"Vergesslichkeit" ist im Gesamtpaket dabei
„Phil, du bist bei mir in guten Händen!"
Ruth legte einen Arm um Phillis' Schultern und führte das kleinere, jüngere Mädchen in Richtung der Hütten. Phillis hatte noch immer nicht ganz verarbeitet, dass ihr Vater sie gerade anerkannt hatte und das alles nur, weil sie gut im Bogenschießen war. Sie fragte sich, ob ihr Vater sie niemals akzeptiert hätte, wenn sie schlecht im Bogenschießen gewesen wäre und vielleicht wäre sie dann ihr Leben lang eine Bewohnerin der Hermes-Hütte gewesen, die jeden aufnahmen, deren Eltern noch nicht gezeigt hatten, dass das ihr Kind war.
Phillis hatte die letzten Tage in Hütte elf verbracht und dort in einem Schlafsack auf dem Boden geschlafen, aber nun hatte sich ihr Vater zu ihr bekannt.
Apollo war ihr Vater und vermutlich hätte man das schon erahnen können, nachdem Phillis sehr große Ähnlichkeiten mit dem derzeitigen Hüttenältesten, Marty, hatte, aber auch ein paar von der Hermes-Hütte oder auch Athene sahen sich mit ihren gleichen, blonden Haaren ähnlich, man konnte also davon ausgehen, dass das in der Familie lag.
Auch Ruth war wohl Phillis' Schwester, aber Ruth sah mit ihrer kaffeebraunen Haut, ihren dichten, schwarzen Korkenzieherlocken und den breiten Schultern überhaupt nicht wie Phillis aus. Das einzige, das sie gemeinsam hatten, waren die blitzblauen Augen – ein Erbe von ihrem Vater, wie Phillis schon mehrmals von ihrer Mutter gehört hatte.
Ruth war cool. Sie hatte Phillis das erste Mal einen Bogen in die Hand gedrückt – den Bogen, den Phillis noch immer an sich drückte und der später auch der ihre werden würde.
„Wir sind jetzt Schwestern", sagte Ruth und noch nie war Phillis so stolz auf sich gewesen. Ruth war von Anfang an schon so cool gewesen und nun waren sie Schwestern. Phillis hatte bisher in ihrem Leben noch nichts erreicht und so, wie die Sterne standen, würde das wohl auch so bleiben, aber wenigstens konnte sie von sich behaupten, dass sie die coolste Schwester überhaupt hatte. Ruth war cool und dabei kannte Phillis sie erst seit ein paar Tagen.
„Ich werde dir beibringen, wie man überlebt", bestimmte Ruth und es klang so, als hätte sie soeben ihren Lebenssinn erkannt.
„Ist das Camp nicht dazu da, dass ich lerne, wie man überlebt?", fragte Phillis und erinnerte sich an den Vortrag, den sie über Monster, das Morden und Töten gehört hatte. Demigötter wie sie lebten in der Welt außerhalb des Camps nicht lange.
Ruth lachte auf. „Klar doch, aber ich bringe dir bei, wie man überlebt", sie sagte es, als wäre es etwas Besonderes, „Ich habe dich schon beobachtet und ich vermute, du brauchst einen Extrakurs. Wie-überlebt-man-in-der-Welt-der-Sterblichen-wenn-man-hyperaktiv-ist-und-einen-ganzen-Haufen-Probleme-hat-von-denen-niemand-etwas-versteht-außer-du-selbst-für-Anfänger-und-Fortgeschrittene-von-und-mit-Ruth!"
„Ich denke nicht –", begann Phillis, aber Ruth legte einen Finger auf ihren Mund.
„Shh!", machte Ruth grinsend, „Keine Sorge! Wie gesagt: Du bist in guten Händen. Wenn sich hier im Camp jemand auskennt, dann bin ich das! Lass uns mit einem ganz Grundlegenden Detail anfangen: Vergesslichkeit!"
Phillis war verzweifelt.
Sie hasste sich selbst, sie hasste ihr Gehirn, sie hasste ihr Leben, sie hasste Hogwarts und das alles... nicht unbedingt in dieser Reihenfolge, aber nachdem in ihrem Kopf gerade ebenso ein Chaos herrschte, wie es in ihrem Kleiderschrank ebenfalls schon der Fall war (es war der zweite Tag in Hogwarts), konnte sie nicht wirklich einen klaren Gedanken fassen, weswegen sie diese Liste nicht wirklich ordnen konnte und deswegen nur eine allgemeine Vorstellung davon hatte, dass sie im Moment wohl alles hasste.
Zorntränen hatten sich in ihren Augen gesammelt, aber Phillis riss sich zusammen. Sie war Phillis Dolohow, Tochter von Sara Dolohow und Apollo – einem wahrhaftigen Gott. Sie war Phillis, die einer der besten Bogenschützen im Camp, die Zerstörerin von Zyklopen und Kaffee, sowie alles, das Zucker beinhaltete. Sie war Phillis, Hexe und Demigott zugleich! Sie weinte nicht wegen einer solchen Kleinigkeit wie einer Lebenskrise.
Aber ihre Wut musste sie dann anders loswerden, also warf sie sich auf eines der Sofas und schrie erst einmal in die Kissen. Der Schrei wurde beinahe vollkommen von den Kissen aufgesogen und Phillis fragte sich, ob sie die erste war, die auf dem Bauch liegend und das Gesicht in ein Kissen vergraben auf dieser Couch lag und schrie.
Als sie keine Luft mehr hatte, um zu schreien (ihr Vater war Gott der Musik, also hatte Phillis von Geburt an eine Menge Luft in den Lungen, um eine besonders lange Schrei-Dauer zu erreichen, was ihre Mutter in Phillis' Baby- und Kinderjahren beinahe in den Wahnsinn getrieben hätte, wenn sie wieder einmal ihre kräftigen Lungen unter Beweis stellte), blieb sie einfach liegen und atmete den etwas ekelhaften Schweißgeruch des Kissens ein und sie wusste, selbst, wenn sie die erste war, die in das Kissen schrie, so war sie nicht die erste, die es berührte und einen Moment lang fand sie das ekelhaft, aber sie fand nicht die Energie, um ihre Kopf zu heben oder ihr Gesicht zu bewegen.
„Geht es dir gut?", hörte sie plötzlich jemand neben sich und Phillis erkannte mit ihrer ausgeprägten Fähigkeit, Geräusche und Stimmen auseinander halten zu können, dass es wohl Remus Lupin war, der sich räusperte und Phillis drehte doch den Kopf und hoffte, dass ihre Augen nicht so rot und geschwollen waren, wie sie glaubte. Lupin stand (sich offensichtlich unwohl fühlend) neben Phillis' Sofa und hielt seine Tasche an seine Brust gepresst, was für Phillis ein Zeichen war, dass er sich unwohl fühlte.
„Hm?", machte Phillis, bevor ihr Gehirn seine Worte entziffern konnte.
„Ich habe gefragt, ob es dir –", wiederholte Lupin seine Frage, aber in diesem Moment hatte Phillis' Hirn beschlossen, die auditiven Informationen von vorhin zu verarbeiten und sie unterbrach ihn etwas unhöflich (wie sie im Nachhinein fand): „Ja, alles gut!"
„Oh", machte Lupin und er räusperte sich noch einmal, „Gut, denn... es hat so ausgesehen, als würdest du dich mit den Kissen ersticken wollen und nachdem ich Vertrauensschüler bin, hätte ich dich vermutlich davon abhalten müssen, aber nachdem es dir gutgeht, besteht keine Gefahr, dass du dich selbst umbringst, also... kann ich wohl... beruhigt sein."
Phillis sah Lupin an. Sie fand es faszinierend, dass er Narben hatte. Sie kannte ein paar Leute mit Narben. Sie selbst hatte auch Narben, obwohl diese von keinen sonderlich großen Heldentaten waren. Eine große Narbe am Bauch hatte sie vom Training mit Ruth – sie war ein bisschen zu langsam gewesen und Ruth hatte sie mit einem Schwert erwischt, aber die Schwestern hatten einfach gelacht, bis Phillis in Ohnmacht gefallen war und nachdem Phillis wieder aufgewacht war und sich ihre Geschwister in der Krankenstation um sie gekümmert hatten, hatten sie weiter gelacht.
Außerdem hatte Phillis sich einmal an der Lava-Wand im Camp verbrannt, aber die Narbe sah man nur, wenn Phillis mit kurzen Ärmeln ihre Arme hob, nachdem es nur eine ziemlich große, blasse Stelle an der Achsel war.
Lupin räusperte sich und Phillis fiel auf, dass sie auf sein Gesicht gestarrt hatte. Intensiv.
„'Tschuldigung", sie räusperte sich ebenfalls, „Meine... Gedanken... ich bin abgelenkt..."
„Jaah...", Lupin räusperte sich noch einmal.
Es war wirklich eine unangenehme Situation und Phillis hatte vergessen, was sie eigentlich getan hatte.
Vergesslichkeit – das war schon immer ein großes Problem für sie gewesen... Ruth hatte ihr ein paar Tipps mitgegeben, damit sie in der Welt zurechtkommen würde – oder... so ähnlich.
Phillis musste nur konzentriert bleiben und sich erst einmal umsehen. Manchmal konnte sie anhand ihrer Umgebung erkennen, was sie gerade tun wollte.
Sie war im Gemeinschaftsraum Es war früh. Sie war frustriert... immer noch...
Ah ja... sie hatte etwas verloren.
Sofort kam die Panik zurück und breitete sich in Phillis Magen aus.
„Oh nein!", rief sie und versuchte sich zu erinnern, „Wo ist es? Wo ist es?"
Sie musste sich erinnern. Phillis krallte ihre blonden Haare, als würde sie mit ihren Strähnen auch ihre Erinnerungen aus ihrem immer chaotischen Hirn ziehen können, aber natürlich half das nicht weiter.
„Wow, wow, wow", große Hände befreiten Phillis' Haare aus ihren Händen – so sanft, behutsam und geduldig, wie es normalerweise nur ihre Mutter tat und natürlich war das Remus, der verstört von ihrem Verhalten schien, „Mach das nicht! Was ist los?"
„Okay, okay, okay!", Phillis atmete tief durch (Ruth hatte einmal gesagt, das half, wenn die Gefühle zu viel wurden), „Also... es ist kompliziert... gestern habe ich Verwandlung bei McGonagall gehabt und McGonagall unterstützt mich, soweit sie kann, aber sie ist trotzdem eine sehr ordentliche und korrekte Frau und ich bin chaotisch und vergesslich und schlecht in der Schule und –"
„Okay, ich habe es verstanden", unterbrach Remus sie ruhig.
„Klar... also...", Phillis fasste sich wieder, „Jedenfalls habe ich gestern kein Buch dabei gehabt... also... ich habe gedacht, es wäre in meiner Tasche, aber da war es nicht mehr und ich habe es gesucht, aber es war einfach NICHT MEHR DA!"
„Dolohow."
„Klar... 'Tschuldigung", Phillis räusperte sich, „Also habe ich McGonagall gesagt, dass ich es suchen werde und sie hat gesagt, dass das wohl besser wäre und wenn ich es heute nicht habe, dann – das hat sie gesagt – muss ich heute nachsitzen und ich will nicht nachsitzen und es ist gerade einmal der zweite Tag und ich finde mein Buch nicht und ich muss nachsitzen, wenn ich es nicht finde und ich bin mir sicher, dass es in meiner Tasche gewesen ist, aber da war es nicht mehr und ich habe schon oben in meinem Kasten und in meinem Koffer gesucht – aber natürlich war da nichts! Und jetzt habe ich da unten geschaut, aber... FEHLANZEIGE! Und jetzt weiß ich nicht, was ich tun soll!"
Phillis atmete tief durch und Remus sah sie einen Moment lang verstört an, nachdem sie so schnell gesprochen hatte, dass er Mühe gehabt hatte, sie zu verstehen, aber zum Glück war er mit Peter Pettigrew befreundet, der ebenfalls die Angewohnheit hatte, schnell und unverständlich zu sprechen, wenn er nervös war, also hatte er sie verstanden.
„Das ist alles?", fragte Lupin und blickte hinter Phillis zum Portraitloch, als würde er schon seine Flucht planen.
„Alles?", wiederholte Phillis empört, „Wenn McGonagall schon am zweiten Tag ein so schlechtes Bild von mir hat, dann bin ich nächste Woche schon meinen Platz im Quidditch-Team los!"
Remus dachte einen Moment lang an die Unterhaltung mit James und Sirius am Vortag. James hatte angedeutet, dass es für ihn besser wäre, wenn Phillis aus dem Team geworfen werden würde, also sollte es wohl auch Remus' Ziel sein, Phillis aus dem Team zu werfen, nachdem James einer seiner besten Freunde war, aber... sie sah wirklich, wirklich verzweifelt aus und Remus glaubte nicht, dass es irgendjemand verdient hatte, wegen Noten aus dem Team geworfen zu werfen, besonders nicht, nachdem James auch nicht wirklich ein Engel war.
„Nun, ich könnte dir mein Buch leihen, wenn es dir wirklich so wichtig ist", schlug Remus schulternzuckend vor, „Wenn es dich nicht stört, dass ich und die anderen ein paar der Seiten etwas... verschönert haben... und..." Remus verstummte, als er Phillis' Blick sah. Sie sah nicht wirklich dankbar oder erleichtert aus... eher... misstrauisch.
„Warum solltest du das tun?", fragte sie und kniff die Augen zusammen, „Was hast du davon?"
Remus blinzelte verwirrt. „Ich bin nur... freundlich? Ich leihe es dir nur und wir haben dieses Jahr ein anderes Buch."
Nun war es Phillis, die offensichtlich verwirrt war. „Oh", machte sie, „Und... du willst es mir... leihen?"
„Warum nicht?", langsam fühlte es sich für Remus so an, als wäre es eine Falle, in die er lief.
„Wir kennen uns kaum, warum solltest du mir auch nur in irgendeiner Weise helfen?", fragte Phillis.
Remus starrte Phillis an. „Weil... es... nett ist?"
Phillis musterte Remus misstrauisch und dieser fühlte sich langsam unwohl. „Weißt du was?", er wollte dieser unangenehmen Situation einfach nur noch entkommen, „Ich... hole das Buch und du kannst es dir ausleihen, bis du deines wiedergefunden hast."
Er wartete nicht auf eine Antwort, sondern floh schon beinahe vor Phillis hoch in seinen Schlafsaal und Phillis bemerkte das Verhalten.
Sie selbst war schon oft genug vor Monstern weggerannt, um sie wissen, wie das aussah, aber sie nahm es Remus nicht übel. Sie nahm es nur sich selbst übel, nachdem sie erkannte, dass sie wieder einmal etwas gesagt hatte, das jemand anderen verletzt oder verstört hatte. Warum schaffte sie es nicht einfach, normal zu sein?
Sofort rissen ihre Hände wieder an ihren Haaren, aber Phillis erinnerte sich an Remus' Berührung, beziehungsweise die Hände ihrer Mutter, die schon häufig Haare zwischen den Fingern ihrer Tochter hat befreien müssen. Sie sollte damit aufhören, das tat ihren Haaren nicht gut. Aber die Anspannung in Phillis löste sich trotzdem nicht und sie bohrte ihre Fingernägel in ihre Handballen.
Als Remus zurückkam, brachte Phillis kaum ein Wort heraus und sie nahm dankend das Buch an, bevor sie sich entschuldigte und dieses Mal diejenige war, die beinahe schon floh. Sie brachte das Buch nur schnell hinauf, bevor sie auch dem Gemeinschaftssaal entfloh, obwohl sie eigentlich noch nicht ihre Türme oder das Schloss verlassen sollten, aber sie brauchte vor dem Unterricht oder dem Frühstück noch etwas frische Luft und Bewegung, um ihre Gedanken wieder zu ordnen. Das Jahr hatte bisher ja wundervoll begonnen.
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