03. welcome to new york
Der Kummer, der nicht spricht, nagt leise an dem Herzen, bis es bricht.
- W. Shakespeare
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TAYLOR ║ 24.10.2016
Über den Wolken
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Es fiel mir schwer in dieser Nacht ein Auge zu zumachen und dem entsprechend gerädert stehe ich am nächsten Morgen auf. Ein Blick in den Spiegel verrät mir sofort, dass ich so schnell nicht mehr in einen Spiegel schauen werde.
Während Harry noch ruhig auf der Couch vor sich hin schnarcht, lasse ich meinen Laptop hochfahren, bestelle einen Kaffee, schlüpfe in eine bequeme Jeans und eines von Adams hellblauen Hemden, welches ich mir heimlich aus seinem Schrank geklaut habe. Ich sollte mich um so viele Dinge kümmern, Yoga und meine morgendliche Meditation sind nur zwei Dinge, die auf der imaginären Liste stehen. Doch noch bevor einer der freundlichen Pagen an der Tür klopft und mir einen frisch gebrühten Kaffee reicht, begehe ich den ersten Fehler des Tages. Statt mich, wie zunächst vorgenommen um die offenen Mails zu kümmern, die seit gestern eingetrudelt sind, verschlägt es mich auf diverse Seiten, die meinem Ego so gar nicht gut tun.
Ich wusste schon vor der Show, ich hätte die warm ups ernster nehmen müssen, doch was mir noch mehr weh tut, als die – zugegebenermaßen vereinzelten – Kommentare, sind die Bilder und Videos, bearbeitet und unbearbeitet. Meine Augen wandern über den Bildschirm und sofort beginnen meine Gedanken zu kreisen. Die Garderobe schneidet in das Fleisch an meinen Oberschenkeln, die Hot Pants sind viel zu kurz, das Make Up muss überdacht werden, die Glitzersteine sehen albern aus und gegen Ende der Show kleben einzelne Haarsträhnen auf meiner verschwitzten Stirn. Ich muss mir dringend ein neues Konzept überlegen und tippe einige Änderungsvorschläge in meine Notizen-App bevor ich einen Termin mit dem Tourmanagement mache.
„Taylor?" höre ich Harrys Stimme und erschrecke mich derart, dass ich den Laptop ertappt zuklappe. „Was tust du da?" fragt er krächzend, seine Haare stehen in sämtliche Richtungen von seinem Kopf ab. Harry sieht aus, wie ich mich fühle und ich muss mir ein Schmunzeln verkneifen, als ich sehe, dass sich sein Shirt in den Boxershorts verfangen hat. Auch sonst macht er nicht den Eindruck, als sei alles an Ort und Stelle. Zerstreut ist dabei noch nett ausgedrückt.
„E-Mails", antworte ich kurz und muss schlucken. Seinem Blick weiche ich gezielt aus. Ob er sieht, dass ich lüge, weiß ich nicht. Wir hatten lange nichts mehr mit einander zu tun, doch früher schien ich ein offenes Buch zu sein. Ich will einfach auf Nummer sicher gehen.
„Ich habe deine Klamotten von gestern in die Reinigung gegeben. Magst du auch einen Kaffee, dann bestelle ich einen nach", wechsle ich daher auf wahnsinnig kreative Art das Thema und stehe auf.
„Ist es okay, wenn ich nochmal unter die Dusche springe? Ich fühle mich immer noch eklig." Der Blick, den er mir zuwirft, versetzt mir einen ordentlichen Stich und ich beschließe, dass ich einen feuchten Kehricht darauf geben werde, welche Ausreden er mir auftischen wird und es ist mir völlig Schnuppe, dass ich ihm Zeit geben sollte, bis er mir wieder genug vertraut, um sich mir zu offenbaren. Ich muss wissen, was passiert ist.
Nur schaffe ich es einfach nicht den geeigneten Moment abzupassen. Vielleicht ist Harry auch einfach viel zu gut darin, von den Themen abzulenken, über die er nicht reden will. Was immer es ist, keinen Funken schlauer kommen wir zusammen ganz vier Stunden nach meinem Entschluss ihn auszuhorchen am Flughafen an.
So entschlossen, wie es mein lädiertes Ego hergibt, schreite ich auf mein Team zu, gehe erhobenen Hauptes an Benji vorbei und mache mich auf den Weg zum Check-In. Es glich schon einem Wunder, dass wir unbemerkt hier her kamen, irgendwann war selbst mein Glück dahin.
„Was zur Hölle?" höre ich Benji zischend flüstern, drehe mich jedoch nicht um. Ich habe viel zu viel Angst davor, dass Harry plötzlich verschollen ist, dass uns Paparazzi, wie eine Horde Orcs überfallen oder dass meine Tourmanager und guter Freund über Blicke genau das kommuniziert, was ich schon längst weiß.
Wogegen Benji es tatsächlich schafft sich ruhig zu verhalten, rutsche ich schon zwanzig Minuten nach Start des Jets unruhig auf meinem Sitz hin und her. Eine Hälfte meines kleinen Teams geht ihrem Job nach, die andere versucht in einer ruhigen Minute Familien-Zeit nachzuholen, die wir alle, mehr als nötig haben. Einmal mehr kommt mir Adam in den Sinn. Da ich jedoch bereits erahnen kann, wie dieses Gespräch ausfallen wird, schiebe ich es lieber weiter vor mir her. Es ist eine unvermeidbare und offensichtliche Tatsache, dass diese Beziehung keinen Sinn hat und das weiß ich nicht erst seit gestern. Mein Hirn ist meinem Herzen da einen deutlichen Schritt voraus, denn letzteres lässt mich immer wieder besorgt über die Schulter blicken.
Überraschend weit ab vom Schuss lehnt Harry mit dem Kopf gegen die Scheibe des Fliegers und sieht nach draußen. Ob seine Augen geöffnet oder geschlossen sind, kann ich nicht erkennen. Was ich allerdings glaube zu erkennen, ist eine einzelne Träne, die sich langsam ihren Weg über seine Wange bahnt. Einbildung hin oder her, wenn jetzt nicht der richtige Moment ist, wann dann? Was soll schon schlimmes passieren? Er wird wohl kaum die Tür aufreißen und rausspazieren, denke ich mir und stehe auf. Benji sieht mich verwirrt an und ich bin froh, dass ein Nicken in Richtung des hinteren Flugzeugteils ausreicht. Seine Augen verdrehen sich gefährlich weit nach hinten. Drauf geschissen, flüstere ich.
Noch vor dem Abflug stahl ich mich in einer turbulenten Sekunde davon, versteckte mich auf den Toiletten des VIP-Bereichs und begann mich selbst zu hassen. Sie war die einzige, die mich in dieser Situation verstand, denn ich wusste, auf viele meiner Freundinnen wäre in diesem Moment kein Verlass. Wir texteten hin und her, schließlich rief ich sie an und hatte das Gefühl wenigstens ein bisschen Herr meiner Sinne zu sein. Denn obwohl ich keine Ahnung hatte, wieso ich so handelte, wie ich es nun einmal tat, war Selena zumindest in der Lage mir einen Rat zu geben. Niemand mochte es gedrängt zu werden. Egal, wie unsagbar ungeduldig ich nun mal war.
„Sollen wir einfach mal nach Rom-Coms suchen und schauen, was wir finden?" Sicher, ich hätte Harry auch erst einmal begrüßen können oder mich versichern, ob er nicht doch Kopfhörer trägt, um ihn nicht so derbe zu erschrecken, wie ich es getan habe. Aber naja, der Moment war dahin und Harry greift sich recht theatralisch an die Brust. „Himmel nochmal", flucht er und ich muss ein bisschen schmunzeln. „Also, was denkst du?"
Sein Blick ist alles andere als erfreut und trotzdem nimmt er die Strickjacke, die ebenfalls ursprünglich in Adams Kleiderschrank gehört zur Seite und bietet mir den Sitz neben sich an. „Also, worauf hast du Lust?" Meine Tonlage ekelt mich selbst und ich weiß wirklich nicht, wo sie herkommt. Übermotiviert, eine Spur zu hoch und überdreht.
Es sind die ersten Akkorde von Paul Simons »Me and Julio down by the Schoolyard«, die mich eine Spur zu laut lachen lassen. „Wie oft, hast du das schon gesehen?" „Ein, zwei Mal", verkündet Harry selbstbewusst diese gigantische Lüge und es ist das erste Mal, dass er wirklich ehrlich und aufrichtig lacht. Grübchen, Falten in den Augenwinkeln – das volle Programm. Ich weiß sicher, dass er lügt, denn schon alleine während unserer Beziehung lief dieser Streifen rauf und runter.
Und so kommt es, dass wir nicht nur Jennifer Lopez beim Verlieben in Ralph Fiennes zuschauen, nein, wir schauen auch Anne Hathaway und Kate Hudson beim Heiraten zu und lassen uns von der wohl britischsten Teeniekomödie der Welt berieseln, bei der ich ihm gestehen muss, auch ich hätte zu der Zeit wohl einen massiven Crush auf Aaron Taylor-Johnson gehabt. So kitschig wie es ist, so witzig ist der Flug damit auch. Und trotzdem schaffe ich es Harry zu überzeugen sich als letztes »Mary & Max« anzusehen.
„Taylor, das sind Knetfiguren", erklärte er mir zuvor noch, als hätte ich das selbst noch nicht bemerkt. „Harry, dieser Film ist so viel mehr, als das! Dieser Film greift die Essenz von unfassbarer Einsamkeit, Isolation und der Macht von suizidaler Depression auf und zeigt die unglaubliche Kraft, die faszinierende Macht einer einzelnen menschlichen Verbindung auf eine Weise, wie es noch kein Film mit echten Schauspielern geschafft hat, Harry, dieser Film"- „Okay, okay!" Mit dem breitesten Lächeln über den Wolken dreht er sich zu mir und umfasst meine Hände mit seinen. Sie sind angenehm warm und mir fällt jetzt erst auf, wie riesig sie sind und wie wild ich gestikuliert haben muss. „Du magst den Film wirklich, was?" Ich nicke. „Sehr."
Und obwohl es so gar nicht zu den vorherigen passt, sucht er dieses Meisterwerk auf diversen Streaming-Diensten und mit jeder erfolglosen Suche werde ich ein bisschen enttäuschter. „Na gut, dann eben nur so halblegal", höre ich ihn sagen und binnen Sekunden wechselt mein Blick von verwirrt zu peinlich berührt. Keine Ahnung, was Harry in die Suchleiste eingegeben hat, doch wir werden grade zu bombardiert von Pop-Ups in denen angeblich willige Damen diverse Dienste offerieren, mit denen ich zugegebenermaßen recht wenig anfangen kann.
Die Stimmung trübt es jedoch nicht, Harry findet eine Version meines Lieblingsfilms und lehnt sich zurück. Nicht eine Sekunde kann ich mich richtig auf Adam Elliots Meisterwerk konzentrieren. Stattdessen fixiere ich mich auf Harrys Gesichtsausdruck, während er Mary Dinkle beim Erwachsen werden zu sieht. Ich studiere jede Bewegung, schmunzle, wenn er schmunzelt und greife schon vor den schlimmen Momenten nach Taschentüchern, die ich ihm zum passenden Augenblick reichen kann.
„Freunde, der Flieger landet"- Benji schafft es nicht seinen Satz zu Ende zu sprechen, Harry schnipst einfach eine Erdnuss in seine Richtung, verfehlt ihn aber meilenweit: „Sh!" zischt er und ich könnte nicht stolzer sein.
„Was ist das denn für ein beschissenes Ende!" poltert Harry zum dritten Mal, während wir uns, das Handgepäck geschultert hinter Benji und Caroline einreihen, die bereits an ihren Handys hängen und aufgeregt telefonieren. „Ich meine, da schaffen sie es nach all den Jahren...und dann das?" Ich weiß nicht, wer nach diesem Flug die verquolleneren Augen hat, Harry oder ich. Seine Frustration kann ich durch aus nachvollziehen, nichtsdestotrotz muss ich lachen und je lauter ich lache, umso verzweifelter wird Harry. „Überlege doch mal, hätte der Film nicht dieselbe wundervolle Message, wenn man den beiden ein verfluchtes Happy End gegeben hätte? Wie schwer ist es denn, gibt es denn nichts mehr, über das man sich wirklich freuen darf, keine Sicherheit mehr in diese Richtung? Das ist doch Kacke!" „Fahr mal einen Gang runter, das ist ein scheiß Film", zischt Benji mit einem Mal und nimmt Harry jeglichen Wind aus den Segeln. Während er eben noch Feuer und Flamme war, gleicht er jetzt einem angeschossenen Reh. Wie gerne würde ich meinem Manager eine donnern für diesen beschissenen Spruch.
„Mach dir nichts draus, Benji hat einfach kein Herz." Spielerisch lasse ich mich gegen seine Seite fallen und piekse ihm in die Seite. „Er hat recht. Scheiß Film", schmollt Harry, legt seinen Arm um meine Schulter und wischt sich eine imaginäre Träne von der Wange. „Es ist ein grandioses Meisterwerk und das weißt du auch." „Ja, aber schau doch mal, was es mit mir gemacht hat", beschwert er sich und auch, wenn ich weiß, dass er nur herumalbert, sehe ich ihn mir an. „Ach, das ist nichts, was man mit Pads, Masken und ein bisschen Chirurgie nicht wieder hinkriegt. Zuhause mache ich dir"- mitten im Satz halte ich inne, denn die Realität ist endlich bei mir angekommen.
Wir sind in New York. Unsere Wege würden sich hier trennen.
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