Sick!

Müde stand ich auf, streckte meine Glieder von mir weg und gähnte einmal ausgiebig. Es regnete in Strömen, hinzu kam ab und zu ein lautes Donnern und ein heller Blitz, doch diesem galt mein Interesse nie. Gewitter und Regen beruhigten mich, ich fand es wunderbar, wenn die Millionen Tropfen Wasser an die Scheiben der Fenster fielen und ein leises Geräusch verursachten, besonders jedoch gefiel mir die Dunkelheit. Schon immer war ich jemand, der die Sonne nicht so gerne hatte und auch, wenn meine Mutter mich meistens zwang mit ihr spazieren zu gehen, damit ich zumindest ein wenig an die frische Luft ging, gefiel mir das schlechte Wetter mehr. Es passte oft zu meiner Laune und allgemein zu meinem Charakter, denn wer mich kannte, der wusste, ich war ruhig und oft in Gedanken versunken. Mit Menschen sprach ich noch nie gerne, lieber schrieb ich mit ihnen und allein das schreckte die meisten von mir ab. Genau aus diesem Grund hatte ich fast ausschließlich Freunde im Internet, mit denen ich nicht reden musste und die mich verstanden. Schüchterne, ängstliche und tolle Personen flüchteten sich ins Internet und ich war eine davon.

Seufzend griff ich nach meinem Handy, welches sich links auf dem Nachttisch befand und betätigte den Knopf auf der rechten Seite, sodass mit das helle Licht des Displays entgegenstrahlte. Unzufrieden stellte ich die Helligkeit etwas runter, um tonlos mit meiner morgendlichen Routine zu beginnen. Jeden Morgen tat ich das gleiche, immer zur selben Zeit. Mein rechter Daumen glitt automatisch auf das grüne WhatsApp Symbol, welches mir durch eine Zahl anzeigte, ich hatte fünf Nachrichten. Drei kamen von meinem Freund, Claus und die anderen beiden stammten von einem meiner längsten und besten Freunde, die ich aus dem Internet kannte, Patrick. Es war bestimmt schon sechs Jahre her, dass ich ihn auf Instagram angeschrieben hatte und bis heute bereute ich diese Entscheidung nicht. Noch nie hatte ich sein Gesicht sehen dürfen, da er sich für sich selbst schämte und sich hässlich fand, doch damit hatte ich nie ein Problem. Um jemandem ein guter Freund zu sein, brauchte man sein Aussehen nicht zu zeigen und das hatte ich ihm ausdrücklich klargemacht. Immerzu redeten wir über alles was uns beschäftigte, seine Stimme klang wunderschön tief und rau in meinen Ohren, jedes Mal, wenn er mich anrief und es gehörte mittlerweile schon zu unserem Alltag. Mit sechzehn hatte er sich in der Schule geoutet, als Homosexuell und seitdem wurde er von so gut wie jedem gemobbt, der ihm über den Weg lief. Er hatte niemanden außer mich und ich bemühte mich so gut ich konnte ihm zu zeigen, dass ich immer für ihn da sein würde. Oft rief er total aufgelöst bei mir an und erzählte, dass er mal wieder verprügelt wurde oder dass seine Eltern ihn anschrien, sich wünschten ihn niemals bekommen zu haben. Jedes Mal versuchte ich ihn aufzumuntern und bot an, er konnte immer gerne zu mir kommen.

Lächelnd schickte ich Claus ein Herzchen Emoji. Er hatte, bevor er zur Uni gegangen war, die Post angenommen und es war ein kleines Päckchen für mich dabei, schlicht in blaues Geschenkpapier eingepackt. Um mir mein Leben zu erleichtern, hatte er es auf den Schreibtisch gestellt und mir ebenso eine Schüssel, Müsli, einen Löffel und Milch daneben platziert. Er kümmerte sich wirklich rührend um mich, versuchte alles dafür zu tun, dass ich nicht allzusehr benachteiligt war und es gab nichts, wofür ich jemandem dankbarer sein konnte, als das. Bei einem Unfall hatte ich meine Beine verloren, sodass ich seitdem im Rollstuhl saß und obwohl ich eigentlich offen mit dieser Behinderung umging, verriet ich im Interent sogut wie niemandem etwas davon. Nicht mal Patrick wusste es, er dachte, mein Leben sei perfekt und ich hätte keine Schwierigkeiten. Mit meinen Problemen wollte ich ihn niemals belasten, das nahm ich mir in dem Moment vor, als ich von seinen schlechten Erfahrungen und dem Mobbing hörte. Er war mir wichtiger, als meine eigenen Probleme es waren.

Als ich den Chat mit dem Hamburger öffnete, verflog mein Lächeln wieder und ich starrte gebannt die beiden Nachrichten an, welche mich unsicher das Päckchen ansehen ließen. Ein Bild hatte der ältere mir zuerst geschickt, auf welchem das Paket zu sehen war und als nächstes schickte er mir eine Textsnachricht, in der stand: die letzte Reise. Er hatte mir dieses Pappkarton geschickt, eingewickelt in Geschenkpapier, welches meine Lieblingsfarbe trug und diese drei Worte beunruhigten mich extrem. Nicht nur einmal hatte er überlegt, ob es eine Lösung wäre sich umzubringen und ich hatte jedes Mal Glück ihn vom Gegenteil überzeugen zu können, doch dieses Mal schien er etwas ohne mein Wissen getan zu haben. Ich war die einzige Person, an die er sich wenden konnte, jede andere verachtete ihn und sollte er mich nicht als den richtigen im schlechten Moment gesehen haben, dann wollte ich nicht wissen, ob er tatsächlich den Mut zum Suizid aufbringen konnte. Er wäre der erste, der den Tod lieber vorzog, als weiter zu leben und egal was alle sagten, ich hatte ihn wirklich lieb gewonnen. Auch wenn ich ihn noch nie im realen Leben getroffen hatte, so fühlte ich mich zu ihm verbunden und der Gedanke seines Ablebens tat im Herzen weh.

Etwas war anders an diesem Morgen, denn anstatt dass ich meine anderen Social Medias durchguckte, wie Instagram oder Twitter, setzte ich mich mit Hilfe meiner Arme in meinen Rollstuhl und fuhr auf meinen Schreibtisch zu. Alles andere konnte nun warten, denn Patrick hatte Vorrang. Er verdiente jemanden, der sich um ihn kümmerte und ich war bereit dazu. Die Zeit am Handy konnte man nachholen, doch war ein Mensch einmal verschwunden, konnte man nichts mehr tun. Ich hatte den älteren wirklich lieb gewonnen, wir redeten täglich und trotz allem, hatte ich kein Bild von ihm vor Augen. Das einzige was ich wusste war, er hatte braune Haare und braune Augen. Wir hatten einmal eine kleine Vorstellung gemacht, ganz am Anfang, bei der wir uns gegenseitig Fragen stellten und diese gleich mitbeantworteten. So konnten wir uns ein Bild machen von dem jeweils anderen, beispielsweise wusste ich, dass er sehr schüchtern war, genauso wie ich, jedoch auch extrem schnell ausrasten konnte. Niemals, wenn ihn jemand ärgerte, da machte er sich klein und zeigte Angst, doch sollte er in seinem Zimmer sein und jemand hatte ihn zuvor fertiggemacht, schlug er so lange auf seinen Boxsack ein, bis er blutige Hände hatte. Sport half ihm mit seinen Gefühlen klarzukommen, seine Wut zu verarbeiten und das fand ich besser, als wenn er sich anfangen würde zu ritzen.

Die Box war leicht und ich hörte ein leises Klappern, wenn ich sie schüttelte. Sie war maximal so groß, dass ein Brief hineinpasste und deshalb konnte nicht viel mehr drinnen sein, abgesehen von einem kleinen Spielzeug. Manchmal schickten wir uns gegenseitig Geschenke, beispielsweise wenn wir etwas fanden, was dem anderen gefallen würde oder wenn wir im Urlaub waren und etwas cooles zum mitbringen fanden, doch niemals packten wir es so gut ein wie er in diesem Moment. Er hatte sich also extra die Mühe gemacht zu lernen, wie man ein Geschenk richtig in Geschenkpapier einpackte und dazu noch ein hübsches Band drumherum wickelte, nur für mich, denn für jemand anderen lohnte es sich nicht das zu lernen. Unsere Beziehung würde ich als besonders beschreiben, denn niemand hatte sich sofort mehr in mein Herz gekämpft, als alle anderen, wie der Hamburger. Ich hatte ihn wirklich lieb, auch wenn ich ihn niemals in den Arm nehmen konnte und das sagte ich ihm so oft es nur ging. Auch er tat das, schrieb und sagte es mindestens zweimal in der Woche, bis zu den Punkt, wo ich ihm von Claus berichtet hatte. Ab da wurde er still, was das anging und ignorierte diese Worte meinerseits. Es tat weh, denn meine Worte waren wahr, doch wollte er sie nie wieder von mir hören. Ich hatte ja einen Freund, dem ich das sagen konnte und verdient hätte er diese Zuneigung meinerseits nicht, aber sowohl ich als auch er wusste, er log.

Vorsichtig riss ich eine Seite des Kartons auf, sah die braune Farbe der Pappe und entfernte schnell den Rest des Papiers, um meine rechte Hand auf den Deckel legen zu können. Mein Handy lag auf meinem Schoß, bereit den Notarzt zu rufen oder ihm zu schreiben. Er hasste es rauszugehen, würde sich also zu großer Wahrscheinlichkeit eher in seiner Wohnung umbringen, als irgendwo anders und seine Adresse hatte ich. Behutsam hob ich also den Deckel hoch und blickte in das Innere des Kartons, sah einen weißen Briefumschlag und ein teuer aussehndes Handy. Es war sein altes Handy, welches er vor drei Wochen gegen ein neueres ausgetauscht hatte und mein Herz schlug schneller, als ich es aus der Box heraushob und anmachte. Ein Pincode war erforderlich, doch weshalb schickte mir der Brünette sein Handy? Ich konnte es nicht entsperren, immerhin hatte ich nicht seinen Fingerabdruck und sein Gesicht erst recht nicht. Hatte der kleine Schussel etwa schon wieder nicht nachgedacht? Er war verplant, das war die erste Eigenschaft an ihm, welche ich herausgefunden hatte und sofort schlich sich ein Schmunzeln auf meine Lippen. Der ältere erstaunte mich immer wieder aufs neue mit seiner Fähigkeit sich Dinge zu merken.

Meine Hand griff wie automatisch zu dem Briefumschlag, öffnete ihn und zog den weißen Zettel hervor, auf dem viele Worte standen. Die Schrift erkannte ich sofort wieder, denn niemand hatte so eine unleserliche wie der ältere und das zeichnete ihn wirklich aus. Ich hatte mit den Jahren gelernt sie zu lesen, anders als viele andere Menschen. Man konnte seine Schrift als hieroglyphen bezeichnen und das sagte ich ihm auch nach seinem ersten Brief, in dem er mir frohe Weihnachten wünschte. Die Schneekugel, in deren Mitte ein kleiner, runder Schneemann stand, besaß ich immer noch und ihr Platz war fest, denn sie befand sich ebenfalls auf meinem Nachttisch. Ich hatte mich damals so sehr darüber gefreut, dass er an mich gedacht hatte und zur gleichen Zeit hatte ich mich fertiggemacht, denn ich hatte damals noch kein Geld, mit dem ich ihm etwas kaufen konnte. Erst dieses Jahr war ich volljährig geworden, doch mein erstes Geld verdiente ich schon vor zwei Jahren, als ich meine Ausbildung zum Bürokaufmann startete. Damit hatte ich ihm ein neues Paar Socken gekauft, auf denen man Kakteen sehen konnte. Er hatte sich bei mir darüber beschwert, dass irgendjemand seine Socken klaute und ich wollte ihm eine kleine Freude machen, denn zu diesem Zeitpunkt trug er verschiedenfarbige Socken. Nur auf meine gab er acht, dass zeigte er mir deutlich, denn jedes Jahr zu Weihnachten schickte er mir ein Foto seiner Füße, die in meinen Socken steckten.

Mit wild klopfendem Herzen begann ich zu lesen.

Hey Manu. Du wunderst dich sicherlich, weshalb bei dir heute Morgen ein Paket angekommen ist! Ich habe dir extra nichts davon gesagt, sonst wärst du auf die Idee gekommen auf mich einzureden, wie die letzten Jahre auch, doch das konnte ich nicht. Hier eine kleine Aufgabe für dich: ließ diesen Brief mit einem Lächeln auf den Lippen! Sehe ich auch nur eine Träne deine Wangen runterlaufen, komme ich zu dir und sorge dafür, dass wieder lachst. Dein Lachen ist nämlich Gold wert und ich wäre glücklich darüber, wenn du es mir noch einmal zeigen könntest. Du weißt wirklich alles über mich, Manuel. Mein Leben kennst du, meine Gefühle auch und meine ekelhafte Stimme ebenso. Dieser Brief hier soll dir jedoch die letzten beiden Dinge zeigen, welche du nicht über mich weißt! Hiermit erfährst du nämlich mein Aussehen und eine Krankheit, die ich habe. Willkommen zurück, du hast nämlich gerade den Zettel umgedreht und nach einem Foto von mir geguckt, aber so leicht mache ich dir es nicht, mein kleines Lieblingsscheusal! :3 Erst musst du dir anhören, was meine ersten Symptome waren und wann ich es erfahren habe. Die Geschichte dazu weiß ich noch ganz genau, denn das erste was anders war, war meine Laune. Ich habe gelächelt, hin und wieder mal, aber du weißt, dass ich das sonst nie mache. Mir fehlte immer der Grund für dieses Zeichen von Glück und ich war erst selbst besorgt um mich, als du mir dein erstes Foto von dir geschickt hast. Es war vor drei Jahren ungefähr, zu Halloween und du hattest dich als ein Mörder verkleidet! Ich weiß noch, dass du mir da das erste mal deine hübschen Augen gezeigt hast und deine langen Haare, aber nicht dein Gesicht. Du hattest eine weiße Maske aufgesetzt, an der Blut geklebt hat und du hattes auch ein Messer in der Hand! Als ich dich so gesehen habe, wurde mir ganz warm und mein Herz hat angefangen wehzutun. Ich habe in dieser Zeit oft geweint und immer das Gefühl gehabt, dass ich mich übergeben müsste. Gleichzeitig wollte ich aber nichts lieber, als in den Arm genommen werden und von dir zu hören, dass du für mich da wärst! Dein Foto hat mich wirklich lange überlegen lassen, ob es Zeit ist mich dir zu zeigen und dir von diesem Scheiß zu erzählen, aber dann kam irgendwann der Tag, an dem du mich angerufen hast und mir von Claus erzählt hast! Das war letztes Jahr im Sommer, ihr seid euch auf irgendeiner Party begegnet und ich weiß noch genau, wie sehr du von ihm geschwärmt hast. Kein Schlag von niemandem hat mir wehgetan, als deine Worte und da habe ich mich für etwas ganz bestimmtes entschlossen. Davon habe ich dir nie etwas gesagt und du ahnst es sicher schon, immerhin kennst du mich besser als ich mich selbst. Dieser Entschluss war ein Zusammenspiel von Zeit und Laune. Mein Vater hat mich nämlich kurz vorher mehr als nur angeschrien, dass ich eklig wäre, er war enttäuscht und du hattest mir von deinem neuen Freund erzählt, das hat mich beides psychisch kaputtgemacht. Rede dir nicht ein, dass du Schuld wärst! Ich will, dass du lächelst, nicht vergessen und du bist glücklich, das ist für mich das wichtigste. Es ist mir schon fast peinlich es zuzugeben, aber ich war eifersüchtig auf Claus. Du warst sonst immer für mich da, nur für mich und hast nur zu mir gesagt, dass du mich lieb hast und dann kam dein super Freund. Ich habe mich wie das fünfte Rad am Wagen gefühlt, je öfter du von ihm geredet hast und hat mich schließlich zu einer Erkenntnis gebracht! Meine Krankheit hat die ganze Zeit über mit dir zu tun gehabt, du hast mich die Jahre über Krank gemacht! Sechs Jahre lang habe ich unbewusst diese Krankheit weiter in mir getragen und sie hat mich kaputt gemacht. Claus hat mir gezeigt, du hast schon jemanden, der dir sein Herz schenken durfte und ich war es leider nicht, denn ich kam zu spät. Vielleicht wäre alles anders verlaufen, wäre ich nicht so ein Angsthase und hätte dir früher von meiner Krankheit erzählt. Mir ist klar, sie meisten Menschen betrachten es als eine Art Glück, aber ich kann das nicht mehr. Für mich gibt es keine Hoffnung mehr, das darf ich nicht mehr tun, sonst gehe ich immer weiter kaputt, deshalb gestehe ich dir nun meinen Grund zum Lächeln und meine Krankheit. Liebe. Ich liebe dich, Manuel Büttinger und du musst jetzt stark sein und mir meinen letzten Wunsch erfüllen! Gib das Datum ein, an dem ich diesen Brief hier verfasst habe!

~21.07.2019

Mit Mühe behielt ich das Lächeln auf den Lippen, um welches mich mein Freund gebeten hatte. Tränen liefen mir in Bächen über meine Wangen, mein Schluchzen wurde mit jeder Sekunde lauter und meine Hände zitterten leicht, was mir das lesen weiterhin erschwerte. Die Worte des älteren zerstörten mich, denn mir war schon bei seinen WhatsApp Nachrichten klar, was er mit Sicherheit vor hatte. Mein Herz war noch nie so schwer wie in diesem Moment, auf meinen Schultern lasteten Zentner Last und ich konnte nicht anders, als mir immer wieder seine letzten Worte durchzulesen. Alles ergab einen Sinn, er liebte mich. Ich hatte ihn verletzt, je öfter ich über Claus gesprochen hatte und nie war mir etwas aufgefallen. Der Brünette hatte immer zu ein schlechtes Gefühl und mit meinen Worten hatte ich alles verschlimmert. Alles was er jemals zu mir gesagt hatte, seine Liebeserklärungen und plötzlichen Danksagungen, sie waren alle echt und im Gegensatz zu meinen wirklich gemeint. Was sollte ich denken? War es meine Schuld, dass er Suizid begehen würde? Konnte ich ihn noch aufhalten oder war es zu spät? Eine Fahrt zu ihm dauerte ungefähr vier Stunden mit dem Zug und außerdem bräuchte ich jemanden, der mich zu ihm hochbrachte. Sein Fahrstuhl war meistens kaputt und ohne ihn würde ich nicht in seine Wohnung kommen, doch zur Zeit war niemand da, der mir helfen konnte. Claus war in der Uni, meine Mutter arbeitete und meine Brüder wohnten teilst in anderen Ländern, so würde ich niemals pünktlich ankommen.

Zittrig tippten meine Daumen das Datum ein und schon entsperrte sich der Bildschirm, gewehrte mir Zugriff auf alle Daten des Geräts. Der Startbildschirm zeigte etliche Apps an, WhatsApp, Twitter, Instagram und YouTube, doch auch Spiele und anderes Zeug, wie Netflix. Nichts wurde gelöscht, es war das Handy des Brünetten und mein Herz machte einen Sprung, als ich das Hintergrundbild erkannte. Es zeigte ein Selfie von mir, welches ich ihm geschickt hatte und auf diesem sah er das erste mal mein ganzes Gesicht. Das Bild entstand in Hamburg, 2017 und ich fühlte mich geehrt, dass er es sogar als Hintergrund nahm. Damals hatte ich noch eine Zahnspange und trotzdem schrieb er mir damals begeistert, wie niedlich mich das machte. Schon immer schämte ich mich dafür, denn kein anderer Junge in meinem Alter trug noch so etwas und laut Patrick machte mich diese Tatsache zu etwas besonderem. Ich bewunderte den Hamburger für seine Superkraft, dass er mich zum Lächeln bringen konnte, ohne selbst wirklich glücklich zu sein. Es zeigte wahre Freundschaft, Liebe.

Ich wollte es nicht, doch wie von alleine tippte mein linker Daumen auf das grüne Symbol und ich sah einige Chats, unter anderem auch unseren. Er hatte ihn ganz oben angepinnt, als ersten und einzigen, darunter folgten Chats mit seinen Eltern und anderen Internet Freunden. Teilst hatten wir die gleichen, beispielsweise Michael und Maurice, welche wir über YouTube kennengelernt hatten. Wir schauten die gleichen Youtuber und hatten uns in den Kommentaren unter einem Video kennengelernt, vor knapp zwei Jahren. Sie wussten nicht so viel wie Patrick über mich, doch auch ihnen würde ich mein Leben anvertrauen und ich redete gerne über alles mit beiden. Es war erstaunlich, wen man über das Internet alles kennenlernen konnte und selbst, wenn man im echten Leben eine totale Niete war, was Kommunikation anging, so konnte man hier Freunde finden und seine Sorgen loswerden. Für viele war es die letzte Lösung, auch für mich war es das, denn durch Menschen aus dem Internet hatte ich wieder Freude am Leben gefunden. Durch meinen Unfall wurde ich depressiv, dachte, es würde sich nicht mehr lohnen zu leben und heute empfand ich es als einen dummen Gedanken, sich selbst umbringen zu wollen. Es gab so viele tolle Dinge, die man erleben konnte!

Eine kleine Träne fiel auf meine Hose, wurde aufgesogen und ich riss mich zusammen, schloss die App und öffnete die Galerie. Alles was der Brünette gescreenshotet hatte oder fotografiert hatte war sortiert. Insgesamt gab es vier Alben, einer für Fotos, einer für Screenshots, im dritten befand sich alles was ich ihm geschickt hatte und der vierte hatte die Überschrift: Soon. Mit dem Handy des älteren hatte ich die Macht über alles, konnte gucken, was er die letzten Jahre über getan hatte und für was er sich wirklich interessierte, doch sollte ich tatsächlich so herumschnüffeln? Es gehörte sich nicht, das alles war privat und es zeigte das Vertrauen in mich, welches Patrick hatte. Nicht jedem würde ich erlauben meine Galerie zu durchsuchen, oder sich meine Chats durchzulesen und es ließ mich erneut aufschluchzen. Ich hatte all sein Vertrauen, ich hätte ihn retten können. Auch ich hatte mich tief zu ihm verbunden gefühlt, mein Lächeln wuchs mit jedem Wort zu ihm mehr, welches wir wechselten und wäre mir schon damals klargewesen, dass ich mich verliebt hatte, hätten wir heute zusammen glücklich leben können. Wir hätten uns in den Arm nehmen können, er wäre nicht mehr allein gewesen und ich hätte schon viel früher jemanden gehabt, der mir hin und wieder mal sagte, wie sehr er mich lieb hatte. Auch meine Worte waren wahr, niemals hatte ich gelogen wenn ich sagte, ich hatte ihn lieb, doch hielt ich es für unwahrscheinlich, dass er meine Gefühle erwiderte. Wir kannten uns über das Internet, im realen Leben waren wir beide komplett anders und auch wenn wir uns hier gut verstanden, würden wir voreinander stehen, sähe das alles vielleicht anders aus.

Das erste Bild zeigte einen kleinen Text, der mich aufforderte in die Memo zu gehen und die erste Notiz anzuklicken, welche mir angezeigt wurde. Patrick hatte sich lange auf diesen Tag vorbereitet, das war mir absolut klar und schluckend führte ich seinen Befehl aus. So viele Gedanken hatte der ältere sich um mich gemacht und ich wollte in diesem Moment nichts lieber, als ihn in den Arm zu nehmen. Hätte er mir seine Liebe gestanden, wäre ich niemals mit Claus zusammengekommen und das wusste ich ohne nachzudenken, er wäre meine erste Wahl gewesen. Für mich zählte das Aussehen nicht so viel wir die inneren Werte und sein Charakter war einfach unglaublich niedlich! Er machte mich glücklich, allein mit seinen Worten und ich liebte es seine Stimme zu hören, vor allem, da sie mich zu jeder Tageszeit beruhigte. Morgens, Mittags und Abends, ich musste sie bloß hören und schon schlich sich plötzlich ein Lächeln auf mein Gesicht.

Es waren insgesamt zwölf Bilder und jeweils zwei kamen aus einem Jahr. Patrick hatte oft überlegt, ob er sich mir zeigen sollte und machte deshalb immer mal wieder Selfies, doch niemals hatte er sich dazu entschieden mir eines zu schicken. Immer gab es etwas, was er bemängelte und doch hatte er für mich jedes Bild abgespeichert. Ich hatte Angst, denn extra hatte ich nicht hingesehen und brauchte nun bloß nach rechts zu wischen, um sein neustes Selfie zu sehen. So nahe war ich noch nie dran ihn zu sehen, ich wollte es und irgendwie nicht, denn wenn ich ihn nun sah, würde mich sein Gesicht lange verfolgen. Ich würde Nächte lang nicht schlafen können, schon allein, weil ich an seinem Suizid Schuld war und seine traurigen, emotionslosen Augen würden mich zum weinen bringen.

Schreiend schlug ich mit meiner linken Faust auf den Schreibtisch und legte das Handy des Brünetten beiseite. Ich konnte es einfach nicht. So lange hatte der ältere sich geschämt sich mir zu zeigen, zögerte bis zu seinem Tod und ich konnte einfach nicht damit umgehen. Für mich sprang er über seinen Schatten und zeigte sich, doch diese letzte Aufgabe die er mir gab, konnte ich nicht erfüllen. Patrick war nun im Himmel, hatte nun ein ewiges Dasein als Engel und er würde auf mich aufpassen, so lange ich lebte. Ein Rettungswagen würde nichts mehr bringen, sollte er sich schon umgebracht haben und nun wurde mir klar, weshalb er die Post gewählt hatte. Der 21.07 war vor drei Tagen und so lange würde niemand warten mit seinem Suizid, immerhin wollte man nicht aufgehalten werden und es schnell hinter sich bringen, so lange man den Mut hatte. Auch wenn man sich und sein Leben hasste, war es ein Kampf den Mut dafür aufzubringen sich zu töten und Patrick war ängstlich. Ich kannte ihn, es brauchte ihn nur jemand angeschrieben haben und aufhalten, dann wäre er eine Zeit lang so verunsichert, dass er zögerte und nicht mehr den Mut dazu fand. Nicht nur ich schrieb täglich mit ihm, auch Maurice und Michael taten das, oder Frederik.

Es gab nur eine Möglichkeit wie ich herausfinden konnte, ob er noch am Leben war. Sein altes Handy befand sich hier, bei mir, doch sein neues war noch bei ihm und vielleicht an. Vor drei Stunden hatte er mir das Foto der Kiste geschickt, das konnte nur bedeuten, er lebte zumindest zu diesem Zeitpunkt noch und wenn ich mich nicht täuschte, dann war er seitdem auch noch mal kurz vor mir online. Sicher hatte er gewartet, bis ich seine letzten Worte gelesen hatte und deshalb öffnete ich schnell unseren Chat, um erleichtert zu sehen, dass sein Status lautete: online. Wir sahen uns gegenseitig, ohne uns zu sehen und als er schlussendlich offline ging, drückte ich schnell auf den Videoanruf Button. Die Angst, ich würde zu spät kommen und er würde sein Handy ausschalten, ließ mich panisch zittern und hoffnungsvoll den Bildschirm mustern, welcher meine grünen Augen, das verheulte Gesicht und meine langen, fettigen Haare zeigte. Ich sah schrecklich aus, der ältere hatte mich ganz schön krass erschrocken und meinen Morgen kaputt gemacht, doch niemals würde ich ihm das übel nehmen. Er war ein Hitzkopf, welcher Sachen zu schnell entschied und ich musste ihm unbedingt helfen das alles zu überdenken. Sein Leben lag in meiner Hand, genau wie meines in seiner.

Meine Hoffnung sank immer weiter, je länger er mich ignorierte und ich dachte kurz sogar, er hatte sein Handy ausgeschaltet, doch dann wurde der Bildschirm weiß. Ich erkannte seine Decke wieder, doch kein Gesicht zeigte sich mir und offenbarte, ob es Patrick war oder jemand anderes, der den Anruf annahm. Mein Herz beschleunigte und glücklich funkelten meine Augen auf, als ich die Situation realisierte. "Bist du es, Patrick?", fragte ich mit gebrochener Stimme und ein zustimmendes "ja", brachte mich dazu glücklich aufzuschluchzen. Er lebte, er war da. Ich hatte mich in diesem Moment das erste mal ohne Maske gezeigt und doch wusste er nun eine einzige Sache nicht über mich, vielleicht auch zwei. Seine Stimme hörte sich kratzig an, als hätte er sie schon Wochen lang nicht mehr benutzt und ich hörte sofort heraus, er hatte seit Ewigkeiten nichts mehr getrunken.

"Ich habe gerade deinen Brief durchgelesen und bitte, hör mir erst zu, bevor du auflegst! Und zeig dich mir bitte nicht, du willst das gar nicht wirklich und ich habe auch nicht in deine Galerie geguckt...alles andere habe ich erledigt, ich habe wirklich versucht die ganze Zeit zu lächeln und auch wenn es mir schwer gefallen ist...", fing ich an zu sprechen, doch von ihm kam kein Wort. Sein Handy lag mit der Display Seite auf seinem Schreibtisch und bewegte sich nicht, der ältere könnte theoretisch gegangen sein, doch ich konnte nun nicht aufhören mit meinen Worten. Sie könnten ihm sein Leben retten, ich könnte das und diese Chance aufgeben konnte ich nicht. Ich wäre ein Mörder und würde den Tod meines besten Freundes miterleben, diese Bilder würden nie mehr aus meinem Kopf verschwinden.

"Ich habe dir auch ein paar Sachen verschwiegen und es tut mir leid. Du hättest niemals so sehr leiden müssen, wenn ich dir nicht meine Gefühle verschwiegen hätte! Es ist so unglaublich dumm und du wirst mir auch nicht glauben, was ich dir jetzt sage, aber ich liebe dich auch! Die ganzen sechs verdammten Jahre über habe ich genau das selbe wie du gefühlt und ich war zu feige dir das zu gestehen. Ich habe Jahre lang irgendwelchen Freunden aus dem Internet geschrieben und mit ihnen zusammen überlegt, ob ich es dir sagen soll und dann kam auf einmal Claus. Du wärst immer meine erste Wahl gewesen, frag Michael! Hast du eine Ahnung, wie schwer es mir gefallen ist dir nicht mehr die ganze Zeit zu sagen, dass ich dich lieb habe? Es war immer die Wahrheit und du warst auch der einzige, dem ich das ohne zu zögern sagen konnte. Claus ist einzig und alleine eine Ablenkung gewesen, die ganze Zeit über und auch jetzt noch würde ich ihn sofort für dich verlassen. Aber ich zweifle daran, dass du mich auch nur irgendwie so akzeptieren würdest, wie ich im Real Life aussehe! Glaub mir, ich bin absolut nicht das, was du suchst und du hättest mit mir mehr Probleme, als das du glücklich wärst...", redete ich vor mich hin, dabei strich ich mir immer wieder meine Tränen von der Wange und versuchte mich zu beruhigen. Kein Wort hörte ich von dem Hamburger, er hörte mir stumm zu und so sehr ich es auch versuchte, der Gedanke daran, dass er mich abstoßend fand, ließ mich weinen. Er würde sich ekeln vor mir, dazu musste ich mich ihm nicht mal zeigen und sobald ich das kleinste Zeichen von Angst zeigen würde, würde er sich nie mehr dazu trauen mit mir Sex zu haben. Der Brünette wollte mir nicht weh tun und auch wenn ich ihm sagte, er konnte alles tun, würde ihn immer die Angst vor meinem Schmerz verfolgen. Schon mit Claus war es schwer ihn dazu zu bringen mit mir zu schlafen, da er sich zum Teil vor meinen Stummelbeinen ekelte und bei ihm würde es genauso sein.

"Du siehst wunderschön aus...", hauchte der ältere nun leise und undeutlich, doch es reichte schon aus um mich glücklich lächeln zu lassen. Er wusste es noch nicht und zu großer Wahrscheinlichkeit würde er gleich einfach den Anruf beenden und das tun, was er schon lange vorhatte. "Du kennst nur mein Gesicht!", erwiderte ich, dabei zitterten meine Lippen und langsam rangierte ich die Kamera so, dass sie meine kaputten Beine zeigte. "Ich hatte im Alter von elf einen Unfall und meine Beine konnten tatsächlich nicht gerettet werden. Im Internet habe ich mich daraufhin viel wohler gefühlt, als draußen und als ich dann kurz davor war mich umzubringen, habe ich angefangen random Leute anzuschreiben! Viele haben mich allein wegen meiner Rechtschreibung abgelehnt und gesagt, dass sie sich nicht mit so jungen Leuten wie mir abgeben wollen, aber ein paar haben sich wirklich mit mir angefreundet. Du gehörst dazu! Die meisten meiner damaligen Freunde haben irgendwann aufgehört sich zu melden, aber du hast das nie getan und damit hast du mich unbewusst aus diesem tiefen Loch geholt, in dem ich fest saß! Es gibt niemanden der mir wichtiger ist als du und glaub mir, wäre ich nicht zu dumm um zu laufen, wäre ich schon vor Jahren einfach in den Zug gestiegen und zu dir nach Hamburg gefahren!"

Lange war es still, ich hörte nichts mehr von meinem Gegenüber und je länger es dauerte, desto mehr machte ich mir Vorwürfe. Patrick würde mich nun für einen Behinderten halten, einen Lügner, der etwas so wichtiges wie die Sache mit meinen Beinen Jahre lang verschwieg. Es musste für ihn so wirken, als wollte ich ihn nur abhalten von seinem Suizid und alles dafür tun, dass er es nicht tat, doch so war es nicht. Patrick war der wichtigste Mensch in meinem Leben, für ihn würde ich mich ohne zu zögern vor einen Zug werfen und das musste ich ihm irgendwie zeigen. Mir fehlten Worte, Sätze und das Wissen, wie ich einen suizidgefährdeten Menschen von sowas abhielt!

Der Bildschirm wurde kurz schwarz, ehe er mir wieder den Chat zwischen mir und Patrick anzeigte, statt meines Gesichts. Er war gegangen.

~5130 Worte, hochgeladen am 22.02.2020

Es könnte sein, dass in den nächsten Tagen ein zweiter Teil hiervon kommt, sozusagen eine kleine Fortsetzung! Wer also wissen will, wie es mit Manu weitergeht, einfach dieses Buch einspeichern :3

Nachtrag: ich arbeite schon an der Fortsetzung, sie wird bald kommen! :)

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