Phillis hat ihr Leben nicht im Griff (aber wer hat das schon?)

Phillis hatte eine wunderschöne Singstimme.

Das war eines der Talente, die sie einfach so ohne viel Übung von ihrem göttlichen Vater geerbt hatte und sie war ihm... absolut nicht dankbar. Eigentlich war Phillis kein sonderlich großer Fan vom Singen und obwohl sie ein bisschen die Gitarre spielen konnte (Ruth hatte es ihr beigebracht) und das Piano (etwas besser, nachdem sie schon seit ihrem fünften Lebensjahr Unterricht bekam), so war es immer eher Ruth oder ein paar andere von Phillis' Geschwister gewesen, die wirklich musikalisch waren.

Phillis mochte Bogenschießen und lernte von Marty, wie man ein Muggel-Arzt war, aber mit Musik befasste sie sich nicht sonderlich viel.

Das änderte aber nichts daran, dass Phillis eine wunderschöne Singstimme hatte und wenn man sie morgens die Treppen hinuntersprinten sah, nachdem sie die Zeit übersehen hatte und schon viel zu spät für den Unterricht war, gab es nichts schöneres, als Phillis kleine, panisch gesungenen Lieder zu hören.

„Fuck, fuck, fuck! Zeit ist nur eine Illusion! Fuckety, fuck, fuck! Ich bin zu spät!", sang sie vor sich hin, während sie immer vier Stufen auf einmal nahm und die Gänge schneller hinunterrannte, als... als Phillis, wenn es ausnahmsweise einmal einen ganzen Haufen Süßigkeiten zum Essen gab.

Phillis nutzte das Treppengeländer, um sich zur Seite zu schwingen und rannte, ohne an Geschwindigkeit zu verlieren weiter hinunter, als sie auf ein Problem stieß und dieses Problem war in ihrem Fall eine kleine Gruppe von Menschen, die so nebeneinander die Treppe hinunter gingen, dass sie nicht einfach so an ihnen vorbeirennen konnte, ohne abzubremsen.

„Aus dem Weg! Ich bin zu spät!", sang sie, wartete aber nicht darauf, bis diese langsamen Leute zur Seite gingen, sondern kletterte in einer einzigen eleganten Bewegung auf das Treppengeländer, machte einen Vorwärtssalto hinunter und landete sicher am Ende der Treppe.

„Yeah! Cool!", rief einer derer, denen sie ausgewichen war, aber Phillis blieb nicht stehen, sondern verschwand schneller, als Zeus seine Sexualpartner wechselte.

Es waren ganz zufällig die Rumtreiber gewesen, die Phillis dabei beobachtet hatten, wie sie ihr Leben eindeutig nicht im Griff hatte.

„Seht ihr?", schnaubte James und deutete in die Richtung, in der Phillis verschwunden war, „Sie ist schon wieder zu spät!"

„Habt ihr diesen Salto gesehen?", stammelte Peter nur begeistert, „Das will ich auch können!"

„Das ist ziemlich heuchlerisch von dir, das zu sagen, Krone", bemerkte Remus streng, „Immerhin schwänzt du doch auch gerade eine Stunde Alte Runen, oder nicht?"

„Hush, Moony!"



Phillis erreichte keuchend den Klassenraum für Zaubertränke und nahm sich einen Moment Zeit, um wieder zu Atem zu kommen und nicht ganz mit hochrotem Kopf eintreten zu müssen, aber sie war noch nie sonderlich geduldig gewesen und klopfte einfach an die Tür und trat ein.

Sofort wandten sich alle Blicke zu ihr und erleichtert bemerkte Phillis, dass sie wohl nicht begonnen hatten, Zaubertränke zu brauen, sondern nur Professor Slughorn zuhörten, also hatte sie noch die Chance, das Verpasste aufzuholen.

„Entschuldigen Sie, Professor", brachte Phillis keuchend heraus, „Ich habe die Zeit übersehen und –"

„An ihrem ersten Tag in der ersten Stunde schon zu spät, Miss Dolohow", tadelte Slughorn sie, „Ich hoffe doch, sie fallen nicht in das Muster vom letzten Jahr? Mit so einer Einstellung bestehen Sie nicht ihre ZAGs!"

„Ja, Sir", murmelte Phillis und erinnerte sich selbst daran, dass sie ihre Professoren nicht beleidigen sollte, selbst, wenn sie das Bedürfnis dazu hatte.

„Und wo sind Ihre Schuhe?", fragte Slughorn perplex und Phillis folgte seinem Blick auf ihre Füße. Sie trug verschieden farbige Socken, aber keine Schuhe und sie überlegte, wo sie diese das letzte Mal gesehen hatte. Wahrscheinlich oben in ihrem Schlafsaal, als sie sich umgezogen hatte.

Slughorn seufzte und schüttelte den Kopf, als hätte er jegliche Hoffnung verloren. „Zehn Punkte Abzug für Gryffindor. Setzen Sie sich, Miss Dolohow."

Phillis hätte ihrem Professor gerne gesagt, dass ihr die dämlichen ZAGs sowieso egal waren, dass sie froh war, wenn sie überhaupt erwachsen wurde (nachdem die Lebensdauer eines Halbbluts eher niedrig war), dass sie Schule so sehr hasste, dass sie schon in der Früh beim Frühstück einen kleinen Nervenzusammenbruch gehabt hatte und dass sie (damit niemand bemerkte, dass sie einen Nervenzusammenbruch hatte) einfach Bewegung gebraucht hatte und sie deswegen ein paar Runden auf dem Quidditchfeld gerannt war, um ihre Gedanken zu ordnen und nicht weinend zusammen zu brechen. Aber natürlich sagte sie ihm das nicht, sondern setzte sich auf einen der leeren Plätze neben Emmeline Vance, die mit ihr in einem Turm schlief und sie mit einer Mischung aus Mitleid und Zweifel ansah.

„Warum bist du zu spät?", fragte Emmeline leise, „Du bist doch als erstes aufgewacht?"

„Ich habe noch etwas überschüssige Energie loswerden müssen", wisperte Phillis leise zurück und wippte mit ihrem Bein.

„Eine erfolglose Mission", kicherte Emmeline.

„Du beschreibst mein Leben."

„Miss Vance, Miss Dolohow, wären Sie so freundlich, Ihre Aufmerksamkeit mir zu schenken, anstatt den Unterricht zu stören!", tadelte Professor Slughorn sie.

„'Tschuldigung, Sir!", meinte Phillis sofort und bemühte sich, nicht die Augen zu verdrehen.

Und dann begann der Horror, den Phillis auch voller Hass und Abscheu „Leben" nannte:

Sie hatte noch keinen Kaffee getrunken und kein Zucker in ihrem System, was dazu führte, dass sie erst einmal nur ans verpasste Frühstück denken konnte, was dazu führte, dass sie sich vorstellte, wie es wäre, jetzt einen Kaffee zu trinken und dadurch vergaß sie vollkommen, dass sie eigentlich aufpassen sollte–

Sie riss sich selbst aus ihren Tagträumen und konzentrierte sich auf Slughorn. Sie versuchte, zuzuhören.

In Hogwarts war Phillis schon dafür bekannt, dass sie selten zuhörte und deswegen waren die Lehrer schon misstrauisch. Teilweise wurden ihr Punkte abgezogen, weil es so wirkte, als würde sie nicht aufpassen – das fand Phillis dann immer ziemlich unfair.

Sie sollte einfach so wirken, als würde sie aufpassen – wie wirkte man, wenn man aufpasste?

Phillis sah sich in der Klasse um, aber ihre Klassenkameraden schienen keine guten Vorbilder zu sein, also sah sie wieder nach vorne und lehnte sich in ihrem Stuhl vor, stützte ihre Ellenbogen auf dem Tisch ab und blinzelte so wenig wie möglich.

Erst dann fiel ihr auf, dass sie sich so sehr darauf konzentrierte, so zu wirken, als würde sie aufpassen, dass sie vergessen hatte, wirklich aufzupassen.

Sie lehnte sich also wieder zurück und lauschte Slughorn. Slughorn hatte eine ganz eigene Art zu sprechen – irgendwie... wie Slughorn. Phillis war sich sicher, sollte Slughorn jemals auf die Idee kommen, Vielsafttrank zu nehmen, würde sie ihn trotzdem an seinem Sprachbild erkennen.

Stopp, Phillis! Reiß dich zusammen!

Hätte sie Zeit gehabt, einen Kaffee zu trinken, dann wäre das alles nicht so – also... vermutlich schon, aber sie würde sich trotzdem besser fühlen. Sie wusste, dass sie in der Mittagspause Zeit haben würde, in die Küche zu schleichen, um sich einen Kaffee zu holen, aber bis dahin waren es noch ein paar Stunden, die sie überleben musste – ohne Kaffee. Vielleicht hatte sie irgendwie die Möglichkeit, zwischen den Stunden zu verschwinden.

Sie könnte sagen, dass sie eigentlich aufs Klo muss und dann einen Kaffee holen... andererseits wäre es bestimmt auffällig, wenn sie mit einer Tasse Kaffee vom Klo zurückkommen würde... auf der anderen Seite hatte sie schon seltsamere Sachen während des Unterrichts gemacht.

Wäre sie doch nur pünktlich zurück ins Schloss gekommen, dann wäre sie–

Plötzlich kam Bewegung in die Klasse und Phillis stellte fest, dass sie absolut keinen Plan hatte, was sie tun musste, aber das durfte sie sich jetzt nicht anmerken lassen – nicht, nachdem sie schon zu spät und die Stunde gestört hatte.

Zum Glück gab es Emmeline, die offenbar Phillis' Verwirrung bemerkte hatte und sie deswegen mit zum Zutatenschrank brachte. „Trunk des Friedens – Seite vierunddreißig im Buch."

„Danke", zischte Phillis zurück und beobachtete einfach die anderen Schüler, welche Zutaten sie mit zum Platz nahmen, um dieselben zu benutzen.

Sie schlug ihr Buch auf und seufzte. Sie hasste dieses Buch – Zaubertränke war grundsätzlich ein Hass-Fach von ihr und sie freute sich schon auf nächstes Jahr, wenn sie es nicht mehr belegen musste.

Aber das Buch war in einer seltsamen, alten Kursivschrift geschrieben – der Horror für ihre Legasthenie und Phillis brauchte allein schon ein paar Minuten, um die Überschrift zu entschlüsseln.

Dieser Tag konnte nicht mehr schlimmer werden.

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