Die alte Frau mit der Schrotflinte

Houdini schlug vor (nachdem er kurz seine geliebten Karten und seinen Reiseführer studiert hatte), dass sie einen Zwischenstopp in einer Ortschaft namens Achnasheen einlegten und dort erst einmal herumfragten, ob diese Informationen von Greyback nach der tagelangen Reise überhaupt noch aktuell waren oder ob das Rudel von Lycaon schon wieder weitergezogen war.

Sie liefen beinahe an Achnasheen vorbei, weil es nur eine Ansammlung von wenigen Häusern war, die keiner von ihnen schon als eigenständige Ortschaft interpretiert hätte.

„Das ist... wow...", staunte Pirro mit einem unbeeindruckten Blick auf den Ort, an dem sie wie bisher immer zuerst Informationen von den Einheimischen sammeln wollten und bisher hatten sie das immer in Cafés oder Restaurants gemacht, aber dieses Mal war das nicht möglich... schlichtweg aus dem Grund, dass es überhaupt kein Café oder Restaurant gab.

„Also... fragen wir einfach die da", schlug Phillis vor und deutete auf eine ältere Frau, die gerade in ihrem gepflegten Garten ihre Blumen bewässerte und sie wohl noch gar nicht bemerkt hatte oder sich nicht um drei eigentlich ziemlich zerschunden und mitgenommen aussehende Jugendliche kümmerte.

Möööp!", ahmte Pirro ein Warnsignal nach, „Ganz schlechte Idee! Es ist schon sicher mehr als vierundzwanzig Stunden her, seit wir das letzte Monster gesehen haben. Während unserer gesamten Reise – haben wir da jemals wirklich so viel Zeit ohne eine tödliche Gefahr verbracht?"

Phillis überlegte. „Ich weiß nicht... ich verliere langsam den Überblick, wann was passiert. Entweder wir rennen weg, kämpfen, schlafen oder suchen essen."

„Ganz genau!", stimmte Pirro ihr triumphierend zu, „Es ist also ziemlich wahrscheinlich, dass diese so unschuldig und wehrlos aussehende Frau eigentlich ein Monster ist."

„Ich sage das ja nicht gerne, aber Pirro hat Recht", bemerkte Houdini, „Es gibt wirklich ein Muster und dieses verlangt, dass wir innerhalb der nächsten Stunde wieder auf ein Monster treffen."

„Aber nach diesem Höllenhund-Rudel haben wir uns doch sicherlich dreißig Ruhestunden verdient", verhandelte Phillis, „Ich meine... du bist fast gefressen worden!"

„Wir können nicht wissen, ob das Schicksal so funktioniert", erinnerte Houdini sie, „Und ein herausforderndes Monster hat nicht automatisch eine längere Pause bedeutet."

„Eigentlich habe ich das Gefühl, dass sich gefährliche Monster immer häufen und die schwächeren Monster unsere Pausen dazwischen sind", überlegte Pirro und erschauderte bei dem Gedanken.

„Okay, ich habe es verstanden", gab Phillis sich geschlagen, „Andererseits brauchen wir Informationen und unsere Erfahrungen haben gezeigt, dass getarnte Monster manchmal noch etwas Nützliches verraten, bevor sie versuchen uns umzubringen. Wir könnten also zu dieser alten Dame gehen (die vermutlich ein Monster ist) und sie fragen, bleiben aber extra vorsichtig und aufmerksam und wenn sie dann versucht uns umzubringen, bringen wir sie zuerst um, einverstanden?"

„Dagegen spricht nichts." Houdini zuckte gleichgültig mit den Schultern.

„Eigentlich spricht eine Menge dagegen, aber wir haben schon schlimmere Pläne gehabt", stimmte Pirro ihm zu, „Machen wie es so."

Sie brachten also die letzten Meter zum Garten hinter sich und als sie näherkamen, blickte die alte Frau auch von ihrer Arbeit auf und lächelte ihnen freundlich zu und eigentlich war das schon das erste Alarmsignal.

Niemand – nicht einmal alte Frauen – lächelten solchen Teenagern zu, wie Pirro, Houdini und Phillis gerade auftraten: Vollkommen verdreckt, müde, hungrig und offenbar obdachlos.

„Morgen!", begrüßte sie sie heiter und widmete sich wieder ihrer Arbeit, aber als Phillis sie ansprach, blickte sie auf und widmete ihnen all ihre Aufmerksamkeit.

„Entschuldigen Sie, Madam, wir wollten uns erkundigen, ob es hier in der Nähe in letzter Zeit irgendwelche Angriffe von wilden Tieren gegeben hat – von Wölfen vielleicht?"

„Wölfe?", wiederholte die Frau erschrocken, „Ihr jagt die doch nicht, oder? Ihr jungen Leute in den Städten denkt vielleicht, dass Wölfe niedlich sind, aber die sind wirkliche Biester und sehr hinterlistig. Außerdem jagen sie im Rudel – selten Menschen, aber passiert ihnen schon einmal, dass sie einen erwischen."

„Wir passen schon auf uns auf", versprach Phillis lächelnd, „Wissen Sie etwas?"

„Ihr seid bestimmt solche Abenteurer", bemerkte die Frau, „Wie lange seid ihr schon unterwegs?"

„Ein paar Wochen", antwortete Pirro.

„Wochen? Oh, bestimmt wollt ihr euch einmal ausruhen! Wollt ihr hineinkommen? Ich habe frische Kekse und Milch, vielleicht einen Tee?"

„Haben Sie Kaffee?", fragte Phillis, bevor sie sich daran erinnerte, dass das bestimmt eine Falle war (aber der Gedanke an Kaffee ließ sie sofort alle Sorge vergessen), aber die Frau lächelte nickend.

„Natürlich – ich trinke immer eine Tasse voll, mein Ehemann hat immer gesagt, dass mich das in ein frühes Grab schicken wird, aber jetzt seht her, wie es ist? Er unter der Erde und ich noch topfit!" Sie lachte und Phillis zwang sich, ebenfalls zu lächeln.

„Es ist bestimmt eine Falle", bemerkte Houdini ganz leise, dass nur Pirro und Phillis ihn hörten, „Sie will uns ins Haus locken."

„Wenn sie Kekse und Kaffee hat, dann sterbe ich gerne", gestand Phillis, „Warum schauen wir uns diese Falle nicht einfach einmal an? Scheint so, als könnten wir auch noch ein paar Informationen herausschlagen!"

„Ich halte das für keine gute Idee", murmelte Pirro nervös, „Schaut sie euch doch an –" (Die Frau pflückte vielleicht etwas zu aggressiv etwas Unkraut aus der Erde), „– Die ist bestimmt böse."

„Ich stelle mich auf Phillis' Seite, ich brauche Kaffee", bestimmte Houdini und Pirro seufzte geschlagen.

„Na gut, aber wenn wir sterben, finde ich euch in der Unterwelt und bringe euch um!", schwor er sich.

„Gerne!", rief Phillis der Frau ihre Antwort zu, „Wir haben schon lange keinen Kaffee mehr getrunken!"

„Dann kommt doch rein und setzt euch!", rief die Frau und öffnete ihnen sogar das Gartentor, „Ich habe doch so selten Gäste – seit mein Ehemann verstorben ist – der gute Edward – kommt auch seine Schwester nicht mehr vorbei... das könnte aber auch daran liegen, dass sie es im Kopf hat und immer wieder Halluziniert, dass sie schon tot ist... Mein Name ist übrigens Herta! Darf ich eure Namen haben?"

Houdini öffnete den Mund, um zu antworten, aber Phillis kam ihm zuvor: „Nein, dürfen Sie nicht, aber wir heißen Pirro, Houdini und Phillis."

Pirro und Houdini waren verwirrt, aber Herta lachte herzhaft. „Eine Irin – ich habe mir schon gedacht, dass ich den Akzent kenne!"

Phillis grinste verschmitzt. „Man gibt niemanden seinen Namen", sagte sie, „Eine alte Weisheit – Feen stellen damit allerhand Dinge an!"

„Ich habe es schon einmal gesagt und sage es wieder", bemerkte Pirro, „Ihr Iren seid doch irre!"

„Das hast du schon einmal gesagt?", fragte Houdini verwirrt. Pirro wusste es selbst nicht mehr so genau.

Herta führte sie in ihr Haus und es roch nach alter Dame und Lavender und es war genau so eingerichtet, wie man sich das Haus von einer absolut gewöhnlichen, alten Dame vorstellen konnte mit Strickdeckchen auf Abstelltischen und antik aussehenden Möbeln.

„Ihr könnt eure Sachen gerne da abstellen", bot Herta an.

„Wir behalten sie lieber bei uns", gestand Phillis schamlos.

„Das verstehe ich natürlich!", rief Herta und führte sie weiter in einen Raum, der eine Küche mit einem Esstisch und einigen Stühlen war, „Edward und ich sind auch einmal mit Rucksäcken durch ganz Europa gereist, aber dann bin ich natürlich schwanger geworden und wir mussten zurückkehren – Schottland ist schon immer meine Heimat gewesen und mich zieht es einfach immer dorthin zurück."

„Ah... okay..." Pirros Reaktion war eine typische Reaktion von Teenagern auf zusammenhangslose Geschichten von alten Menschen.

„Setzt euch, setzt euch!", lockte Herta sie an den Tisch und ging selbst zum Herd, „Entschuldigt die Unordnung, ich habe natürlich keine Gäste erwartet!"

Da war keine Unordnung.

Sie setzten sich nebeneinander auf die Bank, hinter ihnen ein Fenster mit Spitze-Vorhängen, durch das sie im Notfall einfach springen konnten, wenn sie flüchten mussten.

Herta schaltete eine Kaffeemaschine ein und stellte eine Schüssel mit wunderbar aussehenden, selbstgemachten Keksen auf den Tisch. „Bedient euch doch!", flötete sie und wandte sich wieder dem Kaffee zu.

Die Demigötter musterten die Kekse voller Gier, aber auch Misstrauen und jeder von ihnen war sich sicher, dass sie vergiftet waren, aber dann wisperte Houdini leise: „Go big or go home", und nahm sich einfach einen.

Pirro und Phillis beobachteten ihn dabei, wie er aß und zufrieden nickte. „Schmeckt gut."

„Danke, ich backe sie selbst!", bedankte sich Herta, die natürlich gedacht hatte, Houdini lobte ihre Backkünste und sagte nicht gerade seinen Freunden, dass der Keks nicht vergiftet schmeckte.

Phillis beschloss, dass Vergiftung-durch-Keks eine gute Todesursache war und nahm sich ebenfalls einen. Pirro enthielt sich noch etwas länger, aber nachdem Houdini nach einem zweiten griff, konnte auch er sich nicht mehr zurückhalten.

Herta stellte vier Tassen mit passenden Untertassen (mit einem wundervollen Blümchen-Muster darauf) auf den Tisch und schenkte ihnen Kaffee ein. „Milch? Zucker?"

„Nein", sagte Houdini nur.

„Zucker, bitte", lächelte Phillis etwas höflicher.

„Nur Zucker, danke", nahm Pirro an.

Herta stellte den Zucker vor ihnen ab, schüttete sich selbst etwas Milch in den Kaffee und setzte sich dann zu ihnen. Als sie selbst nach einem Keks griff, war das zwar noch keine Absicherung, dass sie wirklich nicht vergiftet waren, aber immerhin war es irgendwie beruhigend zu sehen, dass auch Herta ihre Kekse aß und nicht daran starb.

„Seid ihr einfach nur Rucksack-Touristen oder sucht ihr schon immer nach Wölfen?", fragte Herta interessiert und klang wirklich einfach nur wie eine alte Dame.

„Wir wollten unbedingt Wölfe in freier Wildbahn sehen", log Phillis lächelnd, wie sie schon ein paar Mal gelogen hatte, wenn sie anderen ihre „Geschichte" erzählt hatten, „Wir jagen ihnen schon seit Wochen hinterher – zuerst sind wir in Pitlochry und in Ballochbuie Forest gewesen, dann in Inverness und nun hier." Natürlich fehlten da ein paar Abschnitte, aber es war eine logische Reiseroute.

„Da habt ihr bestimmt schon einige Abenteuer hinter euch", vermutete Herta heiter. Die Demigötter antworteten nicht darauf. „Aber die waren bestimmt ganz einfach für euch, wenn ihr schon so abenteuerlich seid, dass ihr nach echten Wölfen sucht!"

„Jaah...", Phillis lachte nervös, „Genau..."

„Wisst ihr, ihr seid hier genau richtig", bestätigte Herta und lehnte sich auf dem Tisch etwas vor und sprach geheimnisvoll etwas leiser, sodass sich auch die Demigötter etwas vorlehnen mussten, „Hier gibt es tatsächlich Wölfe, aber erst seit einer oder zwei Wochen."

„Wirklich?", fragte Phillis – das waren (für sie) gute Nachrichten.

Herta nickte. „Ich habe sie noch nie gesehen, aber in der Nacht höre ich sie immer Heulen – aber sie klingen nicht wie normale Wölfe. Irgendwie... ich weiß auch nicht..." Herta erschauderte und wirkte wirklich beunruhigt. Sie stand auf und ging zu einem der Regale und die Demigötter sahen sich besorgt an – fing nun der Kampf an? „Wenn ich sie höre, habe ich sofort das Bedürfnis, wegzulaufen – ganz weit weg. Aber ich kann natürlich nicht weg – mein lieber Edward hat dieses Haus gebaut und ich verlasse das sicher nicht, bis ich sterbe, aber dafür habe ich diese hier!"

Plötzlich holte sie aus einem der Schränke eine waschechte Schrotflinte und die Demigötter reagierten instinktiv und zückten ihre eigenen Waffen.

Herta schrie erschrocken auf und hob die Hände. „Nicht doch! Es tut mir leid, ich wollte euch Kinder nicht erschrecken! Ich hätte nachdenken sollen!"

Die Demigötter sahen sich unsicher an.

„Bestimmt seid ihr ganz angespannt – die Straßen sind nicht immer sicher und ihr habt bestimmt schon viel erlebt! Ich hätte nachdenken sollen, bevor ich mit einer Waffe vor euch stehe! Ich Dummerchen! Wartet, ich lege sie weg!" Herta legte die Schrotflinte tatsächlich wieder zurück und die Demigötter beruhigten sich wieder etwas. Offenbar war diese alte Frau tatsächlich nur eine alte Frau.

Sie stolperte zum Tisch zurück und setzte sich, wohl wirklich etwas erschrocken. „Edward hat auch einen Baseballschläger dabei gehabt, so wir ihr", gestand sie, „Damit hat er einmal einen Dachs erschlagen müssen – diese Dinger sind wirklich größer, als man denkt! Und wirklich gruselig..."

„Entschuldigen Sie", entschuldigte sich Phillis, nicht, weil es ihr wirklich leidtat, sondern weil es höflich war, sich zu entschuldigen (oder so etwas in der Art), „Wir wollten Sie nicht bedrohen, aber als Sie die Waffe gezückt haben..."

„Wir erwarten nur jeden Moment einen Kampf gegen einen Boss-Gegner, ansonsten schlafen die Zuschauer ja langsam ein", scherzte Pirro leise. Houdini schlug ihm in die Seite, damit er leise war.

„Natürlich, natürlich!", rief Herta, „Vergessen wir das! Ich habe die auch nur, sollten die Wölfe auf die Idee kommen, dass eine alte Schreckschraube wie ich ein gutes Futter wäre!" Herta lachte. „Wisst ihr, mein lieber, verstorbener Edward ist Jäger gewesen, aber ich habe die meisten seiner Waffen verkauft. Nur diese eine habe ich behalten, aber ich habe nie gedacht, dass ich sie jemals brauchen würde. Aber ihr seid auch nicht schlecht ausgerüstet – bestimmt könnt ihr euch gegen diese Wölfe wehren, aber ich rate euch davon ab, weiter nach ihnen zu suchen. Wenn ihr wirklich wollt, könnt ihr gerne draußen in meinem Garten oder auch hier im Haus übernachten, dann hört ihr vielleicht die Wölfe – ich würde nicht weiter nach ihnen suchen. Besonders nicht nach diesen Wölfen... die sind irgendwie... mächtig..."

Es war irgendwie eine interessante Wortwahl, die Herta benutzte, aber irgendwie hatte Phillis nicht mehr das Gefühl, dass sie ein Monster war – sie hatten wohl tatsächlich einfach nur eine freundliche, alte Frau getroffen. Das war auch einmal eine nette Abwechslung.

„Danke für den Tipp, Herta, aber wir suchen trotzdem weiter", bedankte Phillis sich, „Wissen Sie zufällig, wo genau die Wölfe sind? Wir wollen so nahe kommen, wie wir können!"

„Och, ich hoffe, euch passiert nichts!", rief Herta, „Das würde ich mir nie verzeihen!"

„Wir wissen, was wir tun, Madam", sagte Houdini steif.

„Ich kenne nur ein paar Gerüchte", gestand Herta, „Weiter draußen beim See – in Knockban – da gibt es wohl einen Mann, der ist dabei gewesen, als die Wölfe einen erwachsenen Mann umgebracht haben. Vielleicht sprecht ihr einmal mit ihm – er redet euch das bestimmt aus und er kann euch eine schaurige Geschichte erzählen, nach der ihr doch sucht!"

„In Knockban? Danke, Herta", lächelte Phillis, „Sie helfen uns wirklich weiter!"

„Ihr geht aber nicht –", rief sie aus und stand auf (Pirro und Houdini griffen schon wieder nach ihren Waffen), „– ohne etwas zum Essen mitzunehmen! Edward und ich sind auf unserer Reise einfach immer hungrig gewesen – das kommt vom vielen zu Fuß gehen, hab ich gesagt! Ihr müsst einfach etwas mitnehmen!"

Phillis grinste. „Also... da sagen wir auf jeden Fall nicht nein!"

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top