Das Rote Messer

Es war eine verdammte Odyssee gewesen.

Zuerst natürlich diese Motorradgang, die den Bus gekapert hatte und dann auch noch diese Eichhörnchenarmee, die Pirro aus Versehen verärgert hatte gefolgt von einem weiteren Höllenhund (als gäbe es keine anderen Monster mehr) und natürlich – wer hatte das gedacht – verlief Pirro sich auch noch und Houdini und Phillis mussten ihn zuerst finden.

Zusammengefasst: Es war eine schreckliche Reise gewesen und als endlich das Ortsschild von Aberdeen in Sicht kam, rannte Pirro die letzten Meter dorthin (eigentlich humpelte er eher, nachdem ein Opossum beinahe sein Bein abgebissen hatte) und umarmte dieses.

„Pass auf, oder das Schild verklagt dich wegen Belästigung", warnte Houdini trocken. Es war auch für ihn eine anstrengende Reise gewesen und wenn man es nicht seinem wie immer neutralem Gesichtsausdruck ansah, so sah man es an seinem weißen Hemd, das nun gar nicht mehr so weiß war, sondern blutbefleckt oder voller Dreck.

Sie hatten auf dem Weg einmal die Chance gehabt, in einem Obdachlosenheim zu duschen und ihre Kleidung zu waschen, aber dann war natürlich der Vorfall mit der Müllhalde passiert und alles war mehr oder weniger umsonst gewesen.

Danach hatten immer öffentliche Toiletten mit gut aufgefüllten Seifenspendern reichen müssen.

Aberdeen war eine Stadt mit eher niedrigen Häusern, aber sie war groß genug, um ein gutes Restaurant zu haben, in dem die drei Demigötter erst einmal aßen, obwohl sich nur kleine Mahlzeiten ausgingen, nachdem ihr Geld nun doch etwas zur Neige ging.

Um dem entgegen zu wirken, kauften sie in einem Lebensmittelladen wieder einige Vorräte und am Abend bauten sie etwas außerhalb der Stadt ihr Lager auf, teilten dieses Mal aber aus Sicherheitsgründen (und weil sie nicht sicher waren, ob die Gänse, die sie erst am Vortag angegriffen hatten, sie eventuell verfolgt hatten) teilten sie die Nacht in drei Teile und hielten immer zu zweit Wache, während einer immer schlief.

Langsam waren sie wirklich müde und nach nun schon fast zwei Wochen unterwegs waren sie ausgelaugt und wünschten sich nur noch eine Nacht, in der sie ausschlafen konnten, aber solange sie noch dauerhaft in Gefahr waren, wurde daraus wohl nichts.

Phillis musste sich zu Sonnenaufgang – wie mittlerweile jeden Morgen – aus ihrem Schlafsack regelrecht zwingen und hätte sie ihre Augen wieder geschlossen, hätte sie bestimmt einfach weiterschlafen können – etwas, das ihr normalerweise so kurz nach Sonnenaufgang nicht leicht fiel.

„Wir müssen uns überlegen, wo wir Greyback finden", gähnte Phillis beim gemeinsamen Frühstück – es gab wieder einmal das, was sie im Laden gekauft hatten, nachdem es nichts anderes gab und langsam konnte Phillis das trockene Brot mit immer denselben Belegen nicht mehr sehen.

„Eine Zeitung wäre praktisch", schlug Houdini vor, „Die haben uns bis jetzt auch immer auf die richtige Spur geführt und außerdem steht darin vielleicht etwas, wenn dieser Werwolf wirklich auch Sterbliche angreift."

Nicht direkt Sterbliche, sondern Zaubererkinder, aber irgendwie waren Hexen und Zauberer auch nichts anderes als Sterbliche. Phillis fragte sich, wie wohl Todesser reagieren würden, wenn diese als „Sterbliche" bezeichnet wurden, nachdem diese es schon als Beleidigung und minderer sahen, ein Muggel zu sein.

Nach dem Frühstück packten sie ihre Sachen zusammen (sie wussten nicht, ob sie nicht vielleicht fluchtartig die Stadt verlassen mussten, so wie in Elrick) und nahmen all ihren Besitz lieber mit.

Danach taten sie das, das sie immer taten, wenn sie nicht genau wussten, was sie als nächstes tun sollten: Sie gingen durch die Stadt und suchten nach „Hinweisen". Die Hinweise fanden sie in schriftlicher Form in einer Zeitung.

„Vermisstenanzeige, Mord, Vermisstes Kind, totes Kind", zählte Houdini auf, „Diese Stadt geht wirklich vor die Hunde – alles in den letzten paar Wochen."

„Das muss er sein", erkannte Phillis, „Wo sind all diese Leute verschwunden?"

Houdini blätterte weiter, bis er auf eine große Werbeanzeige stieß, die aber auf dem zweiten Blick eigentlich von der örtlichen Polizei kam.

„Nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr alleine unterwegs sein... nicht in die Parks, wenn es dunkel ist... und natürlich auf dem Friedhof immer mit einer Begleitperson", las Houdini.

„Schön, dass sie uns sogar eine Anleitung mit den Dingen geben, die wir ganz bestimmt machen werden", scherzte Pirro.

„Wir gehen also nach Einbruch der Dunkelheit in einen Park?", schlug Phillis vor.

„Da sind erschreckend viele Kinder betroffen", erkannte Houdini, als er die Liste mit allen vermissten Personen fand, „Schau mal – drei vermisste Kinder und zwei Tote. Was ist das für ein Monster?"

Phillis schluckte schwer. „Offenbar eines, das auf Kinder spezialisiert ist...", sagte sie leise.

„Zwei dieser Kinder sind zuletzt auf dem Friedhof gesehen worden – das war erst vor drei Tagen", erkannte Houdini, „Wir sollten dorthin gehen."



Und das machten sie dann auch und ihr Plan wirkte eigentlich nicht wirklich wie ein Plan, sondern eher wie eine Abfolge von zufälligen Dummheiten, die irgendwie abgesprochen, aber nicht wirklich dazu gedacht waren, wirklich zu funktionieren.

Wer sonst kam schon auf die Idee, bei einem menschenfressenden Werwolf, der besonders gerne Kinder als seine Opfer wählte, ein Kind in der Dunkelheit alleine auf einen Friedhof zu schicken?

Houdini.

Houdini hatte diese Idee gehabt und Pirro und Phillis waren eigentlich dagegen gewesen, aber Houdini hatte nichts davon hören wollen und war tapfer (oder eigentlich ziemlich gelangweilt und gleichgültig) geblieben.

Er hatte seinen beiden Begleitern erklärt, dass dieser Werwolf, den sie jagten, sehr einfach gestrickt wirkte: Er machte Leuten Angst, fraß gerne Kinder und schlug in der Nacht zu – aber dahinter steckte nicht wirklich ein komplexer, mehrdimensionaler Plan (Houdinis Worte – Phillis hatte das nicht wirklich verstanden und seinem Gesichtsausdruck nach Pirro auch nicht). Es war einfache Grausamkeit, die zwar erschreckte, aber nicht wirklich überraschte.

Außerdem würde der Geruch von gleich drei Halbbluten ihn anlocken und zum Glück wusste Phillis mit Sicherheit, dass auch Werwölfe in der Zaubererwelt den besonders leckeren Geruch von Demigöttern wahrnahmen, nachdem Remus mehrmals gesagt hatte, dass sie gut roch und wahrscheinlich – nachdem es in Europa weniger bis gar keine Demigötter gab – war dieser starke und köstliche Geruch für Greyback so ungewohnt für ihn, dass er nicht anders konnte, als in ihre Falle zu laufen (so zumindest der Plan).

Houdini wirkte auch wirklich irgendwie verletzlich (und war deswegen perfekt für die Rolle als Köder), als er so ganz alleine (denn drei Kinder/Jugendliche auf einmal hätten Greyback vielleicht verschrecken können) auf einem überwucherten Grabstein saß, sein weißes Hemd strahlend hell in der finsteren Nacht und seinen etwas mitgenommenen Ballettschuhen (wenn man einfach einmal den scharfen Degen vergaß, den er an der Hüfte trug und natürlich das silberne Messer, aber er in der Hand hielt, aber unter seiner Jacke versteckte).

Houdini besaß auch dieses seltene Talent, jederzeit und immer gelangweilt und genervt auszusehen, obwohl Phillis sich dieses Mal gar nicht so sicher war, ob er nicht tatsächlich gelangweilt und genervt war, denn immerhin war auch Houdini ein Demigott und geschlagene dreißig Minuten zu warten war auch für ihn kaum erträglich.

Zu ihrer Überraschung war ihr „Plan" erfolgreich.

Es waren nicht viele Leute noch unterwegs – besonders nicht am Friedhof. Immer wieder fuhr eine Polizeiwagen vorbei, denen die Demigötter dann ausweichen mussten, aber ansonsten war eigentlich alles ruhig, was auch kein Wunder war, denn selbst, wenn kein mordender Kinder-Entführer unterwegs war, waren Friedhöfe nach Sonnenuntergang nicht direkt ein Ort, an dem man gerne Zeit verbrachte.

Phillis und Pirro beobachteten Houdini von ihrem Versteck aus – sie hatten sich auf das Dach eines kleines Gartenhüttchen gelegt und mit ihrer dunklen Kleidung, die sie gegen die knallorangen T-Shirts ausgetauscht hatten, verschmolzen sie in der Dunkelheit mit der Nacht.

Phillis' Rücken rebellierte schon nach ungefähr zehn Minuten, nachdem sie absolut still und leise ganz flach auf dem Dach liegen mussten, den Kopf in den Nacken gelegt, damit sie Houdini immer sehen konnten, aber Greyback ließ sich Zeit.

Zum Glück nicht zu lange, sonst wäre Houdini noch durchgedreht, aber irgendwann ging ein großer Mann den Hauptweg des Friedhofes entlang, als wäre er hier, um ein Grab zu besuchen, aber es war schon ziemlich auffällig, dass jemand um beinahe Mitternacht auf einen Friedhof ging.

Zufällig nahm er auch noch genau einen Weg, der ihn näher an Houdini heranbrachte und Houdini wusste, dass das wohl der Mann war, den sie suchten.

In der Dunkelheit war es unmöglich, ein Gesicht oder sonstige markante Züge ausfindig zu machen, aber wer sonst sollte sich zu dieser Zeit auf dem Friedhof aufhalten?

Zufällig ging er auch zu einem Grab in Houdinis Nähe und Houdini beobachtete genervt, wie er auch noch so tat, als würde er von dem Grab stehenbleiben und trauern (und damit verschwendete er ganze dreiundvierzig Sekunden von Houdinis Leben), bevor er weiterging und dann auch noch den Anstand hatte, ganz erschrocken zu sein, als er Houdini erblickte, der bestimmt ein seltsamer Anblick war, aber wenn dieser Kerl tatsächlich ein Kindermörder/-fresser war, dann fürchtete er sich sicher nicht vor einem Anblick wie Houdini (sein erster Fehler).

„Oh, hallo!" Die Stimme war eindeutig männlich, dunkel und es klang so, als würde er tatsächlich unschuldig lächeln, obwohl Houdini das in der Dunkelheit nicht direkt sehen konnte – nur ungefähre Umrisse von den weiter entfernten Straßenlaternen außerhalb des Friedhofes. „Ganz alleine zu dieser Zeit? Und dann auch noch am Friedhof?"

„Wie sonst soll man dich treffen?", fragte Houdini und der Mann war einen Moment lang still. Dann begann er zu lachen.

„Oh, verstehe", lachte er (und ging Houdini damit ziemlich auf die Nerven), „Ich habe es hier wohl mit einem Helden zu tun, oder? Ist einer deiner Freunde verschwunden?"

Houdini ging nicht darauf ein. „Du bist also Greyback? Ich habe nach dir gesucht – offenbar hast du Informationen, die mir weiterhelfen können."

„Habe ich die?", fragte Greyback unschuldig.

Houdini seufzte und griff in seine Jackentasche und holte ein Feuerzeug hervor, schnippte es und die kleine Flamme erhellte das Gesicht des Werwolfs und Greyback grinste, als würde er erwarten, dass Houdini sich erschrecken würde oder zumindest irgendwie ein Zeichen von Furcht zeigen würde, aber natürlich passierte das nicht.

Zugegeben, Greyback sah ziemlich animalisch aus mit langen, gelben Krallen und zugespitzten Zähnen, aber Houdini hatte erst letzte Woche eine herumliegende Socke von Pirro im Zelt gefunden, die einfach nur noch vor Dreck gestanden hatte und so sehr gestunken hatte, dass sie das Zelt hatten evakuieren müssen und zum Glück hatte es in dieser Nacht nicht geregnet, denn sie hatten draußen an einem Feuer übernachten müssen und nach einem so traumatisierenden Erlebnis fürchtete man sich nicht mehr vor vielleicht etwas verwahrloste Männer mit ungepflegtem Auftreten, obwohl Houdini noch immer saubere Hemden und gebügelte Anzughosen schätzte.

„Ja", sagte Houdini nur unbeeindruckt und Greyback sah tatsächlich einen Moment lang enttäuscht aus, fasste sich aber schnell wieder.

„Warum sollte ich sie dir geben? Ich glaube, ich werde dich lieber genauso umbringen, wie die anderen Kinder", schlug Greyback vor und erwartete wohl, dass Houdini irgendwie reagieren würde, aber das tat Houdini natürlich nicht.

Er sah noch immer unendlich gelangweilt aus, als würde er tatsächlich lieber sterben, als Greyback noch länger zuzuhören und selbst, als Greyback mit bedrohlichen Schritten näherkam, blieb Houdini absolut unbeeindruckt (Greyback gab sich wirklich Mühe, aber dieses Mal schienen seine üblichen Taktiken einfach nicht zu funktionieren).

„Weißt du", Greyback schlich immer näher, ein breites Grinsen im Gesicht, sodass man seine spitzen Zähne besser sehen konnte, „du riechst besonders gut – so... unglaublich deliziös. Es wird mir eine besondere Freude sein, dich– ARG!"

Als er nahe genug gekommen war, hatte Houdini blitzschnell reagiert und die Falle hatte zugeschnappt.

Der Jäger war zum Gejagten geworden, als Houdini flink sein Silbermesser gezückt und Greyback in den Oberarm gerammt hatte und dieser war vor Schreck vollkommen aus seiner Rolle gefallen.

Houdini benutzte aber das Messer, das er tief in den Oberarm des Werwolfs gebohrt hatte, um diesen herum zu reißen und zu Boden zu werfen, sodass er nun vor Houdini auf dem Boden kniete und dieser legte einen seiner eigentlich dürren Arme um den Hals des großen Werwolfs, aber indem er das Messer aus seinem Oberarm zog und an seinen Hals hielt, hielt er ihn auch in Schach.

„Wage es nicht, auch nur an eine Verwandlung zu denken", zischte Houdini ihm ins Ohr.

„Was zum– Was wird das, verdammt!", brüllte Greyback und wollte wohl trotzdem versuchen, sich zu wehren, aber dann traten Phillis und Pirro hervor.

Pirro hielt ebenfalls sein eigenes Silbermesser in der Hand, aber Phillis zielte mit ihrem Bogen und einem Silberpfeil direkt auf den Kopf des Werwolfs und ihre Hand zitterte kein bisschen.

„Guten Abend, Greyback", begrüßte sie ihn ruhig (vielleicht ein wenig schadenfroh) mit einem unschuldigen Lächeln im Gesicht, „Ich sehe, du hast schon zugestimmt, mit uns zu verhandeln?"

„Einen Scheiß habe ich getan!", brüllte Greyback wütend und wollte sich Houdinis Griff entziehen, aber dieser drückte das Messer nur etwas tiefer, sodass er ein wenig die Haut des Werwolfes anritzte und auch Pirro trat bedrohlich einen Schritt näher, das Messer kampfbereit in der Hand. Nur Phillis blieb ruhig.

„Wer seid ihr?", Greyback spuckte aus, „Was wollt ihr von mir?"

„Das hat mein Freund hier doch schon gesagt – Informationen", antwortete Phillis ruhig, obwohl sich alles in ihr dagegen wehrte. Ihre Instinkte sagten ihr, dass das ein gefährlicher Mann war und dass sie ihn einfach sofort umbringen sollten. Sie sollten lieber kein Wort glauben, das aus seinem Mund kam und sie sollten einen anderen Weg suchen, um Lycaon, aber sie zwang sich, ruhig zu bleiben.

„Wir suchen ein Rudel von Werwölfen, das sich wohl gerade in Schottland aufhalten sollte", erklärte Phillis.

Greyback schnaubte spöttisch. „Als ob sich in Schottland ein Rudel überhaupt bilden könnte! Die werden vom Ministerium doch schneller zerschlagen, als auch nur diese Idee geäußert werden könnte."

„Was für ein Ministerium?", fragte Pirro verwirrt.

Diese Frage verwirrte Greyback wohl ebenfalls und er blickte zwischen Pirro und Phillis hin und her. „Ihr habt wohl doch schon vom Ministerium gehört! Ihr seid doch schon alt genug, um auf diese verdammte Schule zu gehen, oder nicht?"

Nachdem Phillis nicht wirklich Lust hatte, ihre Herkunft als Hexe hier und jetzt öffentlich zu verbreiten, wechselte sie lieber so unauffällig wie möglich das Thema. „Lenk nicht ab! Wir wollen wissen, wo Lycaons Rudel ist!"

Greyback reagierte überraschend. Er zuckte erschrocken zusammen und schnitt sich dabei an Houdinis Messer an seiner Kehle und zischte vor Schmerzen, aber gleichzeitig schien seine Angst größer zu sein.

„Ich lege mich nicht mit ihm an", beschwor Greyback, „Das könnt ihr vergessen!"

„Interessant...", meinte Houdini gelangweilt, „Du wirkst nicht wie jemand, der gerne für andere stirbt."

„Bringt mich ruhig um – alles ist besser, als von ihm umgebracht zu werden!", bestimmte Greyback doch seine Stimme zitterte leicht, er schien aber wenigstens zu versuchen, Haltung zu bewahren

„Ich bin dafür!", meldete sich Pirro ein wenig zu begeistert.

„Ich bin dagegen", bestimmte Phillis streng und trat einen Schritt näher, sodass der Pfeil nun direkt zwischen Greybacks Augen zielte und er schielte auf die Spitze, „Tot nützt du mir nichts – wir müssen das Rudel finden."

„Ohne mich!"

Phillis trat noch näher und die Pfeilspitze berührte nun seine Haut und Greyback schwitzte vor Angst, aber Phillis blieb hart.

„Dann müssen wir wohl verhandeln – wir lassen dich dafür am Leben", schlug sie vor, obwohl sowohl Houdini als auch Pirro sie überrascht ansahen, aber sie hatte mehr als einen Grund, Greyback nicht umzubringen – unter anderem auch, weil sie sich nicht sicher war, ob sich sein Körper genauso auflösen würde, wie es bei anderen Monstern der Fall war, immerhin war in der Zaubererwelt nichts davon bekannt und bestimmt waren schon Werwölfe vor ihm gestorben. Wenn er also als Leiche zurückblieb, würde das Fragen aufwerfen – nicht nur beim Zaubereiministerium, sondern auch bei den Sterblichen und Zauberern der Stadt und natürlich auch bei Houdini und Pirro. Das waren zu viele unbekannte, unsichere Komponenten, mit denen Phillis sich lieber nicht herumschlagen wollte und obwohl Greyback eine schreckliche Person war, konnte sie ihn im Moment aus logistischen Gründen nicht umbringen.

„Mein Leben nützt mir nichts, wenn mir stattdessen Lycaon auf den Fersen ist", brachte Greyback heraus und er war seltsam bleich.

„Wir werden ihn umbringen", schlug Phillis vor, „Das ist unser Plan – wir werden ihn umbringen und er kann dich nicht verfolgen."

„Das ist unmöglich", spottete Greyback und lachte trocken auf, „Ihr seid doch wahnsinnig – jemanden wir Lycaon bringt man nicht einfach so um!"

„Wir sind ausgerüstet", versprach Phillis gleichgültig, „Wir haben schon schlimmeres gesehen."

„Das hat doch alles keinen Sinn", sagte Pirro leiser zu ihr, „Wir bringen ihn um und suchen einen anderen Weg."

„Nein!", zischte Phillis bestimmt, „Ich will diese Information! Komm schon, Greyback! Rede!"

Houdini unterstrich ihre Worte, indem er das Messer fester gegen Greybacks Haut drückte und Greyback atmete nur noch ganz flach, um sich ja nicht mehr zu bewegen und sich damit umzurbringen.

„Okay, okay! Ich lasse mich auf einen Deal ein!", gab er endlich nach, „Aber ich will, dass ihr mich am Leben lässt!"

„Abgemacht – und dafür verrätst du uns alles, das du über Lycaons Rudel weißt", verlangte Phillis streng, „und du wirst Aberdeen verlassen!"

„Was? Das geht nicht!", rief Greyback und begann zu grinsen, „Ich habe hier einen Auftrag – der Dunkle Lord persönlich hat mich darum gebeten, hier etwas für Aufruhr zu Sorgen!"

„Das sind die Bedingungen", bestimmte Phillis, „Nehme sie an oder stirb!"

„Okay, okay! Ihr seid wirklich harte Verhandlungspartner!", gab Greyback nach, „Ich werde Aberdeen verlassen – so! Und als ich das letzte Mal von Lycaon gehört habe, ist er weiter im Norden gewesen – auf einem Berg, irgendwo in der Nähe von einem See – Loch Fannich!"

Pirro runzelte die Stirn. „Das klingt nach einem erfundenen Namen..."

„Jeder Name ist erfunden", erinnerte Houdini ihn genervt, „Und ich habe von diesem See schon gehört – ziemlich unbekannt, aber er steht im Reiseführer... und er liegt genau in der Richtung, aus der wir gekommen sind."

Sowohl Pirro als auch Phillis verloren bei diesen Worten einen Moment lang ihre bedrohliche Haltung und sackten etwas zusammen und stöhnten genervt auf.

„Dann also alles wieder zurück?", fragte Pirro ungläubig, „Das wird wieder Tage dauern!"

„Darüber sprechen wir später", bestimmte Phillis, „Weißt du sonst noch etwas?"

„Natürlich nicht!", schnaubte Greyback, „Lycaon ist nicht wirklich jemand, der gerne plaudert, oder?"

„Mein Freund hier wird jetzt das Messer von seiner Kehle nehmen und du wirst gehen, ohne uns anzugreifen", verlangte Phillis, „sonst erschieße ich dich mit einem Pfeil."

„Was?", fragte Pirro ungläubig, „Du lässt ihn gehen? Ich habe gedacht, du blüffst!"

Greyback funkelte sie wütend an. „Ihr habt es versprochen!"

„Aber nicht geschworen", redete Pirro auf Phillis ein, „Du hast niemals auf irgendetwas Heiliges geschworen. Kein Fluss Styx, kein Gott oder sonst irgendetwas – der Schwur war nicht wirklich bindend."

„Pirro hat Recht", erkannte Houdini, „Wenn er davonkommt, müssen wir uns später noch einmal mit ihm herumschlagen – jetzt wäre er schutzlos und schon in unserer Gewalt. Er hat Kinder ermordet."

Phillis sah die beiden ungläubig an. „Ihr beide seid doch wahnsinnig! Mein Dad ist wortwörtlich der Gott der Wahrheit – wenn ich einen solchen Schwur breche, stehen die Chancen gut, dass er mich doch noch umbringt, da interessiert es niemanden mehr, dass ich wohl im Moment seine „Lieblingstochter" bin! Bindend oder nicht – ich sollte jeden Schwur ernst nehmen!"

„Aber du lügst andauernd", erinnerte Houdini sie, „Ich erkenne das – du bist eine schreckliche Lügnerin."

„Das ist nicht dasselbe", erinnerte Phillis sie, „Ich habe einen Vertrag abgeschlossen und ich sollte mich an ihn halten – wir bekommen bestimmt wieder einmal die Möglichkeit, ihn umzubringen. Mein Pfeil verfehlt nie sein Ziel."

Greyback blickte zwischen Pirro und Phillis hin und her (nachdem Houdini hinter ihm stand) und wirkte angespannt, als würde er jederzeit mit seiner Exekution rechnen, aber dann nahm Houdini das Messer weg und er entspannte sich etwas.

Phillis zielte noch immer auf seinen Kopf, trat aber langsam ein paar Schritte zurück, wie auch Houdini, der sich zu Pirro und Phillis stellte.

Greyback stand ebenso langsam auf, als würde er damit rechnen, jederzeit angegriffen zu werden, aber als er erkannte, dass nichts passieren würde, begann er zu grinsen und leckte sich vor ihnen seine langen Krallen ab, an denen Blut klebte. Dann drehte er sich um und rannte davon.

Und Phillis ließ ihn laufen, obwohl Pirro und Houdini sie beinahe schon zweifelnd und anklagend ansahen. Sie ließ ihn laufen, nicht direkt aus dem genannten Grund, dass ihre Schwüre immer bindend waren, sondern weil sie ein Feigling war und nicht wollte, dass ihr größtes Geheimnis gelüftet wurde.

„Geht es deinem Arm gut?", fragte Pirro und Phillis war das gar nicht aufgefallen, aber Houdini blutete tatsächlich am Arm, das man zuerst wegen seiner Jacke gar nicht gesehen hatte. Greyback musste ihn erwischt haben, als Houdini zugeschlagen hatte – mit diesen Krallen, passierte so etwas bestimmt ziemlich schnell.

Phillis fiel ein, dass Greyback wohl Houdinis Blut geschmeckt hatte und sie wollte gar nicht die Gedanken dieses Perversen wissen und sie hoffte, Houdini ging es danach noch gut.

„Klar – nur ein Kratzer", winkte Houdini ab und es schien wirklich keine große Sache zu sein, aber Phillis würde sich die Wunde ansehen – nicht, dass sie sich entzündete. Ansteckend war Lykanthropie nur durch einen Biss zu Vollmond, also blieb Houdini das auf jeden Fall erspart.

Pirro und Houdini hielten noch immer ihre Messer in der Hand, als Phillis ihren Bogen sinken ließ und den Silberpfeil wieder zurück in den Köcher steckte und ihr Blick fiel besonders auf Houdinis Messer, mit dem er Greyback bedroht hatte.

Das Messer war blutrot  – ein rotes Messer – und Phillis fragte sich, ob das die Warnung und das Zeichen war, auf das sie gewartet hatte.

Als sie aufblickte und in Houdinis unzufriedenes Gesicht sah, war sie sich überhaupt nicht mehr sicher, ob sie Houdini wirklich so vertrauen konnte, wie sie es bisher getan hatte.

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