10|Ein etwas anderes Vorstellungsgespräch (1)
Die nächste Woche verging wie im Flug. Ich traf mich Mittags zwischen meinen Vorlesungen mit Liam in der Mensa und am Nachmittag mit meinen Kommilitonen in der Bib, um Mitschriften und die Lösungen unserer Übungen miteinander zu vergleichen. Zwischendrin genoss ich die Tatsache, dass ich Zayn wohl nicht mehr so schnell sehen musste -wo auch, es würde schließlich keinen Anlass mehr geben-, ging meinen Pflichten in der WG nach und zockte mit Liam und Sandy Mario Kart auf unserer Wii (ja, ok, Liam hatte sie bezahlt, aber er hatte von Anfang an deutlich gemacht, dass wir sie auch als unsere ansehen durften).
So kam es mir vor, als wäre Harrys Geburtstagsparty statt einer ganzen Woche erst wenige Tage her, als ich am kommenden Samstagvormittag auf dem Weg zu meinem Vorstellungsgespräch war und vor Nervosität kaum richtig atmen konnte.
Liam hatte darauf bestanden, mich noch bis zur Bushaltestelle zu begleiten, um mich dort dann mit seiner Umarmung halb zu zerquetschen, als er mir "viel Erfolg" gewünscht hatte.
"Hey, mann", hatte ich gesagt und gelacht, "Das ist echt keine große Sache. Ich soll mich buchstäblich einfach nur mit dem Kind gut verstehen, dem ich Nachhilfe im fünftklass-Mathe geben soll, das krieg ich schon gebacken."
Das Selbstvertrauen, dass ich bei diesem Satz noch gehabt hatte, wünschte ich mir jetzt verzweifelt zurück, denn mit jedem Busstopp, den ich meinem Ziel näher kam und jeder Sekunde, die die Zeit weiter auf 11:30 Uhr zurückte, rebellierte mein Magen ein bisschen mehr, wurden meine Hände ein bisschen schwitziger, nahm das unruhige Klopfen meines Herzens ein bisschen an Fahrt auf.
Am liebsten hätte ich mich selbst an den Schultern gepackt und einmal kräftig zur Besinnung geschüttelt, denn das hier war bei weitem nicht mein erstes Vorstellungsgespräch und für gewöhnlich hatte ich mir nie so viele Gedanken gemacht. Aber hier war die Sache auch die: Ich wollte diesen Job. Ich wollte ihn unbedingt.
Seit ich am schwarzen Brett eines Supermarktes (in den ich nur zufällig auf dem Heimweg von keine-Ahnung-mehr gegangen war, weil Liam mir geschrieben hatte, dass er gerade die allerletzte Rolle Toilettenpapier in der gesamten WG angebrochen hatte) den kleinen blauen Abreißzettel gesehen und mir einen der letzten Papierstreifen mit den Kontaktdaten ins Portemonnaie gesteckt hatte, wollte ich diesen verdammten Job haben.
Die Adressatin meiner Bewerbung war eine Mutter mit einem sehr sensiblen Sohn, der wohl große Schwierigkeiten hatte, dem Unterricht gerade in Mathe zu folgen und daher einen geduldigen und verständnisvollen Nachhilfelehrer brauchte, der ihm dabei half, in der Schule nicht mehr ganz so sehr hinterher zu hängen.
Nun, geduldig war zwar nicht das erste Wort, mit dem ich mich selbst beschreiben würde, aber bei Kindern fiel es mir deutlich leichter, meine Ruhe zu bewahren - besonders, wenn man mit ihnen sowieso etwas feinfühliger umgehen musste. Mathe war schon immer mein stärkstes Fach gewesen und laut meinen Kommilitonen war ich im Erklären einfach unschlagbar.
Demnach gab es zumindest theoretisch keinen Grund für mich, so verflucht nervös zu sein. Ich war der perfekte Kandidat für diesen Job. Vorausgesetzt natürlich, ich verstand mich mit meinem Schüler -Yuri hieß er, ich erinnerte mich daran, seinen Namen auf dem Abreißzettel gelesen zu haben-, aber auch dabei hatte ich eigentlich ein gutes Gefühl.
Warum ich also trotzdem durchgehend dabei war, meine klebrigen Hände zu kneten und sie alle paar Minuten an meinen Oberschenkeln abzuwischen? Tja, das hätte ich selbst gerne gewusst.
Alles ruhige Atmen und Wasser trinken hatte nichts gebracht (mit zweitem hatte ich mich sowieso etwas zurückgehalten, da ich definitiv keine Lust darauf hatte, anzukommen und sofort nach der Toilette fragen zu müssen), dafür hatte ich aber ungefähr auf halber Strecke angefangen, mir auch noch über mein Outfit Gedanken zu machen.
War ich underdressed dafür, dass ich gerade zu einem Vorstellungsgespräch fuhr? Um ehrlich zu sein, hatte ich heute Morgen eher weniger über meine Kleidungswahl nachgedacht. Ich trug ein recht schlichtes weißes Poloshirt, das ich mir in eine meiner besten Jeans gesteckt hatte, dazu dunkle Sneakers und meine dicke blaue Winterjacke (es war über Nacht kalt wie sau geworden und Liam hatte mich Zuhause sogar noch dazu gezwungen, Handschuhe anzuziehen - im Nachhinein war ich ihm dankbar, denn sonst hätte ich mir wohl schon auf dem Weg zur Bushaltestelle die Finger abgefroren).
Ein Stunde zuvor war mir das gesamte Outfit noch vollkommen passend vorgekommen, jetzt aber fühlte ich mich sehr leger. Hätte ich vielleicht wenigstens ein Hemd anziehen sollen? Und andere Schuhe? War eine blaue Jeans professionell genug? War eine Jeans überhaupt passend? Oder hätte ich vorhin lieber zu einer Anzughose greifen sollen?
Ich war mir ziemlich sicher, dass die einzige ordentliche Anzughose in meinem Schrank noch von meinem Schulabschluss vor mehreren Jahren stammte und ich nie geplant hatte, sie vor meinem Abgang von der Uni nochmal herauszuholen. Nun, vielleicht wäre es nicht blöd gewesen, diesen Vorsatz noch einmal zu überdenken, bevor ich heute Vormittag das Haus verlassen hatte, denn jetzt war es definitiv zu spät dafür.
Diese Erkenntnis gefiel mir ganz und gar nicht, aber besonders viel Zeit, mich deswegen noch zu ärgern, blieb mir sowieso nicht, denn schon die nächste Haltestelle war meine und hastig packte ich meine wenigen Sachen wieder in meine Jackentaschen, um kurz darauf aus der vorderen Bustür und auf den Gehweg zu stolpern, wo ich einen Schritt beiseite trat, ehe ich mein Handy entsperrte, auf dem ich schon meine Zieladresse in Google Maps eingegeben hatte. Ich sah mich zur Orientierung einmal kurz um, atmete ein weiteres Mal tief durch und machte mich auf das letzte Stück Weg zu meinem potentiellen neuen Job.
Die Gegend, in der ich mich befand, war reich. Helle Häuser auf großen Grundstücken, umgeben von noch größeren Hecken und noch helleren Steinmauern, mit verschnörkelten Eingangstoren aus schwarzem Metall, die einen winzigen Blick auf die Anwesen dahinter ermöglichten und mir vor Augen führten, wie verdammt pleite ich war.
Aber gut, ich war hier ja schließlich für ein Bewerbungsgespräch, das hoffentlich (über Umwege) zu einem etwas gefüllteren Konto führen würde...
Das Tor der von mir angepeilten Anschrift stand wie eine Einladung offen, trotzdem kontrollierte ich bestimmt zehnmal, ob die Hausnummer tatsächlich stimmte - fünf davon, weil ich nochmal wirklich sichergehen wollte und die anderen fünf Male, weil ich zu viel Schiss davor hatte, tatsächlich einfach reinzugehen.
Irgendwann gab ich mir schließlich doch einen Ruck und betrat den weißen Steinweg, der geradezu auf die etwas höher gelegene Haustür zuführte. Diese war durch mehrere dunkle Stufen zu erreichen, die in der Luft zu schweben schienen und ein Stück weiter links befand sich ein breites Fenster, das aber zu weit oben war, um mehr als eine helle Wand und eine Kronleuchter-ähnliche Lampe zu sehen.
Ich schluckte. Wie viel Geld musste man haben, um sich eine solche Innenausstattung leisten zu können? Nein!, rief ich mich im nächsten Moment zur Vernunft und schüttelte über mich selbst empört den Kopf. Ich würde sicher nicht jetzt anfangen, mich über den Unterschied der Steuerklassen von mir und den Besitzern dieses Hauses verrückt zu machen!
Stattdessen stieg ich die breite Treppe bis zur Tür hinauf, wo ich einen kurzen Moment noch versuchte, meinen nervösen Herzschlag etwas runterzufahren, ehe ich entschlossen meine Hand hob und auf die Klingel neben dem Schild mit der Namensaufschrift "Akarin" drückte.
Erst dann fiel mir ein, dass man sich ja zur Begrüßung normalerweise die Hand gab und hastig rupfte ich mir die Handschuhe von den Fingern, mit denen ich mir fast reflexartig noch einmal kurz durch die Haare fuhr, ehe die Tür auch schon geöffnet wurde und eine dunkelhaarige Frau in einem grauen Kaschmirpullover und mit riesigen Klunkern an den Ohren dahinter erschien, die mich breit anlächelte.
Ich beeilte mich, das Lächeln zu erwidern.
"Hallo", sagte ich und stopfte die Handschuhe grob in meine Jackentasche, während ich versuchte, mich möglichst leise zu räuspern. "Niall Horan. Ich bin hier für das Vorstellungsgespräch."
Die Frau nickte. "Das hab ich mir schon fast gedacht. Freut mich sehr, ich bin Sasha." Dass sie mir nur ihren Vornamen nannte, wertete ich als ein positives Zeichen und optimistisch gestimmt ergriff ich ihre Hand, die sie mir reichte, bevor sie die Haustür einladend weiter öffnete. "Komm doch rein. Yuri braucht noch ein paar Minuten, aber du kannst dich gerne im Flur kurz hinsetzen, bis er soweit ist."
Sasha machte einen Schritt nach hinten, sodass ich eintreten konnte und-
Holy shit! Mein Mund klappte auf, als mein Blick über den "Flur" wanderte, der mehr einer Eingangshalle glich, als allem anderen. Die Decke musste fast vier Meter messen, die Wände waren in einem warmen Sandton gestrichen und meine feuchten Schuhsohlen ruinierten gerade den dunkelroten Teppichboden unter meinen Füßen. Mehrere Meter vor mir führte eine breite Treppe in ein oberes Stockwerk, zu meiner rechten stand eine Garderobe aus edel aussehendem Holz und auf meiner linken Seite (dort, wo der massige Kronleuchter von der Decke hing) befand sich eine Lounge mit sandfarbenen Sesseln, einem gläsernen Couchtisch und einem breiten Sofa.
Und auf ebendiesem Sofa saß...
"Zieh deine Jacke aus und mach es dir noch einen Moment gemütlich, ja?", sagte Sasha und schnell sah ich wieder zu ihr. Sie lächelte. "Ich schau kurz, wie weit Yuri ist und dann könnt ihr euch gleich erstmal kennen lernen."
Sie drehte sich um und ging in Richtung Treppe. Ich sah ihr nach, bis sie verschwunden war, dann wirbelte ich zu dem Typen auf der Couch herum.
"Was machst du hier?", blaffte ich ihn an.
Zayn musterte mich gelangweilt. "Das geht dich warum genau etwas an?", wollte er wissen.
Und tja. Das tat es nicht.
Aber er war hier und ich war stur und was ich jetzt nicht gebrauchen konnte war, mir während meines Vorstellungsgesprächs ständig Gedanken darüber zu machen, was Zayn in Sashas Haus zu suchen hatte.
"Weil ich hier tatsächlich für etwas Wichtiges bin und bezweifle, dass du regelmäßig in Häusern von reichen Menschen abhängst", gab ich deshalb zurück und ließ meinen Blick über seine ziemlich ausgelatschten Boots und den abgewetzten dunklen Mantel über seinem Arm gleiten.
Zayns Augenbrauen wanderten in die Höhe. "Du siehst auch nicht gerade so aus, als würdest du hier rein gehören", sagte er, "Und was genau soll diese wichtige Sache sein, für die du hier bist?"
"Das geht dich warum genau etwas an?", wiederholte ich seine Worte von vorher und verschränkte die Arme vor der Brust.
Zayn schnaubte. "Du kannst echt nerven, Blondie."
Ich kniff meine Augen zusammen und setzte zu einer Antwort an (etwas im Sinne von "Sag das noch einmal und ich kastriere dich"), aber Zayn kam mir zuvor.
"Jaja, keine Spitznamen", sagte er und wedelte mit der Hand, ehe er zu einem der Sessel nickte. "Und jetzt setz dich endlich irgendwo hin, du machst mich wahnsinnig, wie du da rum stehst."
Seltsamerweise kam ich dem tatsächlich nach und ließ mich in die beigen Polster fallen, ehe ich mich allerdings wieder ein Stück aufrichtete - diese Stühle schienen mir zum Lümmeln zu fancy zu sein.
"Also", meinte ich dann und sah Zayn an. "Willst du mir jetzt offenbaren, warum du hier bist oder soll ich vielleicht raten?"
Meine Stimme triefte vor Sarkasmus, aber der Schwarzhaarige grinste nur schief - warum auch immer er so gute Laune hatte. Es irritierte mich, wo ich ihn doch bisher kaum lächeln gesehen hatte.
"Bitte", sagte er jetzt und legte seinen Arm über die Lehne der Couch. "Das wird amüsant."
"Ich bin doch nicht deine persönliche Bespaßung!", schnaubte ich.
Für so viele Dinge konnte er gar nicht hier sein. Hatte er irgendwas geliefert und wartete auf seine Bezahlung? Hatte er etwas repariert? War er Ebay-Kunde?
Nein, das konnte es nicht sein. Ich musterte ihn. Und dann kam mir ein Gedanke, der wohl den letzten Rest eines Lächelns aus meinem Gesicht gewischt hätte und ich setzte mich ruckartig komplett aufrecht hin.
"Nein", sagte ich laut.
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