Kapitel 35
Sicht Leyla
„...Und so haben Julia und ich uns kennengelernt." Nachdem Ben fast eine halbe Stunde nur leise, die unglaubliche Geschichte von der Frau, meines besten Freundes und ihm erzählt hat, sieht er jetzt lächelnd zu mir nach oben. Noch im selben Moment lasse auch ich ein Lächeln über meine Lippen tanzen, wenn ich mich auch nicht wirklich darauf konzentrieren kann. Nicht nur, dass diese Geschichte so unfassbar unwirklich auch mich wirkt - Wie wahrscheinlich ist es schon, dass man sich so kennen lernt? Dass man sich nach Jahren der Stille immer noch so gut versteht? Dass das alles so funktioniert? Nein, nicht alleine das macht es mir im Moment so schwer, mein Lächeln aufrecht zu erhalten, es sind in erster Linie die Augen meines Freundes... Was von außen schon nach einem reinen Durcheinander aussieht, kann bei Ben auch von innen nicht viel besser sein.
Ich schlucke- Soweit hat er mich noch nie hinter diese unendlich hoch, scheinende Fassaden in seinem innersten blicken lassen. Soviel hat er mir noch nie über die Zeit, seine Zeit vor dem JTK erzählt. Noch nie... Diese Erkenntnis rüttelt an etwas das Ben vorher gesagt hat und lässt mich erneut schlucken. „Mir ist damals etwas... bewusst geworden..." Er hatte geschluckt. Ein paar Sekunden gebraucht um sich zu sammeln und sich abgewendet. Mit der Hand ist er sich 1x durch die braunen, sowieso schon verwuschelten Haare gefahren und schließlich hat er noch leiser, als zuvor weiter gesprochen. „Julia war meine Rettung... Sie hat wieder etwas Licht in das Dunkel gebracht..." Noch im selben Moment, in dem der Satz beendet worden war, hat er angefangen zu lächeln. Probierte den Schmerz in seinen Augen zu überdecken. Ein Tuch darüber zu werfen. Es war ihm nicht gelungen. Und umso länger er weiter gesprochen hatte, umso größer ist der Schmerz in seinen Augen geworden und in gleichen Mengen weniger hat das Lächeln auf seinen Lippen, mit dem er wohl weiterhin versucht hat, mich seine Freundin, davon abhalten eben dies zu sehen, noch geholfen. Mittlerweile ist dieses Lächeln komplett von ihm abgebröckelt und hat ein unfassbar trübes Gesicht zurück gelassen. Nicht, aber der Schmerz in seinen Augen. Ein undurchsichtiges Tuch darüber zu werfen ist meinem Freund noch immer nicht gelungen.
Erneut probiere ich mit einem Schlucken den Kloß in meinem Hals loszuwerden. Während Ben mittlerweile fast gespenstisch still geworden ist, sich etwas von mir abgewandt hat und aus dem Fenster sieht, macht das Ticken von der über dem Fernseher hängenden, Uhr hier im Wohnzimmer in meinem Ohr, mir jede Sekunde wieder klar, dass ich in der nächsten Zeit irgendetwas sagen muss. „Ben..." setze ich also leise an. Erst jetzt wird mir bewusst, dass ich gar nicht wirklich weiß, was am besten zu sagen ist. Ich habe meinen Freund noch nie so erlebt, nicht so... so erfüllt von Schmerz. So durcheinander und so viel auf einmal fühlend. Natürlich schon Mal traurig. Natürlich schon Mal wütend. Natürlich, aber nicht so viel auf einmal, nicht das alles und mehr in derselben Sekunde. Sein Pokerface hat ihn noch nie in meiner Gegenwart so im Stich gelassen, wie jetzt gerade, noch nie hat er es zugelassen, er hätte es nicht zugelassen... und jetzt sitze ich hier und weiß nicht was ich sagen soll... Als seine Freundin... Aber nichts tun ist auch keine Möglichkeit, keine Option!
Noch immer mit der ganzen Situation und von all den Möglichkeiten zu reagieren, aber unwissend welche wohl die beste ist, überfordert, lege ich etwas unsicher meine Hand auf Bens. Sofort wandert sein immer noch so viel aussagender Blick,zurück zu mir. Selbst, wenn es bei ihm nicht so untypisch wäre, dass man all diese Dinge offen sehen kann, sie sich nicht nur herbei denken und basteln muss, würde es mich wundern. Schon auf den ersten Blick kann ich etwas wie Glück, Freude und Dankbarkeit wahrscheinlich alles Julia geltend, aber in erster Linie Trauer, Schmerz und ein gut verschlossene, kleine Truhe Wut... Von jetzt auf gleich wird mir etwas bewusst, dessen erfragen der Antwort sofort oberste Priorität einnimmt. „Ben... Was ist dir damals eigentlich bewusst geworden? Was... Was meintest du damit?"
Leise Seufzend beobachte ich, wie das Gesicht meines Freundes sich in der nächsten Minute weiter mehr und mehr verdunkelt und schließlich einer tiefschwarzen Nacht gleicht. Immer mehr verliert er sein Lächeln und seine sonst so lebensfrohe Ausstrahlung. Dieses Mal ist es Ben der schluckt, bevor er leise ein „Leyla..." flüstert. Mit einem Mal scheint auch der letzte Ansatz eines Lächelns aus Bens Gesicht verschwunden, während er langsam mit dem Kopf schüttelt. Seine Eltern sind ein schwieriges, für ihn wohl ein sehr schwieriges Thema, das habe ich schon lange verstanden und auch, dass er vor mir nicht lieber darüber schweigt, als redet, weil er mir nicht vertraut, ist mir längst nicht mehr unklar. Wenn es ihm auch nur etwas einfacher fallen würde, würde er es sicher mehr tun. Doch der Blick mit dem er mich erneut ansieht, bestätigt mir 1x mehr, dass es eben mehr Wunden erneut aufschlägt, als das es sie heilen lässt, darüber zu reden. (Ich bin mir gerade wirklich nicht sicher, ob der Satz grammatikalisch Sinn macht... xD) In seinen blauen Augen ist mittlerweile nur noch eines erkennen. Schmerz, purer Schmerz. Der gleiche von vorher, nur ein vielfaches deutlicher.
„Stört es dich, wenn ich kurz... kurz jemanden anrufe?" Unsicher drückt Ben meine Hand etwas fester, während sein Blick sich erwartungsvoll an meinen wendet. Ohne länger darüber nachzudenken schüttele ich mit dem Kopf. „Nein. Nein, Ben. Mach' nur. Ich werde nicht weglaufen - Versprochen." Lächelnd lasse ich seine Hand los. Gleich darauf ist er zusammen mit seinem Handy und einem letzten Kuss meinerseits, auf seine Wange verschwunden. Einen kurzen Moment ist daraufhin wieder ein Lächeln über seine Lippen geschlichen. Ein Lächeln, das mein Herz förmlich eingesogen hat und nicht mehr hergeben möchte. Trotzdem sehe ich ihm erneut seufzend hinterher. Eltern... Sie sollten doch Menschen sein, über die man lächeln kann. Vielleicht auch etwas gequält meinen, dass sie zu fürsorglich sind. Es sollen doch Vorbildende sein... Was haben Bens Eltern nur gemacht? Er war in einem Internat, er hat sich nicht besonders gut mit ihnen verstanden, sie haben ihn auch in den Ferien nur selten Zuhause gehabt, da er auch dort viel von ihnen durch die Gegend geschoben worden ist - Aber reicht das für eine solche Reaktion aus? Ich weiß es nicht... Ich kann es mir eigentlich nicht vorstellen, aber es scheint mir doch etwas wenig für so ein emotionales Durcheinander?
Innerlich schüttele ich mit dem Kopf - Ich muss aufhören, über Bens Reaktion zu urteilen, wenn ich nur ein Teil der Geschichte, wahrscheinlich den kleinsten kenne. Mein Freund wird einen guten Grund haben so zu reagieren wie er reagiert und sich so zu verhalten, wie er sich verhält. Das ist Ben... Alles anderen möchte einfach keinen Sinn ergeben... Er wird einen guten Grund haben und auch wenn ich ihn nicht weiß, muss ich das glauben, das bin ich ihm, dem Menschen der immer an mich glaubt schuldig. Ben wird so eine Fassade nicht aus Spaß aufgebaut haben, er wird sie aufgebaut haben, um sich zu schützen und wieder nach vorne blicken zu können. Denn was auch immer seine Eltern damals so getan und verbockt haben, es scheint Spuren und Wunden hinterlassen zu haben. Wunden, die scheinbar nicht so wirklich verheilen wollen. Wie denn auch? Eltern. Über Eltern werden andauernd gesprochen. Nach Familie gefragt und von Familie erzählt... Wenn man selber keinen Frieden mit Wunden in diese Richtung schließen kann, dann können sie auch nicht heilen. Man kann nur versuchen sich selbst vor ihnen zu schützen und genau das scheint Ben getan zu haben. Da bin ich mir mittlerweile sicher. Und Schutz ist in dem Fall eine wichtige Sache...
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