01. fight song
„Es sind nicht die äußeren Umstände, die das Leben verändern, sondern die inneren Veränderungen, die sich im Leben äußern."
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TAYLOR ║ 23.10.2016
Philadelphia, Pennsylvania
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Das Leben hält oft kleine oder größere Überraschungen für uns bereit. Wir freuen uns, wir erschrecken uns, wir wundern uns und sind völlig fassungslos.
Fakt ist aber, niemand kann diese kleinen oder großen Dinge vorhersehen. Zumindest niemand, der noch alle Murmeln zusammen hat.
Niemand kommt zu dir in die Garderobe, stellt sich neben deinen Spiegel, reicht dir die Wimperntusche und sagt »Hey Taylor, erschrecke dich nicht, wenn du ein verlaustes Etwas an deinem Wagen vorfindest. Er tut dir nix, versprochen!«
Das alles weiß ich vorher aber nicht. Nicht einen Gedanken habe ich daran verschwendet, keinen blassen Schimmern, nichts davon hatte ich auf der Scheibe. Warum auch? Es gab keinen Grund zur Annahme, dass mich noch heute ein Volltrottel überrumpeln und meinen Puls in gigantische Höhen schießen lassen würde.
Wer denkt schon an Vorgänge, die einmal passieren können, wenn es keinerlei Anzeichen dafür gibt, das sie tatsächlich passieren. Niemand denkt an einen Angriff Außerirdischer Lebensformen, wenn sich kein Anzeichen zeigt, dass diese Lebensformen überhaupt existieren.
Genauso wahrscheinlich war es für mich, dass Harry noch einmal bei mir auftauchen würde. Und genau deshalb dachte ich zu diesem Zeitpunkt nicht an ihn.
Situationen zerdenken, imaginäre Szenarien durchgehen - darin war und bin ich wirklich eine Meisterin. Aber so ganz aus dem Nichts? Hellsehen gehört nun wirklich nicht zu meinen Fähigkeiten. Im Nachhinein nach Vorwarnungen suchen, ja, das kann ich gut. Vorwürfe machen - meine beste Disziplin.
Ich dachte viel mehr daran, mein Gesicht zu pudern, damit der Scheinwerfer auf der Bühne nicht verriet, wie stark ich wirklich schwitzte. Ich dachte daran, dass ich Meredith und Olivia füttern müsste, wenn ich nach Hause kam und ich dachte daran, dass beide ein neues Kissen benötigten, auf dem sie schlafen konnten. Kurz dachte ich daran, was ich nach der Show wohl noch essen könnte. Einen kleinen Salat vielleicht? Vielleicht mit Cara? Kendall war nicht in der Stadt, also würde ich wohl Cara bitten, den Abend mit mir ausklingen zu lassen. Viel verdient hatte ich mir bisher nicht. Der Tag war ruhig, gespickt von Telefoninterviews und Kostümproben für leichte Änderungen an meiner Garderobe. Nichts aktives also. Nichts, was mir einen Burger in meinem Lieblings-Restaurant hier in der Stadt erlauben würde.
Kurz um: ich dachte an Tausende verschiedene Kleinigkeiten. Aber nicht an ihn.
Ich ziehe mir sanft den Lidstrich nach und mustere mich im Spiegel. Meine Haare sitzen, so wie ich es gerne möchte. Doch ein letzter Spritzer Haarspray wird wohl nicht schaden. Der Reißverschluss der Stiefel, die ich angezogen habe, nachdem ich den Schminktisch verlassen habe, klemmt. Er zwickt mich unangenehm in die Seite und die Blase an meiner Ferse, zieht unangenehm. Rachel hampelt nervös vor mir herum, erschreckt mich und plaudert munter und aufgeregt drauf los. Meine Gedanken kreisen dennoch nur um den Auftritt, um die Akkorde meiner Songs und um den Text ihres »Fight Song«, den wir später zusammen performen würden. Nicht eine einzige Sekunde drehte sich um Harry.
„Meinst du Philly mag meinen Song?" Rachel knabbert nervös an ihren Fingernägeln. Diese Nervosität war nerven aufreibend und bevor sie auf mich abfärben kann, muss ich sie irgendwie ruhigstellen.
„Rachel, beruhig dich mal! Du gehst jetzt zum Catering, gönnst dir einen warmen Kakao und kommst ein bisschen runter! Unterhalte dich mit Catherine oder Oscar. Aber bitte: Beruhig dich!" Lachend sieht sie mich an. Sie gibt mir Recht, atmet einmal tief durch und verschwindet in Richtung Catering. Endlich habe ich meine Ruhe vor dem sprichwörtlichen Sturm.
Tief atme ich ein und aus. Meine volle Konzentration gehört meiner Atmung. Ich muss mich beruhigen, runter fahren und meine Atmung kontrollieren. Die Stimmübungen lasse ich heute sein. Wohlwissend, dass ich mich im Nachhinein verfluchen werde. Ich bin müde.
Etwas verzweifelt und hilflos suche ich ein Fenster im Backstagebereich. In der Toilette werde ich schließlich fündig. Umständlicher weise muss ich auf den Toilettensitz klettern, um mein Gesicht in die kalte Nachtluft halten zu können. Ich will lieber nicht wissen, wie das im Moment aussieht und was man von mir denken würde, sollte man mich erwischen.
Stets darauf bedacht den schwarzen, seidenen Schleier meines Kostüms nicht zu versauen oder gar zu zerstören, halte ich ihn fest in der Hand. Einatmen, ausatmen.
Strenggenommen kann es mir doch wirklich egal sein, was man von mir halten würde, sollte mich tatsächlich jemand beim frische Luft schnappen erwischen. Es ärgert mich, dass dies nicht der Fall ist. Denn in diesem Moment sehe ich die Sterne über Philadelphia und atmet frische, kühle Luft. Es ist ruhig um mich herum, mucksmäuschenstill, und ich bin alleine. Auf angenehme Art und Weise, alleine. Mir wird bewusst, dass ich in weniger als zehn Minuten den Himmel von Philly über mir haben werde, hunderttausende Menschen vor mir, die meine Musik und damit auch einen Teil von mir lieben, und Menschen neben mir auf der Bühne, die davon träumen einmal so viele Menschen zu ihren Songs singen zu hören, wie ich es schaffe. Für einen Moment fühlt es sich schrecklich albern an. Wieso ist das so? Der seltsame Schleier, dieses komische graue Gefühl in meiner Brust lässt sich nicht abschütteln.
Noch einmal genieße ich die kühle Luft, atme sie tief ein und steige vorsichtig von dem Klodeckel. Ohne mit meinem Kopf irgendwo anzuecken, kraxele ich also aus dieser kleinen Toilette und stehe Sekunden später in einem Flur voller Menschen, die um mich herum wuseln, wie in einem Bienenstock. Diese Hektik sollte ich gewohnt sein. Doch jedes Mal aufs Neue, ist genau diese Hektik, das, was mich so nervös macht.
„Taylor! Da bist du ja!" Benji, meine bessere Hälfte, ohne welchen ich im Terminchaos versinken würden, Benji, mein wandelnder Organizer, mein Lieblingsterminkalender, bahnt sich einen Weg durch die Techniker und alle anderen Menschen, die hier umher irren, zu mir hindurch. Mit seinem Lieblingsaccessoire, dem Klemmbrett und dem Selena Gomez Kugelschreiber, steht er vor mir und redet auf mich ein. Ich denke an die Fans, die schon Stunden auf mich warten, die schon fleißig bei meiner Vorband mitsingen und sich freuen, an Meredith, der ich noch ein neues Halsband kaufen musste, an Olivia, deren Impfung bald fällig war. Ich denke an alles und doch an nichts. Mein Magen rumort. Bestimmt die Aufregung
„- und morgen musst du noch zu dem Dreh mit Ellen DeGeneress, dieses Katzenvideo-Irgendwas und du musst noch Videos von Olivia und Meredith an die Produktion oder wahlweise an mich schicken und du musst den Reißverschluss deiner Schuhe richtig zu machen, ach TayTay."
Alles um mich herum wuselt an mir herum, Benjamin redet auf mich ein, fummelt an meinen Schuhen und in meinen Ohren begann es zu rauschen. Jemand zupft an meinem Haar, es reißt am hinteren Teil meines Kleides, ich werde verkabelt und laufe durch eine Wolke an Parfum. Gucci, denke ich.
„Hast du mir zugehört?"
„Ich habe Hunger", meinte ich abwesend. Als ich mich umdrehe, hält er mich am Handgelenk fest. „Hier, kaue den Kaugummi. Wir haben nur noch fünf Minuten. Soll ich nach der Show mit dir essen gehen? Violett hat sowieso Spätschicht." Ich nicke und lasse mich von ihm zum Bühnenaufgang schieben.
„Hals und Beinbruch!"
Und schon werde ich mit der Plattform nach oben auf die Bühne katapultiert, halte das Mikrofon an meine Lippen und beginne zu singen. Es rauscht in meinen Ohren. Wie benommen stehe ich dort und schaue mich um. Eine riesige Menge, hell erleuchtet durch kleine Taschenlampen. Ich direkt direkt vor meinem persönlichen Himmel auf Erden; es ist wunderschön.
Dieser Kloß, der sich vor jeder Show in meinem Hals bildet, die Nervosität, die sich nicht ablegen lässt. Alles verfliegt in dem Moment, indem ich auf die Bühne gehe, die Stimmen der Menschen klar und deutlich vernehme und mich einfach meiner Musik hingebe. Für kein Geld der Welt würde ich dieses Gefühl von Freiheit und Entfaltung aufgeben wollen! Niemals! Die Anspannung, perfekt zu sein ist das einzige, was mich nicht los lässt.
Ich verstand die Künstler nur schwer, die sich nach fünf bis zehn Jahren selbst aufgaben. Der Stress ging an mir auch nicht vorbei. Selbstverständlich nicht, ich war keine Maschine! Doch es war erträglich. Ich hatte trotz allem meine Balance gefunden.
Kurz vor Ende der Show, bekommt Rachel ihren Auftritt. Wenige kannten sie bis dato. Hatte sie geglaubt. Meine Fans begrüßen sie, wie es sich gehört: Lautes Geschrei, Pfiffe und Klatschen. Unsicher stolpert Rachel zu mir auf die Bank, lässt sich nieder und wartet auf ihren Einsatz. Sie schlug sich großartig! Die Atmosphäre bereitet selbst mir nach all den Jahren im Showbiz noch eine Gänsehaut. Philadelphia war bereits in die Nacht eingehüllt und so kamen die vielen Lichter der Handys besonders zur Geltung. Einfach Traumhaft.
„Philly, Ihr wart großartig! Vielen Dank für diesen wunderschönen Abend!"
Die Menschen applaudieren, jubeln und freuen sich. Die Energie ist unglaublich. Völlig außer Puste stiefele ich die Treppe nach unten, muss aufpassen mein Gleichgewicht nicht zu verlieren und lasse mich im Backstagebereich auf dem Ohrensessel nieder. Das Rauschen in meinen Ohren und das sanfte Flimmern vor meinen Augen, lassen meinen Puls ein wenig in die Höhe schießen. Bevor mich jetzt irgendjemand stören kann, schließe ich die Tür ab und krieche erneut zurück in den weichen Sessel. Schnaubend wische ich mir den Schweiß mit einem Handtuch von der Stirn. Trotz, dass es bereits Oktober war, ist es warm. Vor allem die Scheinwerfer verstärken diese Wirkung. Meine Schminke ist gänzlich verwischt. Generell sehe ich momentan furchtbar aus. Also schminke ich mich ab, rufe während dessen Cara an und frage nach, ob sie nicht ein wenig Zeit für mich hat. Ich hätte bloß ein schlechtes Gewissen, wenn Benji schon wieder mit mir Essen ging, statt mit seiner Freundin Violett. Doch bei Cara meldet sich bloß die Mailbox. Also streife ich mir bloß einen alten Pullover und eine verwaschene Jeans über.
Auf dem Weg in die Tiefgarage begleitet mich mein Personenschützer Steve und Benji, der mich noch einmal belehrt, was noch alles zu tun ist, bevor ich mich mit einem Buch in die Badewanne legen kann. Gedanklich befinde ich mich allerdings schon im Hotel. Ich kann das Schaumbad gerade zu riechen und freue mich auf die Augenpads, die ich heute Morgen in dem kleinen Kühlschrank neben der Minibar geparkt habe. Die Vorfreude über die riesige Badebombe, die sich noch in einem meiner Koffer befindet, ist riesig.
„Geht das klar?" Ich sehe zu Benji rüber und nicke - was hatte er noch gleich gesagt?
„Gut. Dann hab einen schönen Abend." Er nimmt mich in die Arme und wir verabschieden uns. Als mein kleiner aber feiner schwarzer BMW in Sichtweite kommt, drehe ich mich zu Steve um und sehe, wie er in genau diesem Moment beherzt gähnt. Die Augenringe unter seinen sonst so strahlend, blauen Augen sind gigantisch. „Den Rest schaffe ich auch alleine."
„Sicher?" Er hadert mit sich selbst, doch ich schenke ihm ein kleines Lächeln und nicke. „Du musst mich nicht ins Hotel fahren, ich schaffe das schon. Außerdem bist du doch auch müde." Steve stockt und überlegt. „Wenn du deine Familie schon herholen kannst, dann verbringe nicht deine ganze Zeit mit mir, sonst wird Charlie noch eifersüchtig", versuche ich es mit einem kleinen Scherz. Schließlich nickt er und verabschiedet sich. Ich brauche meine Ruhe.
Endlich bin ich alleine. Zufrieden dank des erfolgreichen Abends und furchtbar müde krame ich also nach meinem Schlüssel.
„Hey." Ich sehe auf, drehe mich aber nicht um. Habe ich mir die Stimme nur eingebildet? Das Röcheln hinter mir, zerstört meine Hoffnung jäh. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals und ich spüre, wie meine Hände beginnen zu schwitzen. Langsam, nur ganz langsam drehe ich mich um und erschrecke mich zu Tode, als ich eine Silhouette erkenne und lasse prompt den Schlüssel fallen.
Eigentlich hätte ich schreien müssen, Steve hätte mich vielleicht noch gehört, aber kein Laut kommt über meine Lippen. Meine Kehle ist mit einem Schlag staubtrocken und ich erinnere mich an einen grauen Tag im Herbst letzten Jahres, an dem ich meine gute Freundin in den Gerichtssaal begleiten musste. Es wurde ihr Überfall mit anschließender sexueller Belästigung verhandelt. Traurig und eigentlich eklig, dass mir genau das in diesem Moment durch den Kopf schoss.
Doch anstatt irgendwelcher Anzeichen in diese Richtung bückt sich der ungepflegt und kaputt aussehende Mann und hebt mir mit einem Stück Abstand den Schlüssel auf. Als er seine Handfläche ausstreckt, um mir den Schlüssel zu reichen, hebt er ganz langsam, beinahe schon peinlich berührt den Kopf. Die nasse, schwarze Kapuze rutscht ein Stück nach unten und mein Herz setzt für einen Moment aus.
„Harry?"
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