Ikarus und die Sonne III
Die letzten Stunden in Hogwarts zogen sich dahin.
Die Koffer waren schon gepackt und Remus war bereit, Hogwarts ein letztes Mal zu verlassen. Er hatte seine sieben Jahre in der Schule beendet und würde wohl nicht wieder kommen, denn niemals würde ein Werwolf wie er wirklich in Hogwarts unterrichten können. Vielleicht konnte er jungen Hexen und Zauberern Nachhilfe geben oder ihnen die Grundwerte beibringen wie Lesen und Schreiben, aber in einer ehrenhaften Schule wie Hogwarts die Kinder unterrichten?
Es fühlte sich seltsam an, Hogwarts zu verlassen. Jahrelang war es Remus' Zufluchtsstätte gewesen, obwohl er in der Schule immer gestresst gewesen war und Angst gehabt hatte, dass jemand erfahren könnte, dass er ein Werwolf war, aber zu Hause bei seinen Eltern (jetzt nur noch sein Vater) hatte er immer Angst haben müssen, dass ihre Nachbarn sie mit Mistgabeln aus dem Dorf jagten.
Alle seine Professoren hatten zusammengearbeitet, damit er eine möglichst normale Ausbildung in Hogwarts genießen konnte und er würde es ihnen nie vergessen, obwohl ihn nun eine Zukunft voller Ungewissheit und Unsicherheit erwartete.
Es war nicht direkt einfach, Erlebnisberichte von Werwölfen aufzutreiben, die Remus eine ungefähre Vorstellung von dem gaben, was ihn erwartete, aber jene, die er gelesen hatte, waren eher ernüchternd gewesen.
Werwölfe hatten Schwierigkeiten damit, Jobs zu behalten, nachdem die monatliche Verwandlung verlangte, dass sie manchmal tagelang fehlten, und manchmal war es notwendig, häufig den Job zu wechseln, damit der Arbeitsgeber oder Mitarbeiter nicht auf die Idee kamen, dass man ein Werwolf war.
James und Sirius sprachen voller Begeisterung von der Zukunft und überlegten sich schon, welche Abenteuer sie bestehen würden – vielleicht als Auroren oder Fluchbrecher. Peter war etwas zurückhaltender – mit seinen Noten schlossen sich diese beiden Berufssparten weg, aber er hatte erzählt, dass seine Mum ihm vielleicht einen Job im Ministerium besorgen konnte.
Nur Remus sah einer unsicheren und eher düster aussehenden Zukunft entgegen – nicht nur, weil ein Krieg herrschte, sondern auch, weil er kaum Chancen auf eine Zukunft hatte und das war irgendwie erniedrigend und gleichzeitig bedrückend.
Sein Vater hatte ihm natürlich versprochen, dass er immer einen Platz bei ihm zu Hause hätte und dass er sich sogar freuen würde, wenn Remus noch etwas länger bei ihm blieb, nachdem es seit dem Tod seiner Mutter etwas leer im Haus geworden war, aber letztendlich hatte Remus nicht wirklich vor, mit dreißig noch immer zu Hause zu leben.
Natürlich hatte Remus in seine Zukunftspläne auch Phillis eingefügt.
James hatte schon davon gesprochen, dass Lily und er vermutlich zusammenziehen würden (wobei das im Moment wohl eher James' Traum war und Lily noch etwas zurückhaltender wirkte).
So einfach war das mit Phillis schon einmal nicht, nachdem sie erst diesen Sommer erwachsen werden würde und dann stand ihr noch ein ganzes Jahr in Hogwarts bevor.
Außerdem wusste Remus gar nicht, ob er mit Phillis zusammenziehen wollte. Nein... es war keine Frage von Wollen, sondern von Sollen. Was konnte er Phillis schon bieten?
Er hatte ihr noch nicht einmal verraten, dass er ein Werwolf war und selbst, wenn sie es akzeptierten sollte und ihn immer noch mochte, warum sollte Remus so selbstsüchtig sein und ihr so ein Leben bieten? Er war ein Ausgestoßener in seiner eigenen Welt und würde es auch für immer bleiben. War es nicht besser, wenn lieber nie jemand erfuhr, welche Verbindung er und Phillis hatten?
Nur eines hatte Remus sich bisher vorgenommen: Er würde Phillis so oder so sagen, dass er ein Werwolf war. Wenn sie danach beschloss, dass sie nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte, löste das sowieso alle von Remus' Problemen und sein Dilemma und obwohl es für ihn selbst nicht gut ausgehen würde, so wäre es wohl das beste Ergebnis.
Sollte sie ihn danach noch mögen, konnte Remus sich immer noch überlegen, ob er selbstsüchtig sein wollte. Sie waren noch jung, Phillis noch nicht einmal erwachsen – sie mussten sich noch nicht festlegen und diese Beziehung war auch kein Heiratsantrag.
Zuerst einmal war wichtig, dass Phillis wusste, dass sie das letzte Jahr mit einem Werwolf zusammen gewesen war und im schlimmsten Fall verriet sie es einfach jedem, den sie kannte, wobei das überhaupt nicht wie Phillis klang. Phillis würde so etwas nicht tun – wenn sie wirklich angeekelt von Remus war, würde sie einfach verlangen, dass er sie in Ruhe ließ und er nie wieder mit ihr zu sprechen versuchte.
Er würde es ihr sagen.
Das musste Remus jedenfalls nur noch umsetzen, aber das war gar nicht so einfach.
Er hatte James, Sirius und Peter gesagt, dass er es Phillis sagen würde und sie hatten gemischte Gefühlte gehabt.
Sirius hatte ihm davon abgeraten und ihm erst einmal geraten, zu schauen, ob Phillis ihn nicht die ganze Zeit nur ausgenutzt hatte, damit er ihr bei ihren Hausaufgaben half. Remus bezweifelte das, immerhin hatte er ihr besonders im letzten Jahr kaum helfen müssen, nachdem sie kaum Stunden gehabt hatte und damit auch kaum Hausaufgaben, aber irgendwie hatte Sirius auch ein wenig Recht.
Nachdem Remus dieses Jahr Hogwarts verlassen würde, würde er Phillis in ihrem UTZ-Jahr nicht wirklich helfen können und wenn sie nur mit ihm zusammen gewesen war, weil er – aus welchem Grund auch immer – praktisch in der Schule gewesen war, würde sie so oder so mit ihm Schlussmachen.
James hingegen hatte ihn dazu ermutigt und vermutet, dass Phillis jemand wie die Rumtreiber oder Lily war (Lily hatte es auch herausgefunden und hatte es erstaunlich gut aufgenommen) und sie es akzeptieren würde. Nichts würde sich für sie ändern.
Peter hatte hingegen angedeutet, dass sie aus einer ziemlich konservativen, reinblütigen Familie stammte und ihr Onkel war sogar ein Todesser – selbst, wenn Phillis keine Muggel oder Muggelgeborene hasste, so war das nicht auf Werwölfe übertragbar, die selbst von weltoffenen Hexen und Zauberern als Monster gewertet wurden.
Letztendlich aber führte nichts daran vorbei und Remus würde es ihr sagen. Er wusste, dass er ihr das schuldete und er dachte lächelnd an die Monate zurück, in denen sie zusammen gewesen waren und selbst, wenn er damit alles beenden würde, so würde er zumindest die schönen Erinnerungen behalten, die er davon hatte und in denen er immer das Gefühl gehabt hatte, er wäre ganz normal, wie alle anderen auch und kein Werwolf.
„Remus! Hier bist du ja!", rief Sirius mit einer Tasche in seiner Hand und James und Peter im Schlepptau, „Wo bist du gewesen? Die Boote warten nicht auf uns!"
Die Siebtklässler fuhren immer mit den Booten von Hogwarts weg – genau so, wie sie gekommen waren und es war ein schöner Kreis, der sich schloss.
Dieses Mal waren sie größer und sie würden nicht die nervösen Erstklässler sein, die zum Festessen nachts Hogwarts fuhren, sondern nervöse Siebtklässler, die ins Leben segelten.
„Hast du Phillis gefunden?", fragte Peter ihn vorsichtig, aber Remus schüttelte den Kopf, aber in diesem Moment kam ihnen Phillis entgegen.
Sie hatte einen Brief in der Hand und las ihn unterm Gehen und murmelte nachdenklich die Worte vor sich hin, die Stirn gerunzelt und offenbar in Gedanken versunken.
„Nein, aber ich bringe es jetzt hinter mich", beschloss Remus selbstsicher, „Ich werde es ihr sagen."
„Bist du sicher? Du kannst sie auch in den Ferien besuchen", schlug Sirius vor, „Dann kannst du wenigstens disapparieren, sollte es nötig sein."
„Sie ist bei ihrem Vater – nein, ich muss es jetzt machen", beschloss Remus sicher, „Wird schon alles gutgehen."
„Ganz bestimmt", lächelte James ihm aufmunternd zu, „Viel Erfolg, Moony."
Remus nickte noch einmal, wischte sich seine verschwitzten Hände an der Hose ab und ging dann zielstrebig zu Phillis, die ihn noch nicht bemerkt hatte und noch immer in ihrem Brief vertieft war.
Sie bemerkte erst, dass jemand vor ihr war, als sie beinahe gegen ihn rannte, aber im letzten Moment mit ihren typischen unglaublichen Reflexen blieb sie stehen und blickte auf.
Sie lächelte, als sie Remus sah.
„Hey, Remus!", begrüßte sie ihn und fuchtelte mit dem Brief in der Hand herum. Sie grinste breit, also waren es wohl gute Neuigkeiten. „Houdini hat mir geschrieben – er fragt, ob ich ihm bei einer kleinen Schulaufführung helfen will. Eigentlich hat er es mir befohlen... Wie auch immer, ich werde ihn wohl in New York treffen! Schon gleich nach der Schule! Ist das nicht aufregend? Ich habe mir überlegt, ob du– Warte... du gehst jetzt, oder?" Phillis war die Tasche aufgefallen, die Remus trug und seine Reiseumhang. Außerdem erinnerte sie sich an den Tag – er hatte es ihr doch schon am Vorabend dreimal gesagt! „Entschuldige... Ich habe vergessen, dass ihr heute schon fahrt!"
„Nichts anderes habe ich von dir erwartet", schmunzelte Remus, obwohl er ziemlich nervös war und er bemerkte, dass seine Hände zitterten und innerlich wünschte er sich nun doch, dass Phillis ihn so akzeptieren würde, wie er war.
Er mochte sie wirklich und sie zu verlieren würde wehtun. Er hätte von Anfang an ehrlich mit ihr sein sollen, dann wäre er jetzt nicht in dieser Lage – dann hätte er sich vielleicht nie so sehr an sie gebunden. „Hör mal, Phil... hast du vielleicht noch einen Moment Zeit?"
„Klar", lächelte Phillis und ließ den Brief sinken, „Was gibt's?"
„Ich... ich muss dir was gestehen", sagte Remus ernst und schluckte schwer, „Ich... ich mag dich wirklich, Phillis, und deswegen... wenn man sich wirklich mag – dann sagt man sich die Wahrheit und bis jetzt habe ich Geheimnisse vor die gehabt, aber... ich will, dass du die Wahrheit erfährst und... und du darfst reagieren, wie du willst, ich werde es akzeptieren und wenn ich dich in Ruhe lassen soll, dann werde ich dich nicht mehr stören und nie wieder in deine Nähe kommen, weil ich weiß, was ich bin und ich –"
Remus redete vor sich hin, aber Phillis war schon wieder in Gedanken versunken.
Ein Satz, den Remus gesagt hatte, wiederholte sich immer wieder in ihrem Kopf, als sie sich selbst fragte, ob das nicht wirklich stimmte: Wenn man sich wirklich mag, dann sagt man sich die Wahrheit.
Um dieses Rätsel zu lösen, ging Phillis sehr vorsichtig vor. Wie sehr mochte sie Remus? Eigentlich mochte sie ihn wirklich und er war ihr wichtig – diese Regel traf also auch auf sie zu. Sie war aber auch nicht ehrlich zu ihm – er wusste eigentlich kaum etwas aus ihrem Leben, obwohl er wohl, bis auf ihre Mutter (und vielleicht Houdini... und Marty...), am meisten von ihr wusste. Sie hatte ihm aber nie gesagt, dass sie ein Demigott war.
„– und deswegen, Phillis", redete Remus weiter, der gar nicht bemerkt hatte, dass Phillis mit ihren Gedanken bei ihrem eigenen Dilemma war, das er durch einen Satz ausgelöst hatte, der kaum Bedeutung für ihn gehabt hatte, „will ich, dass du weißt, dass ich ein Werwolf bin."
Remus wartete auf eine Reaktion von Phillis, aber diese starrte mit einem verstörten und abwesenden Blick an Remus vorbei, als würde sie sich vor Ekel all die Momente ausmalen, in der sie in seiner Nähe gewesen war. Sofort sackte Remus ein wenig zusammen – nun, da Phillis wirklich abweisend reagierte, wollte er doch nicht, dass sie so war.
„Hör mal, Phillis, ich weiß, dass das ein Schock ist, aber ich habe mich unter Kontrolle. Ich habe noch nie jemanden verletzt und ich werde immer vorsichtig sein, aber ich weiß, was die Gesellschaft von Leuten wie mir denkt und ich weiß, dass es wahrscheinlich ein Schock für dich ist und wenn du wirklich nie wieder mit mir sprechen willst, dann–"
Noch immer hörte Phillis ihn nur wie von weit entfernt.
Sie hatte realisiert, dass Remus ihr gerade gestand, dass er ein Werwolf war, aber das war keine Überraschung für sie. Sie hatte es schon lange gewusst und hatte ihn trotzdem akzeptiert. Er hatte ihr nie einen Grund gegeben, das Gegenteil zu tun.
Sie hatte ihm nur nie gesagt, dass sie es wusste, weil sie wollte, dass er die Kontrolle darüber hatte, wem er es sagte und wem nicht. Bestimmt war das ein großes Geheimnis und wenn man selbst die Macht hatte, es den Leuten zu sagen, denen man genug vertraute, half das Remus vermutlich – so war jedenfalls ihr Gedankengang gewesen.
Nun hatte Remus aber diesen einen Satz gesagt, der alles verändert hatte und Phillis hatte das Gefühl, sie sollte Remus auch gestehen, dass sie eine Demigöttin war.
Eigentlich klang das ganz simpel, aber gleichzeitig dachte Phillis nur daran, was alles mit diesem wichtigen Schritt kam.
Remus würde von ihrer Welt wissen – von den Monstern (so viel schlimmer als er), von den Göttern, von den Gefahren,... Er wäre dann ein Teil dieser Welt und diesen Gefahren ebenso ausgesetzt – immer dann, wenn er in ihrer Nähe war.
Eigentlich war es schon immer selbstsüchtig von ihr gewesen, ihn überhaupt in ihre Nähe zu lassen. Jemand wie Remus war einfach zu wertvoll für diese Welt, um einfach als Nebencharakter in ihrer Geschichte als ziviles Opfer zu sterben. Sie würde allein durch ihre Anwesenheit direkt in den Abgrund ziehen und Remus würde ihr bestimmt, ohne zu zögern folgen – genau das war das Problem.
Remus hatte ein ruhiges Leben verdient und nicht dieses Chaos, das ihr Leben im Moment (und schon immer gewesen) war.
Und selbst, wenn sie letztendlich nicht schuld an seinem Tod wäre – sie würde bestimmt irgendwann sterben. Wenn nicht heute oder morgen, dann an einem anderen Tag. Irgendwann traf jeder Demigott sein verheerendes Monster und es war immer nur eine Frage der Zeit – sie wurden nie sonderlich alt. Es war eigentlich schon ein Wunder gewesen, dass Phillis überhaupt sechzehn geworden war und wenn man bedachte, dass sie nur dank göttlicher Hilfe überhaupt noch atmete, konnte man nicht mehr wirklich sagen, dass sie erfolgreich überlebt hatte.
Sie war letzten Sommer beinahe gestorben und dann wäre Remus in derselben Lage gewesen, wie Birget, als Ruth gestorben war. Seine Freundin wäre gestorben und das ist ein traumatisches Erlebnis – vielleicht schlimmer noch, als eine Ex-Freundin zu verlieren.
Noch war Phillis nicht außer Lebensgefahr – der eigentliche Krieg stand ihr noch bevor, vielleicht noch schlimmer, als der eine letzte Auftrag und sie konnte noch immer sterben oder versagen.
Wollte sie Remus wirklich in diese Welt – diesen Krieg – ziehen? Das wäre egoistisch von ihr.
„Phillis", Remus schluckte nervös, als sie noch immer nichts sagte und noch immer in die Leere starrte, während er versuchte, ihr zu erklären, dass er nicht böse war, um möglichst zu retten, was noch zu retten war, „Sag doch etwas..."
Phillis' Blick fixierte sich auf Remus. Sie blinzelte einmal. Zweimal. Dann sagte sie in einer seltsam monotonen Stimme: „Du hast Recht... ich... wir können nicht zusammen sein, es tut mir leid, ich –"
Phillis schluckte schwer, drängte sich mit Tränen in den Augen an Remus vorbei und eilte den Gang entlang.
Remus blieb noch einen Moment länger wie erstarrt stehen.
Er hatte vermutet, dass sie mit ihm Schluss machen würde, aber nun, da es wirklich passiert war, war er doch erschrocken darüber.
Ein Schmerz breitete sich in seiner Brust aus, als er realisierte, dass Phillis nicht wie die Rumtreiber oder Lily war – Phillis hasste ihn, weil er ein Werwolf war und noch nie in seinem Leben hatte Remus sich so sehr gewünscht, kein Werwolf zu sein, aber er konnte nicht ändern, was er war.
Er wünschte sich, er hätte Phillis nie etwas gesagt – sie hätten weiter in dieser Lüge leben können und alles wäre gut gewesen.
Aber nun spürte Remus diesen Schmerz und er fühlte sich wie Ikarus, der vom Himmel fiel, heißes, geschmolzenes Wachs auf seiner Haut und dem schrecklichen Gefühl des tödlichen Falls in seinem Bauch, als er noch einen letzten Blick auf die Sonne werfen konnte, bevor das Meer ihn verschluckte.
Und Ikarus
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