Kapitel 36

Sicht Ben

Mit zitternden Fingern, rasendem Herz und Beinen, die scheinbar vergessen hatten, was es bedeutet einen Menschen zu tragen, stolpere ich den letzten Schritt nach draußen auf meinen kleinen Balkon. Er ist kaum mehr Platz, als für zwei Personen hier draußen, aber gerade Morgens hat man hier einen tollen Blick auf die aufgehende Sonne... Der Gedanke, wie sie sich Morgens an den Erfurter Häusern vorbei kämpft und schließlich langsam über den, mir gegenüberliegenden, anfängt auf mich herunter zu strahlen, beruhigt mich ein paar Sekunden ein wenig. Es ist schon was wahres dran - Die Natur hat was beruhigendes, etwas entspannendes, wenn es mir gerade auch nur für ein paar Sekunden hilft.

Mein Blick schweift Hilfe suchend, die Straße entlang, mit dem unrealistischen Wunsch irgendwas, irgendwer hier kann mir helfen, meine Gefühle wieder unter Kontrolle zu kriegen, als mein vibrierendes Handy mich wieder auf das Aufmerksam macht, was ich hier eigentlich machen wollte. Julia. Vielleicht hat sie eine Idee, wie ich Leyla in möglichst wenig Worten, möglichst viel erzählen kann. Doch auch, um mit meiner besten Freundin richtig sprechen zu können, muss ich irgendwie, zumindest ein wenig ruhiger werden. Verzweifelt probiere ich mich, von den Erinnerungen an meine Eltern, die wie in Dauerschleife in meinem Kopf immer und immer wieder ablaufen, wegzukommen und mich wieder auf das was um mich herum passiert zu konzentrieren. Die Tatsache, dass mir irgendwer geschrieben hat, der sehr sicher weder "Mutter" noch "Vater" eingespeichert ist, macht es mir trotzdem nicht einfacher. Was wäre wenn sie sich auf einmal wieder melden würden? Das letzte Mal, dass ich aktiv mit ihnen gesprochen habe, war an dem Tag, an denen ich ihnen zum einen erklärt habe, dass ich für meine weitere Ausbildung, für die Zeit nach dem Studium nach Erfurt gehen werde und ich ihnen, nach dem ich mir etliche Vorwürfe und Vorträge, enttäuschte Worte und Gesichter "anhören" musste, auch gesagt hatte, dass sie mich doch einfach meinen Weg gehen lassen sollen, dass sie hier doch sowieso ihr Ding abziehen und ihnen der Rest vollkommen egal sei - Dass ich einfach mein Leben leben möchte und dafür getrost auf ihre Unterstützung verzichten würde. Mein Vater hatte schon angefangen, mir zu erklären, dass man so nicht mit seinen Eltern, redet, dass ich gefälligst etwas Respekt haben sollte und so weiter und so weiter. Ich hätte damals am liebsten Gelacht. Als Dankschön für die "wunderschöne" Kindheit, die "viele" Zeit mit ihnen... Ich war damals irgendwann so wütend und deprimiert, dass ich ihn gefragt habe, ob das jetzt sein Ernst sei. Woraufhin ich um ein Haar noch eine saftige Ohrfeige geerntet hätte. Meine Eltern hatten mich nie wirklich geschlagen. Die ein oder andere Ohrfeigen, habe ich für freche Antworten hin und wieder Mal kassieren müssen, aber die waren es wenn auch jedes Mal wert. Umso älter ich wurde, umso weniger habe ich mir gefallen lassen und an dem Tag war ich gerade fertig mit dem Studium. Schon lange Erwachsen und fest entschlossen zwischen meine Eltern und mich, einen fetten schwarzen Strich zu ziehen.

Ich habe das Handgelenk meines Vaters damals festgehalten und schließlich einfach vor mir wieder fallen lassen. Mit einem letzten und in dem Moment ziemlich scharfen "Tschüß!" habe ich ihnen dann, den Rücken gekehrt und bis auf ein paar einzelne Postkarten zu Weihnachten und kurzen Anrufen zu Geburtstagen, ist seither Ruhe... Auch an diesem Tag, war Julia im richtigen Moment da... Sie hat draußen auf mich gewartet, mich erstmal in den Arm genommen und dann sind wir zusammen nach Erfurt gefahren.

Ich atme nochmal tief durch, bevor ich mein Handy entsperre und langsam ihren Kontakt öffne - Leyla wartet drinnen auf mich, ich kann damit nicht ewig warten. Wie lange ich nicht mehr an diesen Tag gedacht habe... Einer meiner immer noch zitternder Finger wandert langsam auf das kleine Anrufsymbol zu, bis er den Display meines Handys streift. Erst nach einem zweiten, einem sichereren Versuch, wird meine beste Freundin endlich angerufen. Mein Herz fängt, unter dem Klingeln das regelmäßig aus meinem Handy an mein Ohr dringt, erneut an schneller Blut durch meinen Körper zu jagen und auch innerlich werde ich wieder unruhiger. So sehr ich bis eben auch noch das Anrufen Julias hinaus gezögert habe, so sehr hoffe ich jetzt, dass sie ans Telefon geht.

„Heyy, Ben. Was gibt es denn? Alles okay?" Die Stimme meiner besten Freundin lässt mich erleichtert aufatmen. „Ja... Also... Ich weiß auch nicht..." Verzweifelt fahre ich mir mit der Hand, die gerade nicht mein Handy festhält durch die Haare. Ist alles okay? Ja zu sagen, wäre gelogen, aber nein? Wenn man ein "nein" als Antwort auf solch eine Frage hält, malt man sich automatisch schon, die schlimmsten Ereignisse aus und so schlimm, dass Julia das machen soll, ist es auf keinen Fall.

Während ich erneut anfange, die Straße herunter zu sehen, höre ich wie sie am anderen Ende der Leitung leise stöhnt. „Ben, was heißt das?" Meine beste Freundin hat es noch nie gemocht, wenn ich ihr so unklare Antworten gebe. Sie hat es nie - Sie wird es nie und da mir, aus Erfahrung, sehr klar ist, dass es nichts bringt, wenn ich jetzt anfangen würde, ihr irgendwelche Dinge, wie Julia immer so schön sagt "um den heißen Brei" rede, erkläre ich leise: „Dass Leyla mich gefragt hat, was ich damals verstanden habe, was mir damals klar geworden ist und das ich einfach nicht weiß, was ich ihr sagen soll." Julia seufzt, in ihren nächsten Satz herein. „Du weißt nicht was du sagen sollst oder du willst es nicht aussprechen?" Ich bleibe stumm, mir selbst unsicher, was davon wahrer ist. Ich weiß, was mir vor all den Jahren so zu schaffen gemacht hat, aber in diesem Punkt hat Julia schon recht. So richtig ausgesprochen habe ich es erst 1x... 1x und dann nicht wieder. Über Ecken und Kurven darüber geredet... Mit der Person vor der ich es ausgesprochen habe... Und auch das ist jetzt schon eine Weile her. Ich hatte alle diese Gedanken und Gefühle in eine gut verschlossene Truhe gepackt und gelernt, sie irgendwie mit mir mitzunehmen, heute ist ein Teil davon einfach rausgesprungen. Erinnerungen, Gedanken, Gefühle, Sätze, die gewechselt wurden, sie waren nicht ohne Grund so gut eingesperrt...

„Ben?" Ich seufze leise. „Ich..." Als mein begonnener Satz erneut im nichts hängen bleibt, ergfreit Julia erneut das Wort. „Okay, Ben - Ich weiß, dass das nicht einfach ist. Ich weiß es wirklich! Ich habe Niklas "nur" erzählen müssen, wie wir uns kennengelernt haben. Und erstmal musst du Leyla nichts sagen, womit du dich unwohl fühlen würdest, auch wenn du sie nicht jedes Mal vertrösten kannst. Mir ist es auch nicht einfach gefallen, weil..." Meine beste Freundin stockt und lacht leise auf. „Ich hab' das auch noch nie jemanden erzählt, weil ich jedes Mal egal wie ich es gedreht und gewendet hätte, etwas von deinen Eltern hätte mit erzählen müssen und deswegen kannten wir uns immer schon, einfach "sehr lange" oder "zu lange". Deswegen habe ich das auch vorher geantwortet... Aber Ben - Für mich sind es nicht meine Eltern über die ich rede. Es sind deine und ich weiß wann ich einfach still bleiben muss. Wenn du Niklas, die fehlenden Informationen irgendwann sagen möchtest, dann kannst du das von dir aus machen... Leyla wird eine Antwort wollen, Ben... Sag' ihr das was du ihr sagen möchtest. Dass du in einem Internat warst, weiß sie wahrscheinlich schon und das mit den Ferien wahrscheinlich auch?" Ich nicke. „Ja... Das weiß sie." „Okay..." Meine beste Freundin scheint kurz zu überlegen, dann setzt sie erneut an. „Ben, du bist ja nicht eines Morgens aufgewacht und hast das festgestellt. Diese Erkenntnis hat sich aus kleinen Puzzlestück, die zusammen zu einem großen werden zusammengesetzt... Viele kleine Dinge, werden zusammen zu einem großen... Damals, hast du mir alles auf einmal erzählt, warum genau ich dafür die richtige war, weiß ich bis heute nicht, aber du hast es getan Ben..." So ungern ich es auch normal tu', unterbreche ich Julia leise. „Erstens - Ich habe dir vertraut, ich vertraue dir, Julia. Wahrscheinlich mehr, als Leyla, weil ich dich einfach schon so lange kenne. Vertrauen wächst, mit den Dingen die man miteinander teilt. Du kennst mich einfach schon länger und da warst damals einfach zu richtigen Zeit, mit dem richtigen Schlüssel und den richtigen Worten, am richtigen Ort. Und zweitens - Das Problem ist nicht, dass ich es Leyla nicht sagen möchte, aber..." Ich schüttele mit dem Kopf und beende meinen unbeendeten Satz erneut schweigend. Warum ist das nur so schwierig? Ich liebe Leyla    ! Ich vertraue ihr, aber es ist so verdammt schwierig.

Wie aus dem nichts beendet Julia meinen Satz, bevor sie weiter redet „aber es ist schwierig und es tut weh. Ich weiß, Ben. Ich hab' es doch gerade gesagt. "Viele kleine Dinge, werden zusammen zu einem großen". Du musst Leyla nicht heute alles erzählen. Erkläre ihr wie es dir geht. Sag' ihr was sie nicht weiß. Nicht über deine Eltern, darüber wie es dir damit geht und dann findet ihr auch gemeinsam einen Weg. Du musst ihr heute nicht alles sagen... Fange mit ein paar weiteren kleinen Dingen an und irgendwann weiß auch Leyla, das Ganze, okay? Sie wird das verstehen, wenn du ihr das erklärst. Das macht es nicht viel einfacher, aber ich weiß nicht was ich dir sonst noch sagen kann..." Julias Stimme wird leiser, bis sie schließlich auch verstummt. Wohlwissend, dass von ihr jetzt nicht mehr kommen wird schlucke ich und murmele in leises „Das brauchst du auch gar nicht -danke..." ins Telefon. Ein paar Sekunden tanzt daraufhin ein Lächeln über meine Lippen. Alleine Julias Stimme zu hören, hatte irgendwie geholfen... „Okay... Ich hab' dich lieb, Ben! Du schaffst das schon..." Mein Lächeln wird breiter. Einmal mehr heute wird mir bewusst, was für einen wunderbaren Menschen, ich meine beste Freundin nennen darf. „Ja... Ich dich auch. Danke nochmal. Und viel Spaß noch mit Niklas."

Trotz Julias Worte immer noch mit einem mulmigen Gefühl im Magen gehe ich, nachdem wir beide aufgelegt haben, langsam zurück zu meiner Freundin ins Wohnzimmer. Julia hatte es geschafft mich zumindest vorübergehend ein wenig zu beruhigen... Und auch wenn der schwierigste Teil nach wie vor noch vor mir steht, schaffe ich es irgendwie mich mit einem Lächeln auf dem Lippen zurück zu Leyla zu setzen...

Ich freue mich über Kommentare und Votes : ) Also - Keine Scheu. Haut in die Tasten, ich lese auch die ganz langen bis zum Schluss.

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