02. this is me trying
„Es gibt so viele gescheiterte Beziehungen, weil die Frauen zwar gelernt haben, Netze zu knüpfen, aber nicht gelernt haben, Käfige zu bauen." - Jonathan Swift
[(1667 - 1745), anglo-irischer Erzähler, Moralkritiker und Theologe]
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TAYLOR ║ 24.10.2016
Philadelphia, Pennsylvania
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Ich muss von allen guten Geistern verlassen sein. Die Schrauben sind locker, nicht mehr alle Tassen im Schrank, nicht ganz bei Trost, den Schuss nicht gehört, vom Teufel gebissen –mir fallen tausende dieser Synonyme ein und doch komme ich immer wieder beim selben Ergebnis raus: Ich bin komplett bescheuert. Anders kann ich mir weiß Gott nicht erklären, was ich hier tue. Von den Konsequenzen, ganz zu schweigen.
Unsicher und wackelig lenke ich den Wagen durch die Nacht. Nach nur einer Minute komme ich nicht drum herum das Fenster auf meiner Seite ein Stückchen nach unten zu lassen, denn Harry stinkt schlimmer, als der Kuhstall von Grandma Marjorie zuhause in Tennessee. Die Stille im Auto ist beinahe unerträglich und auch das Radio, welches in sonst angenehmer Lautstärke die neuesten Pop-Songs spielt, hilft mir nicht dabei, mich zu entspannen.
Harry sagt ebenfalls kein Wort und ich bin mir nicht sicher, was dort seine Wange hinab rinnt. Eine einzelne Träne oder eine Schweißperle. Egal, was es letztendlich ist, mein Herz droht mir aus der Brust zu springen. Eine Mischung aus Freude, tiefster Verwirrung, Schmerz, absoluter Verwunderung, Sorge und grenzenlosem Erstaunen macht sich in mir breit. Es ist ein explosiver Cocktail, der in mir tickt, wie ein Zeitbombe. Verfluchter Mist.
Sobald mein Wagen in der Tiefgarage des Hotels zum Stehen kommt, schreit alles in mir nach Konversation. Ich will endlich wissen, was er hier macht und wieso er aussieht, als schliefe er seit Wochen unter Philadelphias unschönsten Brücken. Mehr als ein kratziges Räuspern schafft es jedoch nicht über meine Lippen. Mit einem brüchigen „Danke" ist Harry schließlich der erste, der die Stille bricht. Zu mehr, als einem halbschiefen Lächeln kann ich mich jedoch nicht durchringen und steige daher einfach aus. Die Tatsache, dass ich immer noch das letzte Outfit des Konzerts trage, wird mir erst wirklich bewusst, als ich mit den Absätzen dieser unfassbar unbequemen Schuhe im Gitter einer Ablaufrinne stecken bleibe.
„Shit", zische ich und mache kurzen Prozess. Die Feinstrumpfhose wird es wohl nicht überleben, doch ich laufe lieber barfuß durch die Tiefgarage, also noch einen Schritt in diesen Höllendingern zu gehen. „Ich kann dich auch tragen, oder du nimmst einfach meine Schuhe", spricht Harry leise hinter mir und ich zucke zusammen. Für den Bruchteil einer Sekunde habe ich tatsächlich vergessen, dass er mir folgt. Verdrängt trifft es vielleicht eher, denn seit wir mein Auto verlassen haben, kreisen meine Gedanken nur noch um eine klitzekleine Kleinigkeit, die ich wirklich vergessen habe. Adam. Wie zum Henker sollte ich ihm erklären, dass ich meinen verwahrlosten Exfreund im Schlepptau habe? Ob ich einfach eine fixe SMS vorausschicken sollte? Wohl kaum.
„Schon gut", antworte ich Harry schließlich und krame im Gehen nach der Schlüsselkarte für den Fahrstuhl. „Ach komm schon", zische ich genervt. Meine Schuhe fallen auf den Boden und auch der Träger meiner alten Handtasche gibt den Geist auf. Tampons, mein Handy, der Autoschlüssel, verknotete Kopfhörer, mein iPod und ein Notfalllippenstift verteilen sich auf dem hässlich grauen Beton. „Fuck!" entfährt es mir laut und ich bin versucht mich einfach trotzig wie ein Kind auf den Boden zu werfen. Das ist doch alles kacke, wieso funktioniert denn heute nichts, denke ich und befinde mich kurz vor der Abwärtsspirale, denn auch mit meinem Auftritt von heute bin ich alles andere, als zufrieden. Das Internet würde mir später sicher noch bestätigen, dass ich die Stimmübungen und das Aufwärmen heute nicht auf die leichte Schulter hätte nehmen sollen.
Noch während ich mich beinahe wortwörtlich im Selbstmitleid suhle, gehe ich auf die Knie und will meinen Kram wieder aufsammeln, doch Harry kam mir zuvor. Als wäre es das selbstverständlichste der Welt, hält er mir meine Tampons, den Lippenstift und all den Klimbim hin, bereit ihn einfach in meine nun kaputte Tasche zu kippen. Was dabei auffällt? Die verfluchte Schlüsselkarte ist unauffindbar. Ich bedanke mich ein wenig beschämt bei Harry, nehme meinen Krams an mich und überlege, ob ich sie vielleicht im Auto verloren habe, bis es mir wie Schuppen von den Augen fällt.
Vor der Show hatte ich meine Tabletten auf dem Zimmer vergessen und Benji war fix noch einmal nach oben gelaufen. Er musste die Karte noch bei sich haben, was bedeutete, uns blieb lediglich der Haupteingang.
Sobald ich Harry das Problem erklärt habe, schüttelt er den Kopf. „Bitte nicht", wimmert er nahe zu. „Okay. Warte hier", spreche ich entschlossen und mich überkommt eine Art Beschützerinstinkt. Vergessen ist die Sorge über Adams Reaktion, als ich barfuß mit meinem Zeugs unterm Arm durch die Tiefgarage jogge. Bei all dem Getanze und Gerenne, habe ich mir ja doch noch ein Gläschen Wein verdient, denke ich, noch bevor ich die Eingangshalle des Hotels betrete. Trotz der späten Stunde werde ich von einem freundlichen Concierge begrüßt, der mein Problem direkt behebt. „Wenn Sie nur so freundlich wären mir diese Karte wieder zurück zu bringen", er lehnt sich ein Stückchen weiter über den Tresen. „Es wäre eventuell möglich, dass dies hier mein Generalschlüssel ist", flüstert er und zwinkert mir frech grinsend zu. Süß. „Ai, ai, Sir", spiele ich sein Spielchen mit, zwinkere zurück und beeile mich.
Auch, wenn ich für den Bruchteil einer Sekunde darüber nachgedacht habe, Harry einfach stehen zu lassen und somit sämtlicher Konfrontation und zahlreichen Problemen aus dem Weg zu gehen, laufe ich möglichst schnell zum Fahrstuhl in die Tiefgarage, nutze den mir freundlichst überreichten Generalschlüssel um den äußerst nervösen Mann nach oben holen zu können.
Als sich die Tür unten mit einem leisen Pling öffnet, sehe ich, wie Harry erschrocken zur Seite springt. „Mission abgeschlossen", versuche ich ihm wenigstens ein kleines Lächeln zu entlocken, doch es klappt nicht. Still schleicht er in die hintere Ecke des Metallenen Kasten und erst jetzt fällt mir ein, die Treppe wäre besser gewesen. Einen Schlüssel hätten wir auch dort gebraucht, klar. Aber drüben hätte er vermutlich keine Panik bekommen, also tue ich das, was ich auch früher schon immer getan habe, wenn sich Fahrstühle nicht vermeiden ließen. Ohne näher darüber nachzudenken greife ich nach seiner Hand und erschrecke mich. „Himmel, du bist ja eiskalt!" Eigentlich wollte ich ihn bloß beruhigen und auf seinen Handrücken malen, genau wie früher, doch jetzt stelle ich mich vor ihn, nehme beide Hände in meine und hauche warme Luft in seine Richtung. „Warum hast du denn nichts gesagt?"
Wie ein angeschossenes Reh schaut er zu Boden. Der Cocktail in mir hat sich aufgelöst und ist einem einzigen Gefühl gewichen. Sorge.
Die ganze Nacht über verlässt kein Wort Harrys Lippen und irgendwann gebe ich auf. In meinem Zimmer angekommen gab ich ihm ein Glas Wasser, schickte ihn unter die Dusche und gab schweren Herzens den großen Sweater auf, den ich vor meiner Abreise aus Adams Kleiderschrank geklaut habe. Auch die Jogginghose muss ich aufgeben, denn Harry wird wohl kaum eine meiner Shorts tragen wollen. Mein entspannendes Bad hat sich damit verabschiedet und ich atme erleichtert durch, als ich aus meinem knappen, schwarzen Overall schlüpfe. Dass ich die ein oder andere Paillette verliere, während ich mich aus dem engen Stoff schäle, ist mir herzlich egal. Ich muss diesen engen BH endlich loswerden und beiße mir verlegen auf die Lippe, als mir ein erleichtertes Stöhnen entwischt, sobald der Clip sich löst. „Leck mich am Arsch", entfährt es mir erleichtert, als auch die Strumpfhose ihren Weg in den Mülleimer findet. Strumpfhose ist da noch freundlich ausgedrückt. Mittlerweile glich das Ding eher einer Laufmasche mit Reststoff.
Ungeduscht aber zumindest in annehmbarer Kleidung und mit Schuhen an den Füßen stehe ich schließlich wieder an der Rezeption und übergebe dem Concierge seinen Schlüssel. „Sagen Sie, kann ich Sie noch einmal etwas fragen?" „Aber sicher Miss Swift, worum geht es denn?" Auch, wenn ich die Antwort eigentlich gar nicht wissen möchte, frage ich trotzdem. „Können Sie mir sagen, ob Mr. Wiles bereits abgereist ist?" „Ja, schon heute Nachmittag hat er ausgecheckt. Kurz nach Ihnen, wenn ich mich nicht irre." „Vielen Dank." Mich zu einem Lächeln zwingend schiebe ich ihm ein üppiges Trinkgeld über den Tresen und gehe zurück zum Fahrstuhl.
Zum ersten Mal in dieser Nacht erlaube ich mir eine kleine Träne. Scheiße. Sofort fährt mein Kopf Karussell und ich überlege, was ich gemacht haben könnte, um ihn zu verärgern. Mir fällt beim besten Willen nichts ein und so bleibt mir nichts anderes übrig, als mich einfach zurück auf das Zimmer zu verziehen.
Während ich auf dem Bett sitze und mir am Laptop eine neue Folge Friends herunterlade, höre ich, wie es im Badezimmer rumpelt. „Alles in Ordnung?" frage ich besorgt und springe eine Spur zu schnell auf. Schwindel überkommt mich und mir fällt ein, dass ich durch das Harry-Theater ganz vergessen habe, zu Abend zu essen. Prompt beginnt daraufhin auch mein Magen zu knurren. „Ja, ich bin nur ausgerutscht", sagt er und ich weiß, dass er versucht gleichgültig zu klingen. Doch die Info scheint bei seiner Stimme nicht angekommen zu sein. Sie trieft gerade zu vor Schmerz. „Ich glaube dir kein Wort", sage ich daher und trete ein, ohne mir weitere Gedanken zu machen.
„Ach du Scheiße!" Die Duschwanne ist rot und ich bin mir ziemlich sicher, sie so nicht hinterlassen zu haben. „Was zur Hölle?" Harry beugt inzwischen über dem Waschbecken und hat sich provisorisch ein Handtuch umgelegt. Mit einem Waschlappen im Gesicht dreht er sich schließlich zu mir um. „Ich bin nur ausgerutscht und mit dem Gesicht voran gegen den Duschkopf geknallt. Ich wusste nicht, dass das Ding höhenverstellbar ist, sonst wäre mir das nicht passiert. Ich habe nur mit meiner Nase gebremst, alles gut." Nach alles gut, sieht das Massaker weiß Gott nicht aus und trotzdem muss ich mir schwer auf die Lippen beißen, um nicht zu lachen. Diese Situation ist die Definition von ‚Absurd'.
In der Zeit, in der Harry versucht seine blutende Nase zu beruhigen, nehme ich die Brause und versuche das Gröbste aus der Dusche und von den Fliesen zu entfernen. „Komm mal her", sage ich schließlich. Harrys unbeholfene Versuche sowohl die Blutung zu stoppen, als auch die Sauerei so gering wie möglich zu halten, kann ich mir nicht mehr mit ansehen und setze ihn auf die Toilette. „Warte kurz."
Mit einem frischen Waschlappen aus meinem Koffer und ein paar Eiswürfeln aus der Minibar komme ich schließlich zurück, bastle ihm ein improvisiertes Eispack und weise ihn an, seinen Nacken zu kühlen. „Halt den Kopf mal bitte leicht nach unten, sonst läuft dir die Suppe in den Hals. Das ist nicht so lecker." Mit ein wenig Klopapier verstopfe ich die Nase und mache mich daran sein Gesicht sauber zu machen. Er ist zwar noch rot aber zumindest das Blut lässt sich kurze Zeit später entfernen. „Ich war auch schon mal cooler", sagt er schließlich trocken in die Stille und damit ist es vorbei. Wenn ich kurz vorher noch in der Hocke vor ihm saß, liege ich jetzt auf dem Boden und lache eine Spur zu laut. Auch ihm entfährt endlich ein leises Kichern. „Na Mensch, läuft ja doch bei mir", schiebt er hinterher und verliert sich für einen Moment in schlechten Wortspielen dieser Art. Obwohl sie wirklich unterirdisch schlecht sind, müssen wir lachen.
„Geht's wieder?" frage ich, nachdem wir uns endlich beruhigt haben und sehe dabei zu, wie Harry sich den improvisierten Beinahe-Tampon aus der Nase holt. Nach einmal putzen scheint die Blutung gestillt und er nickt. „Sehr gut, ich muss mal pieseln", sage ich lachend und scheuche ihn aus dem Badezimmer.
Als ich die Tür öffne sehe ich Harry an der Wand lehnen. Die Haare sind nass und hängen in Strähnen in sein kantiges Gesicht, das Handtuch hängt vielversprechend und gefährlich nur locker um seine Hüfte. Ich muss schlucken. Der unpassendste Moment um die Gedanken schweifen zu lassen.
„Ich sollte mir eventuell noch die Haare auswaschen. Deine Ölkur mochte ich schon immer." Seine Stimme ist ruhig und kommt mir mit einem Mal um einiges tiefer vor, als zuvor. „Ja, äh klar." Einen Schritt zur Seite gehend bin ich darauf bedacht möglichst viel Abstand zwischen uns zu bringen. Na Prost Mahlzeit.
Harry in Adams beigem, selbstgestrickten Sweater und der dazu passenden Jogginghose zu sehen, fühlt sich seltsam an. Ich kann es nicht definieren und so versuche ich meinen Blick wieder abzuwenden. Er macht mir jedoch einen Strich durch die Rechnung: „Taylor?" „Hm?" „Kann ich dich um etwas bitten?" Dieser tiefe, raue Ton scheint wie weggeblasen und vor mir steht wieder der zerbrechliche Mann. „Kannst du mich nach New York mitnehmen?"
Eine Erklärung bekam ich in dieser Nacht nicht mehr und so konnte ich Benji am nächsten Morgen
ebenfalls keine geben. Auch durch meinen Kopf kursierten bestimmt tausende Fragen. Sein Blick sprach Bände, doch was wollte ich machen? Mein Bauchgefühl sagte mir, dass ihm etwas passiert war, worüber er nicht bereit war zu versprechen. Doch ich vertraute darauf, dass Harry sich öffnen würde. Ich müsste bloß warten.
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