Cabuie Lodge

Phillis war schon früher aufgefallen, dass sie Zeit in den letzten Minuten unendlich langsam zu vergehen schien.

Minuten wurden dann zu Wochen und Stunden zu Jahrhunderten, wenn man mehr oder weniger nur noch die letzten Sekunden hinter sich bringen musste. In der Schule hatte Phillis dann häufig den Sekundenzeiger ihrer Uhr beobachtet und sie hätte schwören können, dass irgendjemand ihre Uhr verhexte, denn auf einmal verging die Zeit überhaupt nicht mehr und es fühlte sich noch viel mehr wie eine Qual an, die letzten Minuten zuzuhören, als die restliche Stunde zuvor.

Dasselbe Prinzip galt wohl auch für diesen Auftrag.

Sie wusste innerlich, dass das wohl einer ihrer letzten langen Märschen werden würde, bevor sie es beendeten und dass sich diese Reise langsam dem Ende näherte, aber die Götter schienen wohl beschlossen zu haben, dass die Zeit nun nicht mehr verging und der eigentlich im Vergleich kurze Weg zog sich dahin, als würden sie eine Welt umrunden.

Als der See in Sicht kam, fühlte es sich für Phillis so an, als wären Tage vergangen, aber eigentlich waren es nur ein paar Stunden gewesen.

„Loch Fannich!", rief Houdini triumphierend, „Hier ist er."

„Warum so überrascht?", schnaubte Pirro ein wenig schlecht gelaunt (er hatte dunkle Ringe unter den Augen, als hätte er auch ganz schlecht geschlafen und wahrscheinlich fühlte sich für ihn die Zeit ähnlich lang an), „Hast du etwa nicht erwartet, dass er genau da sein könnte, wo die Karte ihn beschreibt?"

„Idiot, natürlich nicht", schnaubte Houdini, „Ich habe nur gedacht, wir würden noch eine Stunde länger brauchen."

„Zum Glück nicht – ich habe langsam die Schnauze voll vom Gehen", murmelte Pirro leise.

Am Ufer angekommen stellte sich aber heraus, dass sie ein anderes Problem hatten...

„Da kann man gar keine Boote ausleihen", erkannte Phillis und schaute das Ufer hinunter, aber da war nichts, „Da ist nicht einmal ein Dorf oder auch nur ein Haus – wir sind hier im Nirgendwo, niemand hier hat ein Boot."

„Damit habe ich nicht gerechnet", gestand Houdini, „Ich habe zwar gewusst, dass Loch Fannich kaum mit dem Auto zu erreichen ist, aber ich habe nicht erwartet, dass hier nicht einmal ein Ferienhaus oder etwas in der Art sein könnte."

Pirro stöhnte auf. „Also gehen wir um den See herum? Das wird wieder Stunden dauern!"

Phillis hatte darauf auch keine Lust – sie hatte sowieso schon das Gefühl, als würde das alles viel zu langsam gehen und in ihrer Vorstellung wusste Lycaon schon, dass sie näherkamen und er zog weiter, was dazu führen würde, dass sie ihm wieder hinterherjagen mussten und das würde ihre Heimreise weiter hinauszögern.

Sie suchte das Ufer noch einmal nach einer Möglichkeit ab, den See zu überqueren und sie überlegte, ob ihnen auf dem Weg vielleicht ein Haus aufgefallen war, in dem eventuell ein Boot (von ihr aus auch nur ein Ausblasbares) sein könnte, als ihr etwas anderes auffiel.

„Hey – schaut Mal", sie deutete auf eine Ansammlung an Büschen, „Da ist doch ein Boot!"

Sie eilten hin und tatsächlich – dort versteckt im Busch war ein kleines Boot, groß genug für vielleicht zwei Personen – drei Jugendliche wären auch noch in Ordnung, wenn sie zusammenrückten.

„Das ist... genau das, was wir brauchen", erkannte Houdini mit einer Mischung aus Misstrauen und Überraschung in der Stimme, „Sieht funktionsfähig aus... nur etwas voller Algen... aber eigentlich ganz passabel... Es ist bestimmt eine Falle."

„Oh, auf jeden Fall", stimmte Pirro ihm zu, „Sind die vierundzwanzig Stunden schon um?"

„Nicht vergessen – vermutlich haben wir keine vierundzwanzig Stunden Pause mehr, sondern weniger", erinnerte Phillis ihn, „aber soweit ich sehe, haben wir keine andere Wahl, oder? Notfalls kann ich auch die ganze Strecke schwimmen – und ihr?"

Pirro nickte locker; Houdini nur zögerlich.

„Der einzige Nachteil davon wäre, dass unsere Sachen nass werden würden und wir müssten die Sonnenstunden nutzen, bevor wie auf den Berg steigen", erinnerte Houdini sie, „Im Reiseführer steht, dass dort im September schon manchmal Schnee liegen kann."

„Der September hat gerade erst begonnen", winkte Pirro ab, „Wir kommen schon zurecht."

„Aber vermutlich wird es tatsächlich kälter da oben sein", stimmte Phillis Houdini zu, „Besser also, wir werden nicht nass, aber das wollen wir sowieso nicht."

„Also... wir nehmen diese Falle an?", fragte Pirro, „Cool! So wie immer..."

Sie zogen das Boot zum Wasser (eigentlich nur Phillis und Pirro, nachdem Houdini sich weigerte, die Außenseite des Bootes zu berühren, da dort Algen wuchsen, die er auf gar keinen Fall berühren wollte – das ist doch ekelhaft!– und setzten sich hinein (Houdini setzte sich auf seinen Rucksack, damit er das Boot nicht einmal mit seiner Hose berühren musste).

Kurz tat Houdini dafür so, als würde er rudern, aber schon bald bemerkten sie, dass er das nicht konnte.

„Das sieht doch eigentlich nicht so schwer aus!", beschwerte Houdini sich, „Warum funktioniert das nicht?"

„Ich... habe noch nie jemanden so mies rudern gesehen", bemerkte Phillis trocken, „Hast du das in deiner Zeit im Camp nicht gelernt?"

„Offensichtlich habe ich Besseres zu tun gehabt!", beschwerte Houdini sie.

Pirro erbarmte sich und ruderte für Houdini.

Im Boot kamen sie eindeutig schneller voran und der See war nicht sonderlich breit (2 Kilometer, schätzte Houdini – Phillis vertraute ihm da einfach einmal). Schon bald hatten sie die Hälfte hinter sich, als Nebel aufzog.

Houdini und Pirro wirkten nervös, aber Phillis war Nebel schon gewohnt – das war zu dieser Jahreszeit eigentlich ganz normal in Schottland, jedenfalls, wenn man von Hogwarts ausging.

Phillis machte sich eigentlich erst Sorgen, als sie scheinbar nicht mehr von der Stelle kamen.

Zuerst fiel es ihr gar nicht auf, aber dann kam dieses Gefühl zurück, einfach nicht weiter zu kommen, als wäre die Zeit stehengeblieben und die Demigötter begannen schon ungeduldig herum zu zappeln, aber das Ufer schien einfach nicht näher zu kommen.

„Kommt das nur mir so vor", unterbrach Pirro irgendwann die angespannte Stille (die immer mit Nebel kam), „oder kommen wir nicht voran?"

Houdini antwortete ihm nicht, aber lehnte sich über die Reling hinaus und hielt eine Hand ins Wasser. Phillis war sich nicht sicher, was er damit beweisen wollte, aber als er sich aufrichtete, war Sorge in seinen Augen zu sehen.

„Wir kommen schon voran – nur seitlich."

„Was?", fragte Phillis verwirrt und runzelte die Stirn – im Ruder-Unterricht hatte sie gelernt, dass das eher unwahrscheinlich war, außer da war ein...

„Wasserfall?", fragte sie verwirrt, „Das ist ein verdammter See auf einer verdammten Ebene! Wie kann es da eine Strömung geben?"

„Aber dieses Ufer da kommt näher!" Pirro deutete auf das Ufer der Breite und tatsächlich – obwohl Pirro aufgehört hatte zu rudern, kam es langsam (aber für Ruder-Geschwindigkeit eher schnell) näher. Aber es sah nicht normal aus – irgendetwas daran war seltsam und Phillis hätte schwören können, dass da zuvor kein Dorf gewesen war.

Der See war nicht sonderlich breit und Phillis hatte vom Ufer aus alles sehen können – da waren keine Häuser in der Nähe gewesen und doch steuerten sie offenbar gerade darauf zu.

„Ich habe das Gefühl, wir sollten nicht näherkommen", schlug Phillis besorgt vor, „Rudern wir weg!"

Pirro nahm wieder die Ruder in die Hände und begann schneller als zuvor zu paddeln, aber egal, wie sehr er sich anstrengte, das Boot steuerte weiterhin auf die übernatürliche Richtung an, als würde es von diesem Ufer angezogen werden.

„Wir hätten außen um gehen sollen!", jammerte Houdini, „Was ist das?"

Phillis hatte keine Antwort darauf, aber je näher sie kamen, desto beunruhigender wurde der Anblick.

Sie waren nun von Nebel umgeben und schon bald konnte Phillis nur noch vielleicht zwei Meter weit sehen, sodass sie nicht mehr einschätzen konnte, wo das Ufer war, aber plötzlich verschwand das Wasser.

Es war, als würde eine Mauer es zurückhalten und das Boot fiel erst einmal ungefähr einen halben Meter nach unten und platschte in Matsch.

Die Demigötter fielen heraus und direkt in den klatschnassen Sand des Sees. Phillis griff sofort nach ihrem Bogen, aber da war keine Gefahr und als sie zurücksah, erhob sich direkt vor ihr eine Wand aus Wasser.

„Das ist... seltsam", bemerkte Pirro verstört.

„Seltsam?", wiederholte Houdini ungläubig, „Nein, das ist unmöglich! So ziemlich alle physikalischen Gesetze sprechen dagegen!"

„Wir haben gerade gestern noch gegen Werwölfe gekämpft und du kommst mir mit Naturgesetzen?", fragte Pirro trocken. Houdini hatte darauf keine Antwort.

„Es sieht so aus, als würde etwas das Wasser teilen", erkannte Phillis.

„Wie Moses", hauchte Pirro ehrfürchtig und bekreuzigte sich. Phillis hatte keine Ahnung, wer dieser Moses war.

„Gehen wir zum Ufer", schlug Houdini vor, „Ist euch auch dieses Dorf aufgefallen? Das war zuvor noch nicht da, oder?"

„Ich habe es auch gesehen", gestand Phillis düster, „Und es ist erst mit dem Nebel aufgetaucht."

Sie schlichen in Richtung des Ufers und angespannt warteten sie nur darauf, dass etwas aus dem Nebel sprang, aber da war nichts. Sogar die Geräusche schienen wie ausgeblendet und nicht einmal ihre Schritte machten noch Geräusche – es war sehr übernatürlich und Phillis durchforstete ihre Erinnerung schon nach irgendetwas, das das alles erklären würde, aber sie kam einfach nicht darauf, was es sein könnte.

Es war, als wären sie direkt in eine andere Welt gerudert.

Plötzlich lichtete sich der Nebel etwas und gab die Sicht auf ein Dorf direkt vor ihnen frei, aber auf dem ersten Blick war schon klar, dass es kein normales Dorf war (was hatten die Demigötter auch erwartet?).

Die Häuser waren mit Algen bewachsen, als wären sie eigentlich unter Wasser und von überall tropfte es noch. Einige Teile waren eingestürzt, aber anstatt, dass es einfach weg wäre, schienen sich die Häuser neu aufgebaut zu haben, aber aus einem geisterhaften Material. Anders konnte Phillis es nicht beschreiben, denn die einst eingestürzten Wände schienen genauso auszusehen, wie die Geister in Hogwarts.

Aber damit nicht genug – es waren auch noch menschliche Geister in diesem Dorf.

Sie schwebten durch die Straßen und flossen auch durch die Wände der Häuser (egal, ob diese noch aus massivem Mauerwerk oder nur diesem Geister-Material bestanden), mit leeren Blicken und gleichgültigen Gesichtern. Keiner von ihnen blickte in ihre Richtung, was ein gutes Zeichen sein konnte, oder auch ein schlechtes – das würde sich noch zeigen.

Sie wirkten so, als hätten sie keine Verbindung zur realen Welt mehr – sie existierten nur noch als Schatten in diesem zerfallenen Dorf und sahen sich nicht einmal untereinander.

„Das sind... Geister", erkannte Phillis überrascht, „Was... was ist das hier für ein Ort?"

„Glaubt ihr, die sind gefährlich?", fragte Houdini neugierig mit seiner Wissenschaftler-Stimme, „Sie scheinen uns nicht einmal zu sehen."

„Ganz ehrlich – wann sind wir in den letzten Wochen nicht in Lebensgefahr gewesen?", fragte Phillis ihn müde.

„Irgendwie könnte es sein, dass ich die Vierte Wand durchbreche, wenn ich euch das sage, aber ist es nicht langsam zu anstrengend für den Leser, wenn wir andauernd in Lebensgefahr schweben?", fragte Pirro, „Das ist beinahe so, als würde der Autor versuchen, den Leser abzuhärten, damit sie jegliches Gefühl für Gefahr verlieren und irgendwann – BÄM! Gefahr, die wir nicht überstehen und dann – BÄM! Tod! Überraschung! Blüarg!"

„Wie hast du dieses Geräusch gerade gemacht?", fragte Houdini verstört.

„Das ist alles, worauf du dich konzentrierst, Houdini? Ich habe dir gerade gesagt, dass die Logik verlangt, dass wir bald sterben!", rief Pirro aufgebracht.

„Das ist keine Logik – du denkst nur, dass wir Teil von einer Geschichte wären", erinnerte Houdini ihn faktisch.

„Mittlerweile bin ich mir ziemlich sicher, dass wir Teil von einem Horror-Film sind", vermutete Pirro nachdenklich und sah sich um, „Immerhin... schaut euch um! Geister! Warum sind da Geister?"

„Ich glaube, das ist Cabuie Lodge", vermutete Houdini.

„Bitte was?", fragte Phillis verwirrt und Pirro machte ein amüsiertes Geräusch – diese lächerlichen Namen waren einfach zu gut.

„Cabuie Lodge – das war ein Dorf hier", erzählte Houdini, als wäre es Allgemeinwissen, „Man hat diesen See irgendwie gestaut – genau genommen hat die Conon Hydro-Electric Power Scheme den Wasserstand ziemlich erhöht und ein unterirdischer Wassertunnel führt nun zu einem Kraftwerk, das Strom erzeugt. Man hat dafür ein paar Gesteinsmassen gesprengt und die Einwohner hier in der Nähe haben das „Operation Badewannenstöpsel" genannt. Bei diesem ganzen Aufwand hat aber ein winziges Dorf dran glauben müssen – Cabuie Lodge. Man hat die Bewohner umgesiedelt und das Dorf überschwemmt."

„Woher weißt du das alles jetzt schon wieder?", fragte Pirro amüsiert.

„Reiseführer."

„Was ist das für ein magischer Reiseführer?", fragte Pirro ungläubig, „Der hat vielleicht fünfzig Seiten und auf diesen Seiten stehen alle diese Dinge über Schottland?"

„Ja."

„Wow...", staunte Pirro, „Ich brauche so einen für Amerika..."

„Ich habe aber nicht gewusst, dass Cabuie Lodge so groß gewesen ist", gestand Houdini, „Das ist ein Dorf mit vielleicht drei Häusern gewesen – so groß wie Knockban. Das hier ist... für Schottland vermutlich schon fast eine Stadt!"

Es waren tatsächlich einige Häuser – vielleicht zwanzig oder auch dreißig, sie konnten nicht alle sehen.

Die Straßen waren aufgebaut, wie in einer Mittelalterlichen Stadt und nur mit normalen Steinen gepflastert, wie man es häufig in Altstädten sah.

Die Häuser waren nicht wirklich modern, eher niedrig und erinnerten an ebenfalls wieder mittelalterliche Städte.

„Wir könnten einfach gehen", schlug Phillis ruhig vor, „Die Geister sehen nicht so aus, als würden wir sie interessieren. Gehen wir und lassen sie in Ruhe."

„Was ist, wenn sie uns angreifen?", fragte Pirro nervös, „Wie schlägt man Geister? Kann man die überhaupt besiegen? Können die einen angreifen?"

Phillis musste zugeben, dass sie nicht wirklich Antworten darauf hatte. Die Geister in Hogwarts konnten nichts und niemanden berühren (außer Peeves, der aber ein Poltergeist war und damit einer anderen Kategorie Geist angehörte (Phillis konnte nicht glauben, dass sie sich an diesen Vortrag von einem Professor für Verteidigung gegen die Dunklen Künste nicht vergessen hatte!)), aber die hatten auch noch nie versucht, jemanden gewalttätig anzugreifen. Vielleicht konnten sie Lebende schon verletzen, wenn sie das wirklich wollten – Phillis wusste nur, dass eine Berührung unangenehm war.

„Sie sollten uns nichts tun können", vermutete Phillis, „aber notfalls müssen wir Himmlische Bronze und auch Silber versuchen – Sterbliche haben andere Geschichten, in denen Silber meistens hilft, aber meistens sind diese Legenden Schrott. Sicher ist aber sicher."

„Am besten, wir stören sie nicht, dann lassen sie uns hoffentlich auch in Ruhe", schlug Houdini vor.

Sie gingen durch das geisterhafte, absolut stille Dorf und wichen Geistern aus, die drohten, in sie hinein zu rennen, aber diese schienen sie gar nicht zu sehen. Eigentlich sahen sie wohl nichts und niemanden – nicht einmal andere Geister. Sie schwebten einfach nur vor sich hin – irgendwie war es ein trauriger Anblick.

Die Geister, denen Phillis bisher begegnet war, waren irgendwie ganz anders gewesen.

Ja, man hatte ihnen angesehen, dass sie Geister waren und meistens hatte man auch die Todesursache ausmachen können (wie bei Nick und seinem beinahe abgeschlagenen Kopf), aber trotzdem hatten sie immer so gewirkt, als wären sie noch... Menschen.

Phillis erinnerte sich an Ruth, wie sie ihr ein letztes Mal als Geist erschienen war.

Die schrecklichen Wunden, die sie von den Werwölfen davongetragen hatte und ihr zerfetzter Lieblingsmantel... Selbst sie hatte noch irgendwie lebendig gewirkt, als sie Phillis angelächelt und mit ihr gesprochen hatte, als wäre sie noch lebendig.

Aber diese Geister wirkten wie Tote vom Asphodeliengrund und vielleicht war dieses Geisterdorf auch genau das: Mit Geistern aus dem Grund, die schon aus dem Fluss Lethe getrunken hatten und nun nicht mehr wussten, wer sie gewesen oder wo sie waren. Verdammt zu einem ewigen Leben in Vergessenheit und Langeweile.

Sie gingen einige Zeit lang und Phillis fiel auf, dass das Dorf wohl noch größer war, als sie gedacht hatten. Die Häuser schienen sich in die Ewigkeit weiter zu ziehen, wie eine große Stadt und Phillis fragte sich, wie eine so große Stadt hatte übersehen werden können.

Dann aber dämmerte ihr langsam, dass das keine große Stadt war...

„Wartet", hielt sie Houdini und Pirro zurück, „Kommt das nur mir so vor, oder sind wir an diesem Haus schon fünfmal vorbei gegangen?"

Es war ein besonders auffälliges Haus, nachdem die gesamte vordere Hälfte mit einer Geisterwand ersetzt worden war – kein anderes Gebäude war so auffällig zerstört.

Houdini runzelte die Stirn und nickte langsam. „Jetzt, wo du das sagst... ja..."

„Gehen wir im Kreis?", fragte Pirro nervös und sah sich um, als würden die Geister nach dieser Erkenntnis sich doch auf sie stürzen.

„Das fürchte ich, ja", hauchte Phillis nun doch ein wenig verängstigt, „Habt ihr irgendwelche Ideen?"

„Ich habe keine Ahnung, wie man Geister loswird", gestand Houdini und schluckte nervös, „Aber... vielleicht, wenn wir sie irgendwie vertreiben, geht dieser... Fluch mit ihnen?" Houdini klang beunruhigend unsicher.

Ein Fluch... das schien ein Fachgebiet von einer Hexe zu sein, aber Phillis war eine grauenvolle Hexe und hatte keine Ahnung, wie sie mit solchen Flüchen umgehen sollte. Sie wusste nicht, was für ein Fluch das sein könnte, ob das überhaupt ein Fluch war, ob man ihn brechen konnte (oder sie für immer in diesem geisterhaften Dorf gefangen waren) oder was man brauchen würde, wenn man ihn brechen will.

Wahrscheinlich brauchte sie einen Zauberstab – das war wieder einmal typisch...

„Wenn wir einfach um den See herum gegangen wären, wäre das nicht passiert!", bemerkte Houdini etwas zickig.

„Oh, auf einmal wäre das unsere schuld?", blaffte Pirro zurück, „Wer will denn nie, dass wir Autos stehlen oder einfach den Bus nehmen? Deine dämlichen Zwänge haben uns bisher die meistens Probleme geschaffen!"

„Ich habe euch ja nie gezwungen, auf mich zu hören!"

„Aber wir sind deine Freunde! Natürlich wollen wir nicht, dass du dich dauerhaft unwohl fühlst!"

„Ich habe euch auch nie dazu gezwungen, meine Freunde zu werden! Ich bin mir ziemlich sicher, ich wollte euch sogar aktiv davon abhalten!"

„Ich habe eine ganze Liste mit Komplexen, natürlich suche ich mir das Arschloch als Freund aus!"

„Oh, ich bin also ein Arschloch?"

„Ja!"

Phillis kümmerte sich nicht um Pirro und Houdini – sie musste nachdenken.

Verzweifelt versuchte sie sich an den Unterricht in Hogwarts zu erinnern, aber sie war wirklich Schrott in der Schule und sich etwas zu merken war noch nie ihre Stärke gewesen.

Der einzige Grund, warum sie überhaupt noch wusste, dass sie jemals etwas über Geister gelernt hatte, war Remus – er hatte dieses Thema wirklich lange mit ihr durchgekaut, als sie für die ZAGs gelernt hatten.

Sie konnte sich trotzdem nicht an viel erinnern, aber sie wusste noch, dass Remus ihr gesagt hatte, dass Geister keine sonderlich großen Fans von magischem Licht waren und sie erinnerte sich noch daran, wie sie zusammen aus dem Turm geschlichen waren, auf der Suche nach Peeves und Remus hatte ihr gezeigt, wie man ihn in kompletter Dunkelheit mit einem einfachen Lumos verscheuchen konnte. Es war wirklich witzig gewesen, wie sehr Peeves sich vor diesem magischen Licht erschrocken hatte und sofort abgehauen war, obwohl es wortwörtlich nur Licht gewesen war.

Aber viel brachte ihr dieses Wissen nicht, wenn sie nicht einmal einen Zauberstab hatte, um besagtes magisches Licht zu erzeugen und diese Theorie auszuprobieren.

Wenigstens wusste sie auch noch, dass man Magie beherrschen musste, um ein Geist zu werden – man brauchte sozusagen magische Energie.

Nun wusste Phillis, dass Hexen und Zauberer nicht so direkt durch den Nebel sehen konnten, wie Demigötter und Demigötter wurden von einfachen Muggel-Abwehrzaubern ebenfalls etwas abgewehrt, wobei Phillis sich da noch nicht so sicher war, ob man als Demigott diese Barriere nicht einfach durchbrechen konnte, wenn man sich bemühte, wie auch beim Nebel.

Sie wusste nur, dass Houdini das Dunkle Mal in Perth nicht mehr gesehen hatte, als die Auroren einen Muggel-Abwehr-Zauber darauf gelegt hatten, damit Muggel es nicht mehr sahen.

Trotzdem konnte Phillis vermutlich davon ausgehen, dass das hier vielleicht einmal ein Zaubererdorf gewesen war – das würde auch erklären, warum Houdini nichts von dieser Größe gewusst hatte, denn selbst, wenn es in einer Schleife gefangen war und man irgendwie wohl immer wieder an den Anfang zurückteleportiert wurde, wenn man das Dorf verlassen wollte, so standen da bestimmt mehr als drei verschiedene Häuser (wie Houdini Cabuie Lodge beschrieben hatte). Es könnte eine Zauberersiedlung gewesen sein, die zusammen mit dem Muggel-Cabuie Lodge zerstört wurde.

Wenn das der Fall war, gab es vielleicht auch einen Zauberer-Friedhof und wenn das der Fall war, dann erinnerte Phillis sich daran, dass manche traditionelle Zauberer gerne mit ihren Zauberstäben begraben wurden und das noch bis heute Tradition war.

Es könnte also sein, dass irgendwo in diesem Dorf ein Friedhof war, auf dem sie eventuell einen Zauberstab finden könnte.

Der Plan war sehr weit hergeholt und absolut wahnsinnig – allein durch die Tatsache, dass Phillis sich vorgenommen hatte, lieber hier zu sterben, als Pirro und Houdini zu verraten, dass sie eine Hexe war.

Sie musste also alleine sein, wenn sie ihren Plan ausführte und dafür musste sie sich erst einmal wegschleichen.

Dieses Problem stellte sich schnell als nichtig heraus – Houdini und Pirro waren so sehr in ihrem Streit vertieft, dass Phillis genauso gut hätte auf der Stelle sterben können und den beiden wäre es nicht aufgefallen.

Phillis entfernte sich also heimlich von ihnen und hoffte, sie würden sich nicht zu schnell Sorgen um sie machen, aber ihr würde schon eine Ausrede einfallen.

Sobald sie außer Sichtweite war, rannte Phillis los und suchte fieberhaft nach etwas, das wie ein alter Zauberer-Friedhof aussah. Im besten Fall stand ganz groß (in Altgriechisch) auf einem wirklich riesigen Neon-Schild: FRIEDHOF! Im schlimmsten Fall gab es überhaupt keinen Friedhof.

Phillis achtete auch darauf, dass sie die Grenzen der Schleife nicht übertrat und wieder an den Anfang kam, aber gleichzeitig suchte sie nach Hinweisen auf einen Ort, an dem man zufällig seine toten in die Erde buddelte und Phillis hatte offenbar schon wieder panische Gedanken...

Plötzlich blieb sie stehen, noch bevor sie verarbeitet hatte, warum sie überhaupt stehenblieb, aber dann erkannte sie es: Dort war ein Gitterzaun.

Er sah alt aus und ziemlich gothic™ und außerdem schrie alles daran irgendwie nach Friedhof und nachdem Phillis sowieso keine besseren Ideen hatte, lief sie dorthin.

Sie fand ein Tor, das aber vollkommen zugerostet war, also sprang sie über den Zaun und tatsächlich – vor ihr lag eine weite Fläche mit Gräbern. Alle Grabsteine waren nur geisterhafte Abbildungen der Vergangenheit, aber das war vermutlich gar nicht so schlecht. So konnte Phillis die Inschriften noch immer „lesen" (natürlich tat sie sich besonders schwer, denn solche negativ-Schriften eingemeißelt in durchsichtiges Material waren natürlich die Höhe der Unlesbarkeit) und die Steine waren nicht, wie die Reste der Häuser, von Algen bedeckt.

„Okay... das Grab von einem Zauberer", murmelte Phillis vor sich hin, „Wie erkenne ich das?"

Es war ja noch immer möglich, dass sie sich vollkommen geirrt hatte und die Regeln für Geister nur für Geister der Zaubererwelt zutrafen, aber sie musste es versuchen.

Sie untersuchte die Grabsteine und fand einen, der von der Form her einem keltischen Knoten erinnerte mit kunstvollen Verzierungen und nachdem sie lange davor gestanden hatte und die Inschrift las, konnte sie diese endlich entziffern:


Annette Bricks

1717-1843 


Das war es! Diese Frau hatte länger als hundert Jahre gelebt und Phillis wusste zufällig, dass Muggel nicht dazu neigten, so alt zu werden. Zudem war es wohl auch ein eher altes Grab, das bestimmt interessant für Muggel gewesen wäre, aber normal für Zauberer (die eben eher das alte bewahrten und dieses deswegen nicht so selten war).

„Tut mir leid, Annie", wisperte Phillis und grub sie aus.

Sie wusste nicht genau, was sie erwartet hatte, aber sie buddelte erst einmal etwas nach unten und wünschte sich wieder und wieder, sie hätte doch einen Zauberstab, dann könnte sie das magisch erledigen (oder auch eine Schaufel, dann würde sie vermutlich besser vorankommen), als sie auf etwas stieß.

Nicht so weit unter der Erde, wie sie erwartet hatte (vielleicht ein Meter) fand sie einen Brustkorb. Nur noch die Knochen waren übriggeblieben und selbst der Sarg schon lange verrottet. Das Skelett war nur in ein paar Reste der Kleidung eingewickelt und dort – Phillis konnte kaum fassen, dass sie ausnahmsweise einmal Glück hatte – war tatsächlich ein Zauberstab.

Sie holte ihn mit ihren dreckigen, blutigen Fingern zwischen den Rippen hervor und entschuldigte sich und betete leise vor sich hin. Sie schändete gerade ein Grab, was an sich schon ein No-Go war, aber sie versprach sich, den Zauberstab zurück zu bringen.

Der Zauberstab fühlte sich seltsam fremd in ihrer Hand an und sie fragte sich, ob das daran lag, dass sie es grundsätzlich nicht mehr gewohnt war, einen Zauberstab zu halten oder ob das einfach nur der fremde Zauberstab war. Jedenfalls musste er reichen und es musste funktionieren, sonst wusste selbst Phillis nicht mehr weiter.

Ihre Hände waren aufgeschürft und wund, aber sie schaffte es trotzdem, wieder über den Zaun zurück in das Dorf zu klettern und ihre Hand zitterte ein wenig, als sie aufgeregt den Zauberstab in der Hand hielt.

Sie räusperte sich und sagte dann klar und mit fester Stimme: „Lumos Maxima!"

Sie hatte nicht erwartet, dass es sofort funktionieren würde, obwohl Lumos ein wirklich einfacher Zauber war, aber sofort erhellte sich die Spitze des Zauberstabs und ein greller Lichtschein breitete sich aus und tatsächlich – alles Geisterhafte, das das Licht berührte, verschwand. Die Geister, die auf den Straßen irrten, die Häuserteile, die Zäune und alles andere – es verschwand einfach und sobald es einmal angefangen hatte, breitete es sich wie eine Krankheit aus. Es brauchte nun kein Licht mehr, um die Geisterstadt verschwinden zu lassen – sobald es einmal angefangen hatte, wurde ein Domino-Effekt ausgelöst und Phillis erkannte, dass sie den Zauberstab wohl lieber früher zurückbrachte, bevor sie das Grab nicht mehr fand.

Sie kletterte über den Zaun zurück auf den Friedhof, als sie bemerkte, dass der Wasserpegel wieder stieg – offenbar kam der magisch zurückgedrängte See zurück.

Noch ein Grund, sich zu beeilen, bevor sie klatschnass wurde.

Die Grabsteine verschwanden schon, aber Phillis fand Annette Bricks Grab durch das Loch, das sie hinterlassen hatte und sie legte den Zauberstab behutsam zurück, gerade noch so, bevor das Wasser Schlamm darüber spülte. Sie bedankte sich und hoffte, dass kein Gott und auch kein Geist sie heimsuchen würde, aber es war notwendig gewesen und sie war immer bedacht darauf, respektvoll zu sein.

Als sie zurück über den Zaun eilte, landete sie auf der anderen Seite knöcheltief in Wasser und sie beeilte sich, ans Ufer zu rennen.

Der Nebel löste sich zusammen mit der Stadt auf und das Wasser kam immer schneller zurück, aber Phillis schaffte es auf Festland, bevor das Wasser von oben in ihre Wanderschuhe laufen konnte.

„Phillis!" Pirro rief nach ihr und Phillis folgte dem Geräusch.

Houdini und Pirro standen schon am Ufer und blickten auf den See hinaus, der nun sein Land wieder zurückgeholt hatte und von der Geisterstadt war nichts mehr zu sehen. Sie riefen immer wieder nach Phillis und klangen besorgt.

„Hey!", rief Phillis zurück und die beiden drehten sich zu ihr. Phillis winkte ihnen und sah dabei zu, wie sie die letzten Meter zu ihr rannten.

„Phillis!", rief Pirro, klang nun aber streng, „Wo bist du gewesen? Wir haben uns Sorgen um dich gemacht!"

„Was ist mit deinen Händen passiert?", fragte Houdini verwirrt mit einem Blick auf Phillis' blutigen und verdreckten Hände.

„Äh... ich...", stammelte sie und runzelte die Stirn. Sie hatte ganz vergessen, sich eine Ausrede einfallen zu lassen.

„Sag bloß, du bist von einem Geist besessen worden!", hauchte Pirro ehrfürchtig, „Das ist ja ziemlich krass!"

„Du bist besessen gewesen?", fragte Houdini verwirrt.

„Ich... weiß nicht", log Phillis, „Möglich?"

Houdini musterte sie noch einen Moment lang, nahm dann die Lüge wohl an.

„Okay, gut – wisst ihr, warum die Geister verschwunden sind?"

„Vielleicht sind sie immer nur zu bestimmten Zeiten da und wir haben gerade Pech gehabt", schlug Phillis vor, „Warum sonst sollten sie plötzlich verschwinden?"

„Klingt plausibel – ich sollte wohl mehr über Geister lernen, wenn wir im Camp zurück sind", nahm Houdini sich vor, „aber jetzt sollten wir weiter – wir müssen den See doch umrunden, um zum Berg zu kommen."

Pirro stöhnte genervt auf, aber ihnen blieb wohl nichts anderes übrig.

Phillis war einfach nur froh, dass Houdini und Pirro ihr Verschwinden nicht lange hinterfragt hatten, denn mit einem Verräter auf freiem Fuß wollte Phillis nicht, dass irgendjemand herausfand, dass sie eine Hexe war – besonders nicht, wenn Houdini so verdächtig erschien.

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