In Wolfsgestalt

Olivia p.o.v.

Nach einer Weile ging es mir wieder gut genug, dass ich aufstehen konnte. Wacklig hievte ich mich auf meine zitternden Beine.
Aber ich stand. Wenn auch schwankend.

Ich konzentrierte mich ganz auf meine Atmung. Konzentrierte mich auf meinen Körper. Keine Ahnung, wie lange es dauerte, aber irgendwann stand ich sicherer. Meine Beine hatten sich an die Last meines Körpers gewöhnt.
An meine Wolfsgestalt.

Erleichtert atmete ich aus. Ich hatte es geschafft. Hatte einen weiteren Vollmond überlebt.
Aber warum fühlte ich mich so niedergeschlagen?
Es war, als fehlte mir etwas. In mir herrschte der Drang, dieses Etwas suchen zu gehen. Ich brauchte es.

Aber was...? Ich hatte die Frage noch nicht einmal in Gedanken fertig formuliert, als es mir klar wurde. Alessandro. Natürlich. Alessandro fehlte mir.
In meiner Wolfsgestalt spürte ich die Matebindung verstärkt.

Fuck. Ich wollte nicht nur zu ihm, ich musste. Ohne mein Zutun setzten sich meine Beine in Bewegung. Erst langsam. Dann immer schneller.
Es war mir egal, dass sie schon nach Kurzem zu schmerzen begannen. Es war mir egal, dass ich noch zu schwach war. Dass mein Atem bereits nach wenigen Metern keuchend ging.

Ich musste zu Alessandro! Alles in mir drängte danach. Ich musste ihn riechen. Diesen wunderbaren Duft, der ihm eigen war. Seine Wärme spüren. Ihn sehen. Ihn berühren. Mich an ihn kuscheln. Sein Knurren hören. Dieses schöne Knurren...

Es interessierte mich nicht, dass ich heute noch gesagt hatte, Abstand wäre das Beste.
Es interessierte mich nicht, was diese Entscheidung jetzt für Konsequenzen haben könnte.
Es interessierte mich nur, dass ich nicht bei ihm war. Und das musste ich sein. Je früher, desto besser. Ich brauchte meinen Mate. Bei mir.

Ich rannte und rannte und rannte. Doch ich spürte auch, wie ich immer schwächer wurde. Ich konnte nicht mehr, aber trotzdem gab ich nicht auf. Ich würde erst Halt machen, wenn ich bei ihm war!
Doch mein Körper wollte einfach nicht mitspielen. Er machte schlapp.
Konnte mich nicht mehr tragen.
Aber ich war noch so weit von meinem Mate entfernt! Durch die Matebindung konnte ich spüren, wie viele Meter uns trennten. Meter, die wie eine unüberwindbare Kluft schienen und in meiner Brust schmerzten.
Noch mehr als meine brennende Lunge, in der ein Feuer zu toben schien.

Ich musste zu ihm! Doch ich war nicht stark genug. Meine Beine knickten unter mir ein. Krachend flog ich ins Unterholz.
Wollte mich aufraffen, sofort wieder lossprinten.
Doch ich konnte nicht. Ich hatte alle meine Energien verbraucht. Mehr sogar, ich hatte mich überfordert.
Lag hilflos und schutzlos im Wald. Allein. Ohne meinen Mate.

Alessandro!, rief ich ihn über unsere Mate-Telepathie. Ich klang so verzweifelt, so erschöpft. So gar nicht nach mir.
Aber das war mir gerade egal. Ich konnte nur an ihn denken. Daran, dass er bei mir sein sollte.

Alessandro!, flüsterte ich. Selbst meine Stimme ließ nach. Am Rande meines Blickwinkels lauerte die Dunkelheit. Bereit, mich aufzufangen. Aber ich konnte jetzt nicht ohnmächtig werden. Nicht, bevor Alessandro nicht da war.

Alessandros p.o.v.

Sie hatte mich gerufen. Wie gelähmt hielt ich inne. Sie hatte mich gerufen. Ich musste zu ihr.
Sie brauchte mich. Meine Mate brauchte mich!
Bei dem Gedanken durchzuckte mich helle Freude.

Sofort drehte ich um und preschte durch den Wald.
Sie hatte so verzweifelt geklungen und so erschöpft. Ging es ihr etwa nicht gut? Was war nur passiert?
Ich achtete nicht auf den Wald, der wieder nur so an mir vobeizischte. Obwohl ich vorhin schon so sehr gerannt war, dass ich nicht mehr ganz fit war, holte ich jetzt noch mal alles aus mir heraus.

Gab mein Bestes, um zu meiner Mate zu gelangen. So schnell wie möglich.
Durch die Matebindung wusste ich, wo sie sich befand. Nämlich weit weg von den anderen. Zumindest weit weg von meinem Rudel.
Hatte sie mir etwa folgen wollen? Scheiße, ich könnte meinen Kopf gegen einen Baum rammen bei diesem Gedanken. Warum war ich nur so weit weggerannt?
Ich wusste doch, dass ich als angehender Alpha so viel stärker und schneller war.
Ich hatte sie durch meine kopflose Aktion in Gefahr gebracht. Aber dieser Schmerz...ich hatte ihn einfach nicht mehr aushalten können.

All diese Gedanken wirbelten in meinem Kopf umher, während ich durch den Wald sprintete.
Erde flog weg unter meinen Pfoten. Sträucher klatschten mir ins Gesicht und gegen die Beine, doch das war mir alles egal.
Nur eins zählte: zu meiner Mate zu gelangen. So schnell wie möglich.

Und dann sah ich sie endlich. Mitten im Wald lag sie auf dem Boden. Bei ihrem Anblick stockte mir der Atem. Sie war so wunderschön. Ihr Fell war nicht einfarbig. Es besaß zwei wunderschöne Farben:
An manchen Stellen so weiß wie das Licht des Mondes. An anderen ging es in einen Vanilleton über.
Und es sah so flauschig aus. So weich. Am liebsten würde ich mich an sie kuscheln. Und wer weiß, vielleicht ließ sie es ja auch zu?
Schließlich hatte sie mich gerufen. Vielleicht verspürte sie dasselbe Bedürfnis wie ich.

Schlitternd kam ich vor ihr zum Stehen. Mein Atem ging abgehackt.
Vorsichtig stupste ich sie mit der Schnauze an. Ihre Augen waren geschlossen. Was war los mit ihr?
Sie öffnete nicht ihre Augen. Sie bewegte sich kaum. Ihre Atmung war so flach. Hatte sie sich etwa verausgabt? Auf der Suche nach mir? Ich war so weit weggerannt....verdammt.
Warum hatte ich nicht in Erwägung gezogen, dass sie mich suchen könnte?
Egal, was sie gesagt hatte, als Wolf spürte sie die Matebindung verstärkt.
Da war es natürlich, dass sie widersprüchlich handelte.

Besorgt stupste ich sie wieder an. Nichts. Also schleckte ich ihr kurzerhand über die Schnauze.
Da...ihre Augenlider flatterten.
Wachte sie auf? Hoffnung durchflutete mich.
Und ich wurde nicht enttäuscht. Endlich öffnete sie ihre wunderschönen grünen Augen und sah mich an.
Verwirrt blinzelte sie, und als sie mich erkannte, leuchteten ihre Augen freudig auf.

Mein Herz tat einen Sprung. Sie freute sich! Sie freute sich, dass ich da war!
Ich sollte deswegen nicht so glücklich sein, dennoch war ich es.
Denn das war ganz und gar nicht selbstverständlich. Zumindest nicht bei uns.

Nun schleckte auch sie über meine Schnauze. Eine Zuneigungsbekundung.
Mein Herz wollte mir beinahe aus der Brust springen vor Glück. Wenn sie so weiter machte, starb ich noch an einem Herzinfarkt.
Wolf vor Glück gestorben. Das wäre mal eine Schlagzeile.

Glücklich rieb ich meinen Kopf an ihrem. Ein Knurren, nein, Gott, das hörte sich ja wie ein Schnurren an, entschlüpfte mir.
Aber ich genoss das hier auch richtig. Es war so schön, meiner Mate nah zu sein. So schön.

Zufrieden und überglücklich setzte ich mich neben sie, an ihre Seite.
Ich musste sie einfach berühren. So nah, dass kein Blatt mehr zwischen uns gepasst hätte, presste ich mich an sie.

Wie selbstverständlich, als würden wir das immer tun, bettete sie ihren Kopf auf meine Pfoten und ich legte meinen sanft auf ihren.

Und so lagen wir da. Zufrieden und glücklich irgendwo im Wald.
Wir genossen diesen Moment.
Dachten nicht an die Zukunft. Daran, dass das hier ein seltener Moment war. Dass der andere es vielleicht bereuen würde.
Nein. In diesem Moment dachten wir gar nichts.
Wir fühlten nur die Nähe des anderen und genossen diese.

Die Konsequenzen interessierten uns nicht. Nicht in diesem einen kostbaren Moment.

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