Fuck you West Virginia

Phillis suchte hinter einem Baum Schutz und sie versuchte ihre Atmung unter Kontrolle zu bekommen, aber sie war schon lange nicht mehr so viel gerannt. Sie war schon lange nicht mehr vor etwas davongerannt.

„Kommt schon! Weiter!", trieb ein Mädchen sie weiter. Phillis kannte sie. Es war ein wunderschönes Mädchen, vielleicht zwölf oder dreizehn Jahre alt, mit kastanienbraunen Haaren, silbrig-gelben Augen und sie trug einen silbernen Parker. Es war die Göttin Artemis – Göttin der Jagd und die Mondgöttin, sowie Gründerin und Anführerin der Jägerinnen der Artemis. Außerdem war sie Phillis' coole Tante, obwohl sie meistens ein Aussehen wählte, das sie jünger erschienen ließ, als Phillis.

Phillis stieß sich also von dem Baum ab und rannte weiter. Ihre Lungen brannten. Ihre Beine waren schwer. Schwarze Punkte tanzten vor ihren Augen. Aber trotzdem hatte sie keine andere Wahl, als weiter zu rennen. Hinter sich hörte sie Wolfsheulen und das Trampeln von schweren Schritten – sie holten auf.

Zu schnell.

Zu viele.

Beinahe fiel Phillis zu Boden, als sie über eine Wurzel stolperte, aber jemand fing sie am Ellenbogen auf und zerrte sie weiter.

„Nicht zurückbleiben!", zischte das Mädchen streng, obwohl auch sie erschöpft wirkte und Phillis kam wieder auf die Beine und rannte selbstständig weiter, aber trotzdem ließ das andere Mädchen ihren Arm nicht los.

Es war Zoë Nachtschatten und Phillis kannte sie nur, weil Artemis mit ihren Jägerinnen im Sommer erst ins Camp gekommen war, um etwas mit Chiron zu besprechen. Ihre Haare waren dunkel und ihre Haut kupferfarben und sie war Leutnant von Artemis selbst und damit Stellvertreterin der Göttin.

Sie war vielleicht ein bisschen zugeknöpft und streng, aber nachdem sie theoretisch unsterblich und bestimmt schon sehr alt war, vermutete Phillis, dass es einfach eine Weisheit war, die nicht zu ihrem jugendlichen Aussehen passte und es deswegen so fremd wirkte. Würde Zoë wie Dumbledore aussehen, würde niemand ihr Benehmen hinterfragen.

„Sie holen auf!", brüllte hinter Phillis Birget und panisch drehte sie sich um – Birget war zurückgefallen und Phillis sah dabei zu, wie sie komplett stehenblieb, einen Speer von ihrem Rücken nahm, kurz zielte und ihn in die Dunkelheit warf. Ein Jaulen bewies, dass sie getroffen hatte und Phillis hätte gerne nachgesehen, ob der Wurf auch tödlich gewesen war, aber dafür hatte sie keine Zeit.

Birget rannte selbst wieder los, nahm aber unterm Rennen noch einen Speer vom Rücken, als würde sie einen Kampf erwarten.

Jemand vor Phillis stieß einen Warnschrei aus und in der Dunkelheit erschienen Laertes und eine weitere Jägerin der Artemis – Phoebe.

Phoebe war Phillis' Schwester, eine Tochter des Apollo, aber sie hatte das Pech gehabt, in dem Jahr im Camp anzukommen, an dem wirklich viele Kinder des Apollo angekommen waren und sie hatte in ihrem ersten Jahr im Camp erfahren, dass ihr Vater sich so wenig um sie kümmerte, dass nicht einmal genug Betten für alle seine Kinder da gewesen waren. Kein Wunder also, dass Phoebe sofort die Chance genutzt hatte, sich den Jägerinnen anzuschließen, als diese im Camp gewesen waren. Phillis hatte sie seitdem nicht mehr gesehen, aber eigentlich sah sie gesund aus. Sie wirkte stark, gut ernährt und wirklich fertig, nachdem sie gerade von einem Rudel Wölfe gejagt wurden.

Aber sie wurden nicht mehr nur gejagt – vor ihnen waren auch noch welche und aus der Dunkelheit staksten weitere Wölfe. Sie waren dürrer und drahtiger, als normale Wölfe, aber auch größer – viel größer.

Sie knurrten bedrohlich und Phillis wusste sofort, dass es keine normalen Wölfe waren. Es waren Werwölfe – Kinder und Opfer des Lykaon, dem ersten Werwolf. Sie waren Monster der griechischen Mythologie und konnten nur mit Silber umgebracht werden.

Phillis nahm ihren goldenen Bogen vom Rücken und einen Pfeil aus dem Köcher, aber dessen Spitze war aus Himmlischer Bronze – er würde nichts gegen die Wölfe ausrichten können. Sie waren umzingelt.

Artemis und ihre beiden Jägerinnen spannten ihre Bögen und ihre Pfeile waren mit silbernen Spitzen versäht.

„Herrin", brachte Zoë zwischen zusammengebissenen Zähnen heraus und sie sah Artemis warnend an, „Die Prophezeiung, sie –"

„Ich weiß", sagte Artemis.

Einen Moment lang wurde alles still und Phillis spürte, wie jemand ihre Hand nahm und sie erkannte, dass es Birget war, die einen kurzen Moment der Zuneigung in der Öffentlichkeit zuließ und sie besorgt ansah. „Ich liebe dich. Jetzt und im Elysium."

Birget hatte das noch nie zu ihr gesagt, wenn jemand anderer in der Nähe gewesen war. Solche Worte der Zuneigung (und der Schwäche, wenn es nach Birget ging) waren für private Momente in Einsamkeit reserviert gewesen. Das machte diese Worte in diesem Moment umso schöner.

In diesem Moment fasste Phillis einen Entschluss. Sie würde nicht zulassen, dass Birget starb. Sie würde nicht zulassen, dass Laertes starb.

Sie drückte Birgets Hand ein letztes Mal, bevor sie losließ und ihre Gitarre vom Rücken nahm. Jetzt wünschte sie sich, sie hätte ihre Gitarre doch lieber mit Silber überzogen, statt mit Himmlischer Bronze.

„Ich halte sie zurück!", versprach sie selbstsicher. Sie hatte erwartet, dass ihre Stimme zittern würde, wenn man bedachte, dass sie sich gerade ihrem sicheren Tod näherte, aber sie fühlte sich so sicher, wie schon lange nicht mehr. Sie musste das machen. Nicht nur für sich oder Birget oder Laertes – für alle, die sie kannte.

„Nein", sprach Artemis sicher, „Ich lasse nicht zu, dass eine Maid wie du –"

Phillis ließ die Göttin nicht aussprechen. Sie hegte zwar den größten Respekt für Artemis, aber in diesem Moment konnte sie nicht auf sie hören.

Stattdessen spielte sie den ersten Akkord von einem Lied, das jeder kannte und hasste/verehrte/verabscheute/anhimmelte oder schlichtweg einfach sagte, man würde es hassen, aber eigentlich genauso mitgrölte, wenn es irgendwo gespielt wurde.

Phillis spielte es etwas schneller, als es eigentlich von John Denver gespielt wurde, aber immerhin befanden sie sich in einer Kampfsituation.

Almost heaven, West Virginia", sang Phillis und scheinbar hatten Werwölfe genau zwei Schwächen – Silber und Country-Musik – denn sie begannen vor Schmerzen zu Heulen und versuchten mit ihren Tatzen ihre Ohren zuzuhalten, sodass sie nicht mehr näherkamen und vorerst abgelenkt waren. Das war genau das, was Phillis geplant hatte. „Blue Ridge Mountains, Shenandoah River! Life ist old there, older than the trees! Younger than the mountains – rennt schon ihr Idioten, ich halte sie zurück!"

Phillis fing Zoës Blick auf und die Jägerin sah sie ehrfürchtig an, nickte ihr zu, machte eine Geste in ihre Richtung, die alles Böse von ihr abwenden sollte und sagte ihr damit, dass sie sich den Respekt der strengen, unsterblichen Jugendlichen verdient hatte.

Laertes und Birget wollten Phillis nicht zurücklassen. „Nein!", schrie Birget, „Ich helfe –"

Country roads! Komm schon, geh nach Haus! Ich liebe dich Birget, geh! Rette dich! West Virginia, mountain mama! Take me home, country roads."

Es brauchte Artemis und die beiden Jägerinnen, um Laertes und Birget dazu zu bringen, Phillis zurück zu lassen und Phillis spielte, aber die Werwölfe würden nicht für immer von ihrem Lied abgelenkt werden.

Genau genommen schaffte Phillis es nicht einmal bis zum Ende des Lieds.

Die Werwölfe rissen sich wohl zusammen und obwohl es ihnen eindeutig Schmerzen bereitete, so näherten sie sich wieder bedrohlich Phillis und sie wusste, dass es vorbei war. Wenigstens waren die anderen entkommen.

Country roads", sang sie und ihre Stimme brach, aber sie würde mutig bleiben, „Take me home, to the place I belong! West Virginia, mountain mama! Take me –"

Phillis hörte Birgets Schrei, als sich einer der riesigen Werwölfe auf sie stürzte und das letzte, was sie hörte, war Birgets verzweifelte Schreie.



Phillis schreckte aus ihrem Schlaf und ihr Schrei weckte auch noch die anderen Mädchen im Schlafsaal.

„Was is?", fragte Emmeline verschlafen und hatte ihren Zauberstab schon in der Hand, obwohl sie noch so desorientiert war, dass es nicht sicher wäre, einen Zauber auszusprechen.

Phillis konnte nicht antworten. Ihre Brust zog sich in der Panik zusammen und sie bekam keine Luft mehr. Noch immer sah sie den Werwolf direkt auf sich zuspringen, aber es war nicht sie gewesen. Sie hatte zwar gedacht, sie würde alles aus ihrer Sicht sehen und bis sie aufgewacht war, hatte sich auch alles so angefühlt, als würde es wirklich passieren, aber jetzt erinnerte sie sich an die deutlichen Zeichen, dass es nicht ihre Augen gewesen waren, die dieses Erlebnis mitbekommen hatten.

Es musste Ruth gewesen sein.

Der goldene Bogen. Die Gitarre. Die Interaktionen mit Birget.

Alles sprach dafür, dass Phillis alles aus den Augen ihrer großen Schwester gesehen hatte – die große Schwester, die gerade einen Auftrag mit Laertes und Birget ausführte. Sie hatte schon früher geträumt, wie sie von Monster gejagt worden war, aber bisher hatte sie das noch nicht mit der Gruppe verbinden können, die im Moment mit einem vielleicht tödlichen Auftrag unterwegs war.

„Hey, Phillis!", Emmeline war zu ihr gekommen und setzte sich ihr gegenüber aufs Bett, aber Phillis hatte sich nicht unter Kontrolle. Sie hyperventilierte, als sie daran dachte, dass sie vielleicht Ruths Tod gesehen hatte. Sie wollte sich das gar nicht vorstellen. Wie sollte sie unterscheiden, ob es einfach nur ein dämlicher Traum gewesen war, eine Möglichkeit, wie die Zukunft aussehen könnte oder die Gegenwart? Was war, wenn das wirklich in diesem Moment passiert war?

„Ich– ich muss gehen", brachte Phillis heraus und ließ Emmeline und die anderen Mädchen ihres Schlafsaals einfach zurück.

Es war noch stockfinster und der Sonnenaufgang ließ noch lange auf sich warten, aber trotzdem war Phillis hellwach und sie wusste nicht, wie sie wieder einschlafen sollte.

In ihrer Hand hielt sie eine Drachme – sie hatte nicht mehr viele, aber sie musste Ruth und die anderen kontaktieren.

Im Gemeinschaftsraum vergewisserte Phillis sich, dass wirklich niemand mehr wach war, bevor sie mit dem Zauber „Iria" einen Regenbogen erschuf und mit den feierlichen Worten die Göttin Iris bat, sie mit Ruth zu verbinden.

Das Bild flackerte und einen Moment lang befürchtete Phillis, es wäre so, weil Ruth tot war, aber dann zeigte sich doch ein Bild.

Es war friedlich.

Ein Lagerfeuer, um das einige Menschen saßen und Phillis erkannte sie als andere Akteure in ihrem Traum – Laertes, Birget sowie auch Artemis, Zoë und Phoebe. Ein kalter Schauer lief Phillis über den Rücken, als sie erkannte, dass sie das mit ihrem Traum schon vorhergesehen hatte. Woher hatte sie sonst gewusst, dass sich Artemis und ein paar Jägerinnen der Gruppe anschließen würden?

Sie lachten zusammen und nichts deutete darauf hin, dass die Geschehnisse in ihrem Traum sich in naher Zukunft bewahrheiten würden. Genau genommen wirkte alles so heiter und ruhig, dass Phillis sich dumm fühlte, als sie an ihren Traum dachte.

Dann sah sie Ruth und Ruth zupfte eine Melodie auf ihrer Gitarre und wirkte sehr lebendig und Phillis atmete erleichtert aus. Ruth lebte – es war nur ein dummer Traum gewesen.

Andererseits musste sie sich selbst daran erinnern, dass Apollo der Gott der Prophezeiungen war und vielleicht war das ein Blick in die Zukunft gewesen, den sie sich lieber erspart hätte? Was war, wenn es erst noch passieren würde? Dann erkannte sie voller Angst, dass sich die kleine Gruppe in einem Wald befand – die Bäume dort sahen den Bäumen aus ihrem Traum sehr ähnlich (und Phillis hatte schon genug über Wälder und Bäume von den Kindern der Demeter gelernt, um zu wissen, dass nicht jeder Wald gleich aussah).

„Oh, hey!", erblickte sie als erstes Laertes, „Phil? Bist du das?"

Phillis blinzelte – sie war in Gedanken versunken gewesen und hatte ganz vergessen, dass das eine Nachricht war, die für beide Seiten funktionierte und die anderen konnten auch sie sehen.

„Oh... ja... hi...", brachte sie heraus und das reichte wohl, um Ruth Sorge zu bereiten.

„Phil, es ist mitten in der Nacht", ermahnte sie ihre kleine Schwester, „Warum bist du wach? Was ist passiert? Bist du angegriffen worden?"

„Nein, ich...", Phillis wusste nicht, wie sie das sagen sollte und ihr Blick glitt zu Artemis, die sie mit einem Blick ansah, der besagte, dass sie ganz genau wusste, was passierte, „Ich habe geträumt."

„Oh", machte Ruth besorgt, „Was war es?"

Phillis schluckte schwer. „Ich... ich glaube, die Zukunft", stammelte sie und sofort veränderte sich Ruths Gesichtsausdruck. Die Kinder des Apollo kannten die Last, die auf einem lag, wenn man die Zukunft kannte, aber ganz genau wusste, dass sie sie nicht verändern durften.

„Die Zukunft?", fragte Birget interessiert, „Was war es?"

„Nein!", schaltete sich Artemis streng ein, „Sie darf nichts sagen."

Laertes sah die Göttin empört an, als hätte sie gerade Marty beleidigt. „Warum nicht?"

Etwas in Laertes' Blick war beunruhigend. Er sah gierig aus, als würde er töten, um die Zukunft von Phillis' zu erfahren. Als würde er den Olymp Stein für Stein auseinander nehmen, nur um zu wissen, was ihn auf diesem Auftrag erwarten würde.

„Die Ehre, die Zukunft anderen zu verraten gebührt nur den Orakeln", erklärte Artemis ernst, „Jeder andere, der mit der Gabe der Voraussagung bestraft wird, muss das Wissen für sich behalten. Die Kinder meines Bruders kennen die Regeln."

Ruth nickte ernst und sie sah Phillis an. Ruth wusste in diesem Moment ganz genau, dass sie Thema dieser Zukunft gewesen war und so, wie Phillis aussah und dass sie das Bedürfnis gehabt hatte, das ihnen noch mitten in der Nacht mitzuteilen, anstatt bis zum Morgen zu warten, verriet ihr, dass es keine schöne Zukunft gewesen war, aber Phillis konnte nichts dagegen tun.

„Glaubst du, du kannst wieder schlafen?", fragte Ruth sie also, „Soll ich dir ein Lied vorspielen?"

Phillis starrte in die Leere, als sie das alles verarbeitete. Sie konnte nichts ändern. Sie durfte nichts von ihrem Traum verraten und sie konnte nichts tun, um diese Zukunft abzuwenden. Schon allein davon zu reden könnte alles ändern und ihr Vater hasste es, wenn sich jemand in sein Business einmischte. Nur er erwählte Orakel.

Phillis schüttelte also den Kopf. „Nein, ich... ich schaffe das schon", versprach sie, aber ihre Stimme verriet sofort, dass sie log. Niemand sprach sie darauf an. „Gute Nacht."

Ruth lächelte leicht. „Gute Nacht, Leprechaun."

Phillis wischte durch die Nachricht und etwas in ihr zerbrach. Sie fühlte sich schrecklich.

Es könnte natürlich sein, dass es nur ein Traum gewesen war oder diese Zukunft würde sich niemals bewahrheiten. Vielleicht war es nur eine Version der Zukunft gewesen und durch eine winzige Veränderung im Universum würde sich alles ändern.

Phillis musste vertrauen haben, aber sie konnte nicht anders, als an Ruths persönliche Prophezeiung zu denken – 50%...

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