50%
Als es doch irgendwann lange nach Mitternacht Zeit wurde, ins Bett zu gehen, legten Laertes, Birget, Ruth und Phillis sich zusammen auf das Matratzenlager, das Sara für sie vorbereitet hatte.
Natürlich hatte Phillis eigentlich ein Bett, aber sie bevorzugte es, bei ihren Freunden auf dem Boden zu schlafen, solange sie noch da waren und nachdem Sara alles getan hatte, um es den Gästen so bequem wie möglich einzurichten, war es wirklich erträglich.
Phillis lag zwischen Ruth und Laertes und Birget war auf Ruths anderer Seite. Birget schnarchte immer und Phillis war das schon ein bisschen gewohnt, nachdem ein anderes Mädchen in ihrem Schlafsaal auch im Winter immer schnarchte, wenn sie verschnupft war (obwohl Birget nicht mehr einfach nur schnarchte, sondern schon beinahe die Wände zitterten und es wie ein Erdbeben klang) und Laertes war es schon gewohnt, nachdem sie schon etwas länger zusammen unterwegs waren.
Schon seit Wochen. Sie hatten den Auftrag schon vor Wochen begonnen und er hatte sie irgendwie nach Irland geführt und zu Phillis und sie würden noch weiterziehen müssen, aber im Moment genossen sie die paar Tage noch zusammen.
Laertes atmete ebenfalls schon schwer und schlief ruhig – jedenfalls so ruhig, wie man es wohl als Demigott konnte, denn er murmelte leise vor sich hin und träumte wohl.
Phillis schlief noch nicht, sondern starrte nur auf die Zimmerdecke und nahm die Geräusche der Nacht in sich auf. Sie konnte irgendwie nicht schlafen, obwohl sie müde war – ein Normalzustand. Ihre Gedanken waren zu laut, um zu schlafen. Selbst Birgets Schnarchen war nur ein Flüstern im Gegensatz zu der vollen Wucht ihrer Gedanken und dem Lärm in ihrem Kopf. Wie sollte Phillis da schlafen?
Der einzige Trost war, dass es Ruth wohl ähnlich ging, denn auch sie atmete nicht so, wie sie es tat, wenn sie schlief (nach all den Jahren, in denen Phillis Nächte mit ihrer Schwester in derselben Hütte verbracht hatte, kannte sie ihr Atemmuster, wenn sie schlief).
Auch Ruth lag auf dem Rücken auf der Ansammlung von Kissen, Decken und Matratzen und starrte nach oben und die Schwestern wussten genau, dass die jeweils andere noch wach war, aber keiner von beiden wusste, ob sie riskieren konnten, die Stille zu durchbrechen, ohne die anderen beiden zu wecken.
Schließlich gab Ruth auf. Ruth war noch nie sonderlich geduldig mit Stille gewesen und selbst eine angenehme Stille artete für sie schnell in einen Höllenlärm aus, wenn sie in ihren Gedanken ertrank.
„Das erinnert mich irgendwie an den Sommer, in den wir zu fünfzehnt in der Hütte gewesen sind", wisperte Ruth leise in die Dunkelheit, „Vor zwei Jahren, oder nicht?"
„Hm... ja, dürfte hinkommen", stimmte Phillis leise zu – sie hatte kein Zeitgefühl und wusste nicht mehr, wann genau es gewesen war. Sie wusste nur, dass es nicht diesen Sommer gewesen war.
"Normalerweise reichen die zwölf Betten in jeder Hütte –", murmelte Ruth, aber Phillis unterbrach sie leise.
„Außer in der Hermes-Hütte."
„Außer in der Hermes-Hütte", stimmte Ruth ihr nickend zu, obwohl man das in der Dunkelheit nicht sehen konnte, aber Phillis hörte neben sich das Knacken der Kissen, „Ich habe nicht fassen können, dass unser Dad wirklich fünfzehn Kinder gleichzeitig im Camp gehabt hat..."
„Ein fleißiger Jahrgang", murmelte Phillis leise, „Und da waren noch die Zwillinge..." Phillis verstummte lieber. Der Gedanke an die Zwillinge war nicht wirklich ein schöner, immerhin hatten sie erst dieses Jahr ihre Leichentücher verbrannt, nachdem sie einer Explosion in ihrem zu Hause zum Opfer gefallen waren. Sie waren den Sommer nicht mehr ins Camp gekommen. Mit dreizehn Jahren eigentlich noch zu jung, um zu sterben, aber Phillis hatte schon jüngere Geschwister verloren.
Ruth schien ebenfalls zu beschließen, nicht weiter auf das Thema einzugehen. „Wir haben uns ein Bett geteilt. Ich habe es gehasst."
„Ich auch", gestand Phillis, „Ich brauche meinen Platz."
„Und du redest im Schlaf", grinste Ruth, „Ich hab dich trotzdem lieb."
„Wow... danke", murmelte Phillis humorlos. Ruth kicherte leise, aber es klang erstickt, als würde sie sich zusammenreißen, um nicht laut aufzulachen. Phillis hätte lieber ihr lautes Lachen gehört – es klang immer so ehrlich und aufheiternd.
Kurz wurde es still, aber es war eine Stille, die die beiden Schwestern in der Dunkelheit zu ersticken drohte, als ihre Gedanken in finstere Gegenden wanderten.
„Dieses Jahr sind es weniger gewesen", sprach Phillis schließlich das aus, was sich beide gedacht hatten, „Wie sind nur zu siebt gewesen..."
„Sieben", schnaubte Ruth, „Apollos heilige Zahl – als hätte er so viele Kinder sterben lassen, bis die Zahl wieder perfekt gewesen ist."
Phillis konnte nicht darauf antworten. Sie kannten so einen Hass gegen die Götter von sich selbst.
Man musste nur ein paar Monate von der Existenz der antiken Götter wissen, um zu wissen, dass es für alle besser wäre, wenn sie alle zusammen nie existiert hätten oder mit der Antike gestorben wären. Wie sonst sollte man mit dem Gedanken leben, dass es übermächtige Wesen gab, die über alles achten sollten, aber lieber Kinder zeugten, die regelmäßig qualvoll starben? Demigötter wurden selten erwachsen. Sechzehn war das Rentneralter für Halbblute, jedes Jahr, das man danach noch überlebte, war wie ein weiteres Jahr für einen alten, kranken Mann, der dem Tod immer nur einen Schritt voraus war. Natürlich war es möglich, davor schon zu sterben. Natürlich konnte es auch sein, dass man erwachsen wurde und ein halbwegs normales Leben führen konnte, so wie Phillis' ältester lebender Bruder Marty, der als Arzt in New York arbeitete und noch immer im Camp aushalf und natürlich Laertes, der mit ihm zusammen lebte und nur zum Arbeiten und Trainieren ins Camp kam.
Ruth zählte nicht, denn Ruth war eigentlich keine Kriegerin. Sie verließ das Camp eigentlich nur, wenn in der Nähe ein Konzert stattfand. Seit sie ein Kind gewesen war, hatte sie die Welt außerhalb des Camps kaum gesehen, aber es gefiel ihr so.
„Warum hast du den Auftrag angenommen?", fragte Phillis ihre große Schwester also leise, „Du findest Aufträge dämlich und hasst es, um dein Überleben zu kämpfen."
Kurz antwortete Ruth nicht und Phillis befürchtete schon, sie würde so tun, als würde sie schlafen, aber offenbar hatte sie sich ihre Antwort nur genau überlegt.
„Dad ist mir persönlich in meinen Träumen erschienen. Ist das nicht Grund genug? Ein Gott erscheint mir in den Träumen!", erklärte Ruth und Phillis drehte den Kopf, um Ruth unbeeindruckt anzusehen, als sie diese Lüge sofort durchschaute. Ruth konnte zwar nicht ihr Gesicht erkennen, aber bestimmt spürte sie ihren Blick auf sich selbst.
Phillis wusste, dass Ruth log. Ruth gehörte dem Demigott-Club der „Kinder-die-ihre-Eltern-zwar-hassen-aber-immerhin-haben-sie-andere-Demigötter-auch-noch-gezeugt-und-mir-so-eine-Familie-geschenkt" an, also hielt sie nicht so viel von Göttern und ihren erbärmlichen Problemen, sondern wollte nur ihre Geschwister und die anderen Demigötter beschützen. Ein Gott, der im Traum erschien, war also kein Wunder, sondern eher nervtötend und mit Hass verbunden.
Ruth seufzte, als sie erkannte, dass Phillis sie sofort durchschaut hatte.
„Okay...", murmelte sie geschlagen, „Dad hat mir gesagt, dass es eines seiner Kinder sein muss und ich wollte nicht, dass diese Bürde jemand anderem auferlegt wird. Aber keine Sorge – es besteht eine 50%-ige Chance, dass ich überlebe."
„Bitte?", zischte Phillis etwas zu laut und Laertes bewegte sich, schlief aber weiter.
Ruth wartete, bis sie sicher war, dass Laertes und Birget noch schliefen, bevor sie genauer erläuterte: „Ich habe als Kind eine Prophezeiung erhalten, als ich von zu Hause weggelaufen bin. Eine blinde Frau ist zu mir gekommen und hat mir gesagt, dass es in einer Prophezeiung vorherbestimmt gewesen ist, genau an diesem Tag das Haus für immer zu verlassen, aber sie hat mich gewarnt, dass die Prophezeiung besagt, dass das Schicksal jedes Mal eine Münze wirft, wenn ich eine Prophezeiung erfüllen will und so wird entschieden, ob ich überlebe oder nicht."
„Das ist dämlich!", zischte Phillis, „Warum? Warum sollten sie dir das antun?"
„Warum passiert überhaupt irgendetwas?", schnaubte Ruth hasserfüllt und bestimmt frustriert von der Vorstellung, dass eine Münze geworfen worden war, die darüber entschieden hatte, ob sie leben oder sterben würde, „Das Leben ist eben scheiße und wir können nichts dagegen tun. Ich kann aber kontrollieren, ob ihr euch mit diesen Problemen herumschlagen müsst und ich habe beschlossen, dass es Zeit ist, meinem Schicksal in die Augen zu sehen!"
„Indem du dein Leben riskierst?", zischte Phillis möglichst leise, damit sie niemanden weckte, aber sie war mittlerweile so aufgebracht, dass es immer schwieriger wurde, „Eine fifty-fify Chance ist nicht wirklich gut!"
„Es hätte schlimmer sein können", winkte Ruth ab, „Außerdem riskiert jeder von uns tagtäglich sein Leben. Wir sind Demigötter, Phil. Ich lebe schon viel länger, als der Durchschnitt und ich habe auch viel mehr Erfahrung, als ihr alle. Ich bin schon am längsten im Geschäft, also ist es meine Pflicht als Hüttenälteste, das Risiko einzugehen, damit ihr nicht einmal in die Nähe von Gefahr kommt. Ich habe schon so oft als große Schwester versagt, Phil... bitte rede mir jetzt nicht ein, dass ich schon wieder versage, während ich einfach nur versuche, das richtige zu tun..."
Es war so verdammt schwierig, in diesem Moment eine gute kleine Schwester zu sein.
Eigentlich wollte Phillis Ruth dafür anschreien, dass sie diese Bürde auf sich genommen hatte, obwohl eine ziemlich hohe Wahrscheinlichkeit bestand, dass sie den Auftrag nicht überlebte, aber gleichzeitig hatte sie Recht.
Es war immer unwahrscheinlich, dass ein Demigott einen so großen Auftrag erfolgreich ausführte und überlebte. Bisher hatte noch niemand eine Statistik angelegt, aber Phillis war sich sicher, sie wäre sehr deprimierend und einschüchternd. Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit bei jedem einzelnen Auftrag, dass einer der drei Demigötter starb? Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, dass Birget oder Laertes starben, immerhin waren sie beide erwachsen. War es weniger als fünfzig Prozent? Wahrscheinlich nicht.
Glück, Können und Verstand waren die Komponenten, die darüber entschieden, ob ein Demigott leben durfte oder nicht, aber selbst dann konnte ein einziges Monster schon alles zunichte machen.
Irgendwann traf jeder Demigott das Monster, das er nicht besiegen konnte.
Irgendwann traf es jeden Halbgott – ob als kleines Kind, als Jugendlicher oder erst als Erwachsener. Früher oder später holten einen die Monster ein und man schaffte es nicht mehr, sich gegen das Schicksal zu wehren, denn Demigötter waren geboren um qualvoll im Kampf zu fallen.
Also schluckte Phillis all den Hass hinunter, den sie verspürte (vielleicht nicht direkt gegen Ruth, sondern gegen das Schicksal oder die Götter oder sonst irgendjemanden, der diese Welt so verdammt ungerecht machte) und versuchte wenigstens, aufmunternd zu klingen. "Ich bin froh, dass du hier bist, Ruth", gestand sie leise, „Ich hoffe, du kommst in der Zukunft häufiger zu Weihnachten, dann können wir immer zusammen feiern."
Phillis sah Ruths Lächeln im Dunkeln nicht, aber sie hörte es in ihrer Stimme. „Ja, das wäre schön."
Es wurde leise und obwohl sie nicht mehr miteinander sprachen, schliefen Ruth und Phillis noch lange nicht mehr ein.
Sie lagen einfach nebeneinander und irgendwann griff Phillis nach Ruths Hand und drückte sie und erst dann konnten sie ihre Gedanken ordnen und einschlafen.
Mir ihrer großen Schwester neben sich konnte Phillis absolut nichts in der Dunkelheit passieren. Sie war unsterblich, unangreifbar, unverletzlich und unbesiegbar. Mit Ruth bei sich konnte Phillis absolut nichts passieren, aber ihre Träume wurden heimgesucht von Vorstellungen, was wäre, wenn Ruth wirklich sterben würde und diese Gedanken konnte nicht einmal Ruths große Hand mit den vertrauten Hornhäuten an den Fingern (vom Gitarrespielen) vertreiben.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top