Ein ruhiger Sommerspaziergang zum Camp
Phillis entdeckte Wesley schon vom Weitem – unter anderem, weil er ziemlich auffällig war, obwohl er eher unauffällig war.
Er sah aus wie sechzehn oder siebzehn mit einem leichten Schnurrbart-Flaum auf der Oberlippe. Er trug einen lächerlich aussehenden, dunkelgrünen Kimono mit japanischen, floralen Mustern und kleinen Vögeln; dazu noch eine weite Leinenhose, die seine Beinattrappen versteckten und ein weißer Turban, unter dem ein paar dunkle Locken hervorschauten, aber wenigstens versteckten sie erfolgreich die kleinen Hörner. Wesley war ein Satyr, also war es nicht verwunderlich, dass er Hörner hatte oder Beinattrappen, um seine Ziegenbeine zu verstecken.
Wahrscheinlich roch er sie (Satyrn rochen Demigötter schnell – das war mehr oder weniger ihr Job), bevor er sie sah und bevor Phillis ihn erblickte und er winkte sie zu sich.
„Komm, da drüben ist unsere Mitfahrgelegenheit", sagte Phillis zu Hana, die ihrem Blick folgte und ebenfalls den Satyr bemerkte, der aber für sie gar kein Satyr war, sondern ein Typ in Turban und mit Krücken, um den seltsamen Gang zu verstecken, der für Menschen unüblich war und für Satyrn ganz normal. Dementsprechend kritisch sah sie ihn an, aber Phillis kannte Wesley schon seit Jahren – er war es, der sie jedes Jahr vom Flughafen ins Camp begleitete und sie hatten schon viele Abenteuer zusammen bestanden, was einen immer irgendwie verband.
Phillis und Hana – vollbepackt mit ihrem Gepäck und Instrumenten – gingen schnurstracks auf Wesley zu, aber Phillis bemerkte, dass er dieses Jahr nicht alleine war.
Bei ihm stand ein Junge in ihrem Alter und alles an ihm schrie geradezu nach Ärger.
Er hatte gebräunte Haut (vielleicht kam er aus Mexiko oder Südamerika) und schwarze, gelockte Haare, die eine Spur zu lang waren, als würde er sich gerade noch so gegen jegliche Vorschriften der Gesellschaft stellen. Sein Blick erinnerte Phillis an die Kinder des Hermes, die einfach von Natur aus ein Gesicht hatten, das jeden Lehrer und generell jede Person vor sie warnte – irgendwie listig und zwielichtig. Er trug nur Schwarz – eine kurze, schwarze Hose, die er wohl selbst angeschnitten hatte (mit einem stumpfen Messer, so ungerade wie die Schnittstellen waren – hoffentlich hatte die Hose nicht allzu lange gelitten bei dieser blutigen Prozedur) und einem schwarzen T-Shirt mit einem Aufdruck von der Band Ramones (er war Phillis sofort sympathisch – sie liebte Ramones), dazu noch schwarze Springerstiefel. Offenbar waren seine Arme tätowiert, obwohl er niemals alt genug dafür war und als Phillis näherkam erkannte sie, dass es keine normalen Tattoos waren. Vielmehr sahen sie wie schwarz gefärbte Narben aus, aber sie waren zu regelmäßig und zu konstruiert, um zufällig so entstanden zu sein. Es sah so aus, als hätte ihm jemand geometrische Zeichen in die Haut geritzt und diese dann mit Tinte eingefärbt, denn die Farbe war zu unregelmäßig und fleckig, um von einem guten Tätowierer gemacht worden zu sein (sogar ein mittelmäßiger hätte das besser hinbekommen).
„Phillis! Da seid ihr ja endlich!", begrüßte Wesley sie mit einem breiten Grinsen und kam ihr etwas entgegen, um sie leicht zu umarmen in einer freundschaftlichen Halbumarmung.
„Wesley, mein Freund! Wie geht's?", freute Phillis ihn zu sehen, „Du lässt dir einen Bart stehen?"
„Nah... nicht wirklich!" Wesley wurde etwas rot und räusperte sich, „Rasieren ist so ein Ding..."
„Keine weiteren Fragen, Euer Ehren!", meldete sich der fremde Junge tatsächlich mit einem spanischen oder mexikanischen Akzent und Wesley lachte.
„Phil, darf ich dir Pirro Navaja vorstellen – Pirro, das ist Phillis, ich habe dir schon von ihr erzählt."
„Es ist mir eine Freude", grinste Phillis und schüttelte Pirros Hand – er hatte einen kräftigen, sympathischen Händedruck und grinste Phillis ebenso sympathisch an. Er war wohl ziemlich cool, also beschloss Phillis vorerst, dass sie ihn mochte.
„Wesley, Pirro – das hier ist Hana Kalina. Ich begleite sie ins Camp", erzählte Phillis und sah Wesley vielsagend an, aber Pirro verstand diese stumme Botschaft wohl nicht.
„Ist sie –", begann er, aber Phillis reagierte sofort und schlug ihm eine Hand vor den Mund.
„Ja, sie hat Erfahrungen mit Monstern gemacht, deswegen wird sie lernen, wie man sie bekämpft – weitere Details werden wir im Camp versprechen", unterbrach Phillis Pirro und sah ihn warnend an und dieser verstand wohl, denn er nickte leicht und Phillis konnte ihn wieder freigeben.
Er wischte sich über den Mund, grinste dabei aber amüsiert, als wäre es nur eine kleine Rauferei unter Freunden gewesen.
Hana fand diese kleine Auseinandersetzung zum Glück wohl nicht seltsam, sondern sie lächelte nervös und wurde rot, als Pirro sie frech angrinste. „Hi!", brachte sie leise heraus und Phillis fand, dass das schon einmal ein guter Anfang war.
„Dann wollen wir lieber keine Zeit verschwenden!", schlug Wesley vor und lachte nervös, „Wir sollten weiter –"
„Ganz meine Rede – Wesley, bitte sag mir, ihr habt ein Auto!", hoffte Phillis.
„Also... äh...", stammelte Wesley und sah hilfesuchend zu Pirro, der aber sofort einschritt.
„Natürlich haben wir ein Auto! Es steht gleich draußen!", versprach er, warf einen Arm um Phillis und zog sie mit sich und sobald sie außerhalb der Hörweite von Hana waren, wisperte er leiser: „Ich habe gehört, du bist weniger gegen Autodiebstahl?"
„Ich bin mehr oder weniger von einem Sohn des Hermes trainiert worden – ich bin sogar absolut dafür", flüsterte Phillis zurück, „Hana darf aber nichts bemerken – sie weiß noch nicht einmal, dass sie ein Halbblut ist."
„Ist für mich auch eine ziemliche Überraschung gewesen", gestand Pirro und nahm seinen Arm weg, um seine Daumen lässig in seine Hosentaschen zu stecken, „Es ist eine Menge Scheiße in meinem Leben passiert, aber endlich eine Antwort dafür zu haben! Ha! Du hättest mein Gesicht sehen sollen!"
„Jaah, so ist es mir auch ergangen", gestand Phillis, „Endlich eine Antwort zu haben... und gleichzeitig zu erfahren, dass es für die Probleme keine Lösung gibt..."
„So etwas in der Art ist Wessie herausgerutscht", scherzte Pirro und lachte trocken, „Es ist wohl ziemlich tragisch, ein halber Gott zu sein, hu?"
„Du hast ja keine Ahnung", murmelte Phillis, "Ein halber Gott, aber doppelt so viele Probleme."
Draußen gaben sie Wesley ein Zeichen und er ging mit Hana etwas hinunter, um ein „Souvenir für den Camp-Direktor" zu kaufen, während Phillis und Pirro mit dem Gepäck ein leerstehendes, leicht zu knackendes Auto fanden und sie hatten Glück – ein Auto ohne Fahrer in der Nähe schien geradezu für sie gemacht und Pirro knackte die Autotür (hatte er von seinem Dad gelernt) und Phillis schloss es kurz und sie fuhr etwas die Straße hinunter Wesley und Hana entgegen (Pirro wollte fahren, aber Phillis hatte sich das nicht ausreden lassen).
Phillis kurbelte das Fenster hinunter und rief ihren Freunden zu: „Oi! Steigt ein!"
Wesley sah sie beide anklagend an, stieg aber ohne Widerworte ein und Pirro spielte am Radio herum und beließ es dann bei einem Sender, der gerade „Smoke On The Water" von Deep Purple spielte und enthusiastisch spielte er Luftgitarre und sang verbal die eingängige Melodie mit und Phillis ließ sich davon anstecken und drehte lauter.
Hana wirkte etwas verstört von dieser (für sie) eher neueren Musik, aber wenigstens die beiden Fahrer vorne hatten Spaß (jeder wusste, dass der Musikgeschmack von Satyrn der gleiche war, den auch Marty hatte und diese Parallelen waren etwas verstörend, aber irgendwie auch ganz natürlich und logisch).
Phillis kurvte sie mit einer Geschicklichkeit, die man nur von einem Sohn des Hermes erlernen konnte aus dem New Yorker Verkehr heraus und sie kamen in die Außenbezirke.
Als sie die Straße zum Camp erreichten, die eigentlich beinahe nur noch weite Ebene und ohne viel Verkehr war, konnte Phillis sich etwas entspannen – es war anstrengend, Auto zu fahren, wenn man nie die Regeln gelernt hatte, da machte es Phillis viel mehr Spaß, einfach Vollgas gerade aus zu fahren und sich nicht um ihre Mitmenschen zu kümmern.
Als als nächstes „Killer Queen" von Queen spielte, sang Phillis laut mit und sie fühlte sich einfach nur wohl.
Ihr gefiel es viel besser, einfach nur sie selbst zu sein, wenn sie von Leuten umgeben war, die ebenso wie sie waren und während Wesley sich hinten darüber beschwerte, dass „nichts Ordentliches" spielte und Hana einfach nur verwirrt von dem Musikgeschmack ihrer neuen Bekannten war, sang Pirro ebenso laut mit, obwohl sein Gesang (besonders im Vergleich zu dem von Phillis) schrecklich klang, aber er hatte so viel Spaß dabei, dass ihm das jeder verzieh.
Natürlich konnte die Reise nicht friedlich sein.
Plötzlich war da mitten auf der Straße direkt vor ihnen ein großer, schwarzer Berg und nur Phillis' übernatürliche Reflexe hinderten sie daran, Vollgas in dieses Ding zu rasen.
Schreiend riss Phillis das Steuer herum und auch ihre Mitfahrer schrien, als das Auto herumgewirbelt wurde.
Phillis fuhr in einen Graben und zunächst wirkte es so, als wäre nichts passiert, aber dann, als Phillis schliddernd wieder auf die Straße kam, ertönte ein lauter Knall und plötzlich wobbelte das Auto seltsam und Phillis musste sich bemühen, es auf der Straße zu behalten.
Ein Reifen musste geplatzt sein.
„Höllenhund!", erkannte Phillis und sie überkam sie süchtig machende Ruhe, die sie immer verspürte, wenn Gefahr herrschte. Das Auto war Schrott und sie liefen in Gefahr, einen Autounfall zu bauen, wenn sie weiter damit fuhren. „Wesley, Bericht: Wie weit noch bis zum Camp?"
„Vielleicht fünf oder zehn Kilometer", brachte er heraus und seine Stimme war ungefähr zwei Oktaven höher, also sonst.
„Noch ein Monster?", fragte Hana schrill und begann auf einer Phillis' Fremden Sprache zu beten, während Pirro sich mit vor Schreck weit aufgerissenen Augen am Haltegriff festklammerte, als wäre es die letzte Sicherheit zwischen ihm und einen Sturz in tausend Meter Tiefe in einen See voller Krokodile unter ihm.
„Willkommen im Geschäft, Baby", murmelte Phillis konzentriert, während sie versuchte, das Auto halbwegs gerade zu fahren und gleichzeitig aufs Tempo zu drücken, damit sie schnell verschwinden konnten, aber sie müssten schon mindestens 120 km/h fahren, um einem Höllenhund zu entkommen und das zeigte sich. Phillis blickte in den Seitenspiegel und das riesige Ding rannte schon auf sie zu, die Zunge beinahe schon fröhlich herausgesteckt und alles vollsabbernd. Wahrscheinlich freute er sich schon auf sein Essen.
Phillis beschleunigte noch einmal, aber da verlor sie beinahe vollkommen die Kontrolle über den Wagen und sie musste abbremsen, was ihnen kostbaren Abstand kostete.
„Nicht schneller als 80", riet Pirro er – er war ganz bleich und sah ein wenig so aus, als müsste er sich bald übergeben.
„Was?"
„Nicht schneller als 80 – hat mir mein Dad beigebracht", erklärte Pirro und Phillis' Gedanken rasten.
„Du kannst fahren?", fragte sie ihn.
„Klar, aber –"
„Übernimm das Steuer!", verlangte sie von ihm und ließ es urplötzlich und ohne große Vorwarnung los. Kurz schlidderte der Wagen zur Seite, aber dann reagierte Pirro zum Glück und griff über Phillis hinweg. Es war bestimmt nicht einfach, den Wagen gerade zu halten, aber Pirro hatte wohl Erfahrung darin und fuhr vielleicht sogar etwas besser mit einem geplatzten Reifen als Phillis.
„Wesley – meine Tasche", verlangte Phillis inzwischen von dem vor Schreck erstarrten Satyr und er meckerte panisch (Hana sah ihn verwirrt an), bevor er reagierte.
Phillis kletterte über die Sitze zurück und trat dabei Pirro aus Versehen gegen die Schulter und schlug Hana gegen den Kopf, aber irgendwie schaffte sie es, zurück in den Kofferraum zu klettern.
Sie trat gegen das Schloss dort und der Kofferraum ließ sich öffnen. Der Wind peitschte ihr ins Gesicht, aber eigentlich war das nur wie beim Quidditch.
Der Höllenhund war vielleicht noch zehn Meter entfernt – eine Kinderübung für Phillis.
Wesley reichte ihr ihre Tasche und Phillis holte ihren Bogen und ihren Köcher heraus, legte einen Pfeil an und zielte kaum, bevor sie ihn losließ.
Der Pfeil durchbohrte den Schädel des Monsters und dieses fiel hin und löste sich in goldenen Staub auf.
„Dios mio!", keuchte Pirro von vorne erstaunt, „Du hast ihn erwischt!"
„Fahr den Wagen von der Straße, wir gehen den Rest zu Fuß!", verkündete Phillis und nach dieser Leistung schien Pirro so beeindruckt von ihr zu sein, dass er ohne Fragen gehorchte und er fuhr den Wagen in den Graben und stellte den Motor ab.
Phillis benutzte den offenen Kofferraum als Ausgang, während die anderen ebenfalls aus dem Auto stolperten.
„Nur mit einem Pfeil!", staunte Pirro mit einem kindlich begeisterten Blick auf Phillis, „Wie gut bist du mit Schusswaffen?"
„Genauso gut", antwortete Phillis schlicht, „Packt alles zusammen – wir hinterlassen keine Spuren, wenn die Polizei das ge– Auto findet!" Beinahe hätte sie gesagt, dass es gestohlen war, aber sie hatten noch Hana dabei.
Sie hoffte, dass wenigstens der Spaziergang zum Camp ruhiger werden würde, aber Phillis ging lieber kein Risiko ein und behielt ihren Bogen in der Hand – für alle Fälle.
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