Melody Rosenberg's Vermächtnis pt9
Der Alarm will einfach nicht aufhören.
Piep piep piep...
Nein, ich will nicht aufwachen, es ist alles so furchtbar! Los komm, hol mich, Gevatter Tod! Und lass mich bei Tom. Ich öffne die Augen und stöhne. Die Sonne scheint hell ins Fenster und ich muss blinzeln. Runzele die Stirn. Die burgundfarbenen Vorhänge wehen leicht hin und her, da das Fenster auf Kipp ist.
Ich höre ein Schnarchgeräusch und drehe mich um. Kai schläft tief und fest, hört sogar den Wecker nicht, der immer noch bimmelt. Ich greife danach und schalte ihn aus, es ist halb sieben und ich bin todmüde. Schließe die Augen. Sofort überfällt mich die Panik, die unendliche Traurigkeit des merkwürdigen Traumes wieder und ich springe schnell aus dem Bett. Mein Herz rast und mein Kopf ist nicht bereit, in das Hier und Jetzt zurück zu kommen und zu begreifen, das ich nur schlecht geträumt habe, was ich öfter tue, wenn ich meine Regel habe. Besonders dann! Ich setzte mich auf die Toilette und lege mein Gesicht in meine Hände, schluchze auf. Das Gefühl, alles verloren zu haben, sitzt tief. Und mein erster Gedanke ist Tom. Er wartet noch auf meinen Anruf wegen den Containern, gestern war es zu spät, als ich es mit Kai zu Ende diskutiert hatte. Wir hatten uns furchtbar gestritten und erst die Aussicht auf eine Stange Geld hatte Kai einlenken lassen. Denn er will den doppelten Arbeitslohn nehmen, eine Art „Erschwerniszulage" sagte er, ich solle das mit dem „eingebildeten Hollywoodhomo" besprechen und wenn er es ablehnen würde, wären wir raus aus der Nummer. Ich hatte Kai als ein berechnendes Megaarschloch beschimpft und schließlich war er runter in die Kneipe gegangen. Da heute Samstag ist, muss er nicht arbeiten, wohl aber ich. Doch ich werde mich krank melden, beschließe ich, denn ich zittere am ganzen Körper, nicht nur wegen der wahnsinnigen Unterleibskrämpfe, die nicht annähernd so schlimm sind, wie meine psychische Verfassung! Ich starre auf mein iPhone und fange wieder an, zu weinen. Öffne mein Adressbuch und atme tief durch. Ich weiß, es ist früh, aber ich muss es jetzt hinter mich bringen. Nein, ich muss seine Stimme hören, die mir sagt, das alles gut ist, das alles noch so ist, wie es immer war. Auch, wenn wir seit drei Jahren nicht mehr direkt miteinander gesprochen haben. Tom nimmt nach zweimal Klingeln ab, er klingt außer Puste. Ich lächle, denn ich sehe ihn vor mir, verschwitzt, in kurzer Hose und Shirt. Ich höre den Wind rauschen, oder Wellen.
„Hey, Anne. Schön, das du anrufst." keucht er.
„Hey. Störe ich dich auch nicht?"
„Hätte ich dann gesagt, das ich mich über deinen Anruf freue?"
„Nein. Sorry, ich bin nur so..." völlig im Arsch, denke ich den Satz zu Ende.
Und dann kann ich es nicht mehr stoppen. Es bricht aus mir heraus, wie eine Explosion, ich bekomme kaum noch Luft und japse, schluchze laut, greine. Je mehr ich auch versuche, die Heulattacke zu unterdrücken, desto schlimmer wird sie und ich höre Tom leise:
„Anne...oh, Gott. Was ist?" sagen.
Ich kann nicht antworten, es kommen nur mit hektischen Atemzügen verbundene Laute aus meinem Mund, die sich kaum noch menschlich anhören. Sofort gesellt sich auch noch Scham zu dem ganzen Gefühlschaos und ich bin versucht, einfach aufzulegen, doch dann höre ich Tom sanft sagen:
„Hör zu, ich komme rüber. Nach Berlin gehen dauernd irgendwelche Flüge, es wird nicht lange dauern. Halt durch, Kleines, ja?"
Meine Gedanken wirbeln herum und sind kaum noch zu bändigen. Wieso spricht Tom mit mir, als wären wir...? Ich japse:
„Nein, du kaaahannst d...doch nicht..."
„Doch, ich kann. Vielleicht hat es in der letzten Zeit nicht so ausgesehen, aber du bist immer noch einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben, Anne. Nun versuche, zu atmen...komm, atme mit mir. Ein... aus. Ein...aus. Ja, so ist gut. Kriegst du es hin, bis ich bei dir bin?"
„Ja." hauche ich. „Danke."
„Dafür sind Freunde da. Bis später. Wenn was ist, ruf nochmal an, ich schreibe dir, wenn ich im Flieger sitze, okay?"
Ich nicke.
„Anne?" fragt Tom.
„Oh, sorry. Ja, bis später." antworte ich leise.
Er legt auf und ich starre wieder auf das Display. Dann rufe ich auf der Arbeit an. Durch das gezielte Atmen geht es ein wenig besser, doch die Schmerzen sind noch da und die Blutung hört einfach nicht auf, sodass ich heute bestimmt keine acht oder neun Stunden stehen kann. Arnold kennt das schon, er wünscht mir gute Besserung und erinnert mich an unser Gespräch. Ich seufze. Nachdem ich mich einigermaßen gut verpackt habe, schleiche ich mich aus der Wohnung und fahre zu meinen Eltern in den Nobelstadtteil Berlin's. Ich mag es hier überhaupt nicht. Und ich passe auch nicht wirklich her, werde angestarrt, doch ich hatte gerade heute keine Lust, etwas mehr Farbe in meine Kleidung zu bringen. Trage eine schwarze Bikerhose und ein dünnes Top, da es heiß ist, was noch mal mehr zu meinem Unwohlsein beiträgt. Doch ich muss mit meinem Vater sprechen, je eher, desto besser. Muss mein Leben neu sortieren, was schon mit dem Telefonat mit Tom begonnen hatte. Das Hausmädchen öffnet, sie mustert mich abschätzig und zieht die Augenbrauen hoch. Sie ist neu, deshalb kennt sie mich nicht. Ich bin seit vier Wochen nicht mehr hier gewesen und Mama wechselt die Mädchen, wie ihre Unterwäsche.
„Was wollen sie? Wir geben nichts." sagt sie und ich seufze.
„Ich bin Anne Oerding. Ich möchte meine Eltern besuchen, ich hoffe, sie sind schon wach?"
Sie wird blaß.
„Oh, entschuldigen sie vielmals. Ich hatte sie...mir anders vorgestellt, Frau Oerding. Kommen sie herein. Ihr Vater ist im Wintergarten, ihre Mutter hat Migräne und will niemanden sehen."
Passt ja prima, zu ihr wollte ich auch gar nicht. Ich folge der Haushälterin, die sich mir als Maria vorgestellt hat, durch die große Villa und verdränge die aufsteigenden Erinnerungen an aufgezwungene Tütü's und Heißwickler. Sofort bekomme ich wieder Schmerzen. Ich lege meine Hand auf meinen Unterleib und atme hinein. Mein Vater sieht müde und erschöpft aus, fast so kaputt, wie ich. Als hätten ihn auch Albträume heimgesucht. Ich umarme ihn fest und er tätschelt meinen Rücken.
„Na, na. Was ist los, mein Kind?" brummt er.
Schon wieder schießen mir Tränen in die Augen, doch da wir uns noch halten, sieht er es nicht und ich atme dagegen an.
„Ich hab dich lieb." flüstere ich.
„Ich dich auch, mein Herz. Was machst du so früh hier? Musst du nicht arbeiten?"
„Mir geht es nicht gut." seufze ich und setze mich ihm gegenüber in einen der gemütlichen Rattansessel. „Die Unterleibsgeschichte, wie immer."
„Na, da wird Regina aber enttäuscht sein!" lächelt er. „Ich habe sie gestern Abend auf einem Empfang getroffen. Die neue Farbe steht ihr sehr gut und sie hat mal wieder in höchsten Tönen von dir geschwärmt."
Er schaut mich stolz an und ich lächle zurück. Regina ist Frau Beimer, die nahezu täglich zu mir in den Salon kommt.
„Naja, ich habe auch ein Jahr gebraucht, sie dazu zu überreden." schmunzele ich. „Wenn ich ihr nur noch die altmodische Wasserwelle ausreden könnte, wäre es perfekt."
„Nun lass ihr doch den Spleen. Haben wir nicht alle einen? Schau, der Rotfink da hinten. Der kommt immer zur gleichen Zeit."
Mein Vater's „Spleen" ist die Ornithologie. Auch jetzt hat er ein aufgeklapptes Buch vor sich liegen.
„Hübscher Vogel." lächele ich.
„Ja, wirklich. Soll Maria dir etwas bringen? Hast du schon gefrühstückt, Kind?"
Ich schüttele den Kopf. Vater läßt uns Kaffee und Rührei bringen und ich überlege, wie ich ihn fragen soll. Sein dunkler Blick trifft meinen und er legt den Kopf schief.
„Du siehst müde aus. Irgendwas bedrückt dich doch. Ist es die Arbeit? Du bist nicht glücklich dort, stimmt es?"
Ich nicke. Er fährt fort:
„Nun, ich habe ja schon länger begriffen, das wir dich nicht zu irgendwas zwingen können, was du nicht willst. Ich wäre natürlich glücklicher gewesen, wenn du in die Wirtschaft gegangen wärst. Doch ich verstehe nicht, warum du dich nicht auch selbständig machst."
Ich blicke ihn ernst an. Bingo!
„Ich glaube nicht, das ich staatlich gefördert werden würde, wie Kai, denn die Leute wissen doch, das ich eure Tochter bin." entgegne ich.
Nun guckt er leicht irritiert. Ich sehe förmlich, wie es hinter seiner Stirn arbeitet. Plötzlich piept mein Telefon, es ist Tom.
„Komme um ca. 13.30 in Tegel an. Holst du mich ab?"
„Natürlich. Ich freue mich, Tom." schreibe ich zurück.
„Mit wem schreibst du?" fragt Papa plötzlich. „Du lächelst so fröhlich, so guckst du nie, wenn du mit Kai redest."
„Tom." antworte ich.
„Ihr habt noch Kontakt?"
Ich nicke.
„Ich mich auch. Geht's dir ein wenig besser?" kommt von Tom zurück.
„Ja, danke. Ich bin bei meinen Eltern..."
„😱" schreibt Tom und ich lache leise.
Nun, er musste sich ständig mein Gejammer darüber anhören, wie unfair sie mich behandeln würden.
„Später...🤗" schreibe ich zurück und auch er schickt mir eine Umarmung.
Dann schaue ich meinen Vater an, der wieder den Feldstecher vor Augen hat.
„Tut mir leid. Aber Tom kommt später und wir mussten noch etwas klären." entschuldige ich mich.
Er nimmt das Fernglas runter und schaut mich ernst an.
„Es tut mir leid, Liebling." sagt er leise und eine Träne glitzert in seinem Auge.
„Was? Das Tom her kommt?" frage ich verwirrt.
„Nein. Das ist gut, er tut dir gut, das sehe ich. Es tut mir leid, das ich so starrköpfig war und auf deine Mutter gehört habe, was dich betrifft. Gegen das Testament kann ich nichts tun, aber wir hätten dich finanziell unterstützen sollen, und nicht Kai. Doch...naja, wir dachten, das du dadurch zur Vernunft kommst und ihn heiratest, deinen Beruf aufgibst und...naja, du weißt, was deine Mutter erwartet. Es war ein Fehler, Liebling..." weint er leise.
Ich stehe auf, nehme ihn in den Arm und weine ebenfalls. Naja, es war sowieso schon hart, die Tränen ständig zu unterdrücken, sie wollen einfach raus und ich denke, das wird nicht das letzte Mal für heute sein!
Nach einer Weile befreit sich Papa sanft aus der Umarmung und schaut mich ernst an.
„Wir haben Kai das Startbudget gegeben, nicht der Staat. Hat er dir das nicht erzählt?"
Ich schüttele den Kopf und Papa verzieht sein Gesicht.
„Das hätte ich nicht von ihm gedacht. Er ist doch so ein netter Kerl..." murmelt er.
„Ja, hier. Er muss ja nett zu euch sein, Papa. Aber ehrlich gesagt, stimmt es bei uns schon lange nicht mehr, und ich bin auch daran Schuld. Ich habe ihn als selbstverständlich hingenommen und traue mich nicht, etwas zu verändern, weil ich Angst davor hatte, dann alleine zu sein und...naja, ihr wäret dann wohl auch ziemlich sauer gewesen."
Papa schüttelt den Kopf.
„Kind, quäle dich doch nicht mit diesem Mann, der es nicht mal fertig bringt, dir die Wahrheit zu sagen. In einer Beziehung gehört es dazu, über das Geld zu reden, über so etwas, ich bin wirklich...schockiert, das er es dir verheimlicht hat! Nein, von nun an sollst du dich hier immer willkommen fühlen, egal, wie du dich entscheidest." lächelt er. „Also, von mir aus gesagt. Ich werde auch mal mutig sein und deiner Mutter Widerworte geben, auch, wenn sie dann für das nächste halbe Jahr Migräne haben wird."
Ich umarme ihn sanft.
„Ich hab dich so lieb, Papa. Danke."
„Wofür? Das ist selbstverständlich. Und wenn du deinen eigenen Laden willst, sollst du ihn haben."
„Und Kai?"
„Nun, er schuldet mir noch sehr viel Geld, er hat die letzten Raten nicht bezahlt. Hat er dir das auch nicht erzählt?"
Ich schüttele den Kopf.
„Er redet da gar nicht drüber, obwohl ich ihm oft angeboten habe, die Bücher zu machen. Aber er hat mich nie auch nur reinschauen lassen."
Papa seufzt.
„Ach, Kind. Was für eine verworrene Geschichte, hm? So, nun ist das Rührei kalt. Ich wäre für Pfannkuchen als Nachspeise, was meinst du?"
Ich verpasse ihm einen dicken Schmatzer auf die Wange und er kichert. Ja, Papa ißt genauso gerne, wie ich! Während wir auf den zweiten Frühstücksgang warten, unterhalten wir uns über meine Zeit in England, vergangene Reisen und auch über seine Vogelwelt. Beim Essen hören wir die „Zauberflöte", in die er mich schon mit sechs Jahren geschleppt hatte. Damals hatte ich Klassik immer mit Ballett verbunden, wozu mich meine Mutter gezwungen hatte, und habe diese Musik gehaßt, doch nun höre ich sie gerne. Schließlich ist es halb eins und mein Herz beginnt, aufgeregt zu klopfen. Der Chauffeur meiner Eltern bringt mich zum Flughafen, unterwegs kriege ich eine Message von Kai. Sofort denke ich daran, das ich mit ihm reden muss und bekomme Bauchschmerzen.
„Falls du dich beruhigt hast, wäre es nett, wenn du mir kurz schreibst, was der Sack gesagt hat. Ich bin heute Abend nicht da, wenn du von der Arbeit kommst. Bin mit Leon verabredet, wir müssen was wegen der Firma regeln. Kann länger dauern. Lieb dich, Kai."
Ja, klar. Ich bin fast versucht, ihm das mit dem Geld zu schreiben, doch ich lasse es.
„Ich bin nicht auf der Arbeit, mir geht es nicht gut. Ich hole Tom vom Flughafen ab." schreibe ich zurück und sofort klingelt das Telefon.
„Wie bitte? Was soll das?" keift Kai los. „Ich bin noch fertig von gestern, nur deinetwegen musste ich mich betrinken und ich will meine Ruhe!"
Ich stöhne. Der Chauffeur lächelt mich im Rückspiegel an und deutet mir, das wir da sind. Ich nicke, bedanke mich und steige aus.
„Es ist mittag, du hast genug geschlafen und wir müssen dringende Sachen besprechen." antworte ich ruhig.
Kai meckert:
„Das ist nicht dringend, so eine beschissene Idee! Wenn dieser Homo soviel Geld hat, soll er doch andere Leute bezahlen!"
„Ja, genau das werde ich mit ihm regeln. Du hast ja anscheinend keine Lust darauf, das..."
Kai sagt schnell:
„Nein! So meinte ich das nicht! Ich meine, wenn er das Geld zahlt, ist die Sache geritzt."
„Wir sind gleich zuhause, dann lass uns darüber reden. Bis dann!" sage ich fröhlich und lege auf, bevor er irgendwas erwidern kann.
Dann setze ich mich in den Wartebereich und versuche, mein immer noch wild flatterndes Herz zu beruhigen. Ich bin mir sicher, hätte ich den schrägen Albtraum nicht gehabt, wäre das jetzt anders. Oder? Was bedeutet Tom für mich? Ich seufze tief.
Ich weiß es genau. Ich wußte es schon immer.
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