXXL-Größe), einige bunte Federn und natürlich ein Glasauge (das durfte auf keinem ordentlichen Weihnachtsbaum fehlen). Sara hatte noch zwei oder drei Glaskugeln und etwas Limetta auf die Socken gehängt und mit der richtigen Beleuchtung sah er eigentlich ganz passabel aus (wenn „passabel" ein Synonym für „furchtbar" und „verstörend" war).
Ruth saß am Klavier und spielte alle ihre Lieblingslieder und wer AD/DC und Queen noch nie auf einem Piano gehört hatte, sollte das wohl lieber nicht nachholen, denn es klang beunruhigend falsch. Ruth hatte aber ein besonderes Talent für Musik und schaffte es, selbst Rock-Musik als Klavier-Musik gut klingen zu lassen.
Keiner redete viel und sie alle genossen (obwohl mindestens vier Hyperaktive in einem Raum waren) die innere Ruhe, die einen überkam, wenn man jemandem beim Musikmachen zuhörte.
Birget starrte mit leerem Blick auf Ruths Hände, die geradezu über die Tasten schwebten, als sie „Killer Queen" von Queen spielte. Für einen Laien schien es unmöglich, so schnell die Finger zu bewegen und auch noch eine Melodie daraus zu schaffen, aber Phillis spielte selbst seit sie ein kleines Kind war (fand es aber trotzdem sehr eindrucksvoll).
Laertes kaute an einem Keks herum und sah so aus, als würde er bald einschlafen und das war auch kein Wunder – sie hatten zusammen ganze Tonnen an Zucker verspeist und nachdem der Zucker-Schub erst einmal abgeklungen war, blieb immer nur Müdigkeit zurück. In diesem Moment konnte man sich dann entscheiden, ob man wieder wie eine Rakete nach oben schießen wollte, indem man einfach Kaffee oder noch mehr Zucker konsumierte, mit dem Nebeneffekt, dass das Down umso schlimmer werden würde oder man gab sich der Müdigkeit hin.
Laertes aß zwar noch zuckrige Kekse, aber so, wie er aussah, würde er lieber bald schlafen gehen und es war auch schon lange nach Mitternacht.
Ruth beendete die Melodie und Birget klatschte ruhig und zwinkerte ihrer Freundin zu und Ruth sendete einen Luftkuss in ihre Richtung, bevor sie sich an Phillis wandte. „Oi, Leprechaun", grinste sie, „Kannst du noch „Bohemian Rhapsody" spielen?"
„Auf welchem Instrument?", scherzte Phillis, „Klavier, Gitarre oder Didgeridoo?"
„Didgeridoo?", wiederholte Laertes verstört.
„Setz dich her, Leprechaun! Wir spielen zusammen", rief Ruth und Phillis setzte sich nur allzu gerne neben ihre große Schwester an das Piano, sodass sie Zugriff auf die tiefen Töne hatte und Ruth die Melodie mit den helleren spielen würde.
Leute sagten oft, Musik würde verbinden. Phillis stimmte ihnen vollkommen zu. Sie fühlte sich mit Leuten verbunden, wenn sie zusammen musizierten, sangen, auf Konzerten herumschrien oder spielten und wenn Phillis zusammen mit Ruth an einem Piano ein einziges Lied spielte, fühlte sie sich sehr verbunden mit ihrer großen Schwester. Man musste aufeinander achten; aufeinander hören; zusammen etwas erschaffen, das komplexer und schöner war, als es eine einzige Person könnte.
In Hütte sieben – der Apollo-Hütte war es Brauch, zusammen zu spielen und manchmal spielten sie auch zusammen auf einem Piano, das in ihrer Hütte stand, aber das war nicht immer so einfach. Selbst, wenn man sich ein Elternteil, eine Hütte und einen Tisch teilte, so schuf das nicht automatisch eine Verbindung, die einen so aufeinander abstimmte, dass man zusammen musizieren konnte.
Phillis konnte auch mit anderen ihrer Geschwister spielen, aber am besten funktionierte es mit Ruth.
„Bohemian Rhapsody" war das Lieblingslied von Ruth, wie jeder wusste (der sie ein bisschen kannte) und Ruth hatte sich das Lied, seit es veröffentlicht worden war, auf sieben verschiedenen Instrumenten beigebracht und sie hatte auch alle anderen aus Hütte sieben dazu gebracht, es zu lernen, damit sie es zusammen spielen konnten und ihr Camp-eigenes Orchester (das nur aus Kindern von Apollo bestand) spielte nun zu jedem feierlichen Anlass Queen.
Phillis spielte schon Klavier, seit sie denken konnte und besonders „Bohemian Rhapsody" hatte sich für immer in ihr Gedächtnis eingebrannt. Manchmal scherzte sie, dass sie sich noch genau an die Noten erinnern würde, wenn sie nach ihrem Tod die Wiedergeburt wählen und aus dem Fluss Lethe (dem Fluss des Vergessens) trinken würde.
Als sie ihre Hände also auf die Tasten legte, war sie zwar noch etwas ungeübt und sie hatte vergessen, wie es sich anfühlte, auf dem Klavier bei ihr zu Hause zu spielen (im Gegensatz zu dem in Hütte sieben), aber das vertraute Gefühl des Instruments kam schnell wieder zurück und als sie die ersten Takte spielte, fühlte sie sich schon wieder wie zu Hause und in vertrauter Umgebung, als könnte das nur dieses Piano.
Ruth setzte mit der Melodie ein und zusammen spielten sie das Lied von Queen, während sich im Wohnzimmer eine angenehme Stille über alle legte, die nur mit Musik entstehen konnte. Das Gefühl, das absolut nichts mehr wichtig war, außer der Musik und den eigenen Gedanken, die vielleicht einen Moment lang ruhig wurden.
Wie bei Phillis. Keine wütenden Hornissenschwärme brummten mehr in ihrem Kopf. Keine Stierrennen mehr wie in Pamplona. Keine Rush-Hour in New York in Phillis' Kopf.
Einfach nur die Klänge des Klaviers und der leise Gesang von Ruth neben ihr. Sie sang so leise, als würde sie es nur für sich selbst tun. Als könnte sie einfach nicht anders, als der Musik in ihr ihren Lauf zu lassen und die Worte leise mitzusingen, obwohl im Moment die Melodie und das Spielen zusammen wichtiger war.
Die Stille im Raum breitete sich aus, als sie den letzten Ton schlugen und der Klang noch einen Moment lang in der Luft hing, bevor er verstummte.
„Wundervoll", lächelte Sara, die die erste war, die sich aus der Trance der Musik befreien konnte, „Ich liebe es, wenn du spielst, Phillis. Du natürlich auch, Ruth."
„Ich bin die beste Musikerin der Welt und ich werde nur als zweites gelobt?", schnaubte Ruth ungläubig, aber sie lächelte gutmütig. Natürlich war sie weder Phillis noch Sara böse.
„Jetzt spielt was von John Lennon!", schlug Laertes vor.
„Vermisst da jemand einen gewissen blonden Doktor?", grinste Birget und Laertes beging den Fehler auch noch rot zu werden. Jeder wusste, dass sein Ehemann ein sehr großer Fan von den Beatles und John Lennon war. Phillis war eigentlich froh, dass Laertes sich nichts von ABBA gewünscht hatte – jeder wusste, dass man Hütte sieben lieber nicht auf diese schwedische Band ansprach.
Phillis hatte Weihnachten und die Weihnachtsferien schon immer geliebt, aber sie war sich sicher, dass noch kein Weihnachtsabend so wunderschön gewesen war, wie dieser.
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