Lautlos Teil 1
In meiner Welt war es immerzu still. Manchmal auch einsam. Nein, oft einsam, was ich aber nicht schlimm fand. Ich verkroch mich gerne in die wohltuende Stille meiner Einsamkeit und träumte von Dingen, die nie sein würden. Ich träumte davon, dass ich woanders wäre, als in diesem Bordell, das ich so satt hatte. Niemals aber davon, so zu sein, wie alle anderen.
Nun, meine Eltern hatten nichts mit mir, ihrer taubstummen Tochter, anzufangen gewußt und die Heiratskandidaten waren rar gewesen, besser gesagt, hatten die Männer Angst gehabt, dass meine Kinder auch taubstumm auf die Welt kommen könnten. Dabei war ich das gar nicht, ich hatte als Baby eine Infektion gehabt. Meine Eltern, die eine große Farm besaßen, waren immer auf den Feldern gewesen, so hatten sie es nicht bemerkt. Ich war kurz davor gewesen, dem hohen Fieber zu erliegen, hätte nicht ein aufmerksamer Farmarbeiter Alarm geschlagen und mich sofort in die nächste Stadt zu einem Arzt gebracht. Die Rechnung für meine Behandlung war so hoch gewesen, dass meine Eltern einige Arbeiter, auch meinen Retter, entlassen mussten. Woher ich das alles weiß? Mein Vater hatte es mir auf seinem Sterbebett erzählt, und er hatte sich dafür entschuldigt, mich als Fünfzehnjährige an das Bordell verkauft zu haben. Obwohl er gewußt hatte, dass ich Lesen und Schreiben konnte, denn ich hatte mir in der Schule immer besonders viel Mühe gegeben und mir Vieles selbst bei gebracht. Erst wollten meine Eltern mich nicht zur Schule gehen lassen, doch wieder war ein rettender Engel aufgetaucht- der Pfarrer des kleinen Örtchens, der gemeint hatte, man müsse mir wenigstens eine Chance geben. Er und sein Sohn hatten mich immer unterstützt. So hatte ich immer ganz hinten in der Klasse gesessen und alles ganz genau beobachtet. Lernte Buchstaben von Lippen abzulesen, später ganze Worte. Und noch viel später wußte ich manchmal, was jemand sagen würde, bevor er es überhaupt ausgesprochen hatte. Doch als ich alt genug war, um auf der Farm zu helfen, musste ich feststellen, dass meine Eltern nicht die Geduld hatten, mir zu erklären, was ich tun sollte. Sie konnten nicht schreiben, waren nie zur Schule gegangen. Waren aus Europa in dieses neue Land gekommen und von ihrem Ersparten hatten sie sich Land gekauft, wie viele andere Amerikaner auch.
Ich stach mir in den Finger und zuckte zusammen. Manchmal war so etwas nötig, um mich daran zu erinnern, dass ich da war. Dass ich ein Mensch war, lebte und atmete. Denn wenn ich in meiner Welt versunken war, vergaß ich es oft. Nun, dieses Mal war es aus Versehen gewesen, weil ich gerade mein Kleid nähte, aber oft tat ich es mit Absicht. Ich verletzte mich jedoch niemals ernsthaft, einen Kniff hier, ein sanfter Klaps da. Bei einer anderen Hure hatte ich einmal beobachten können, wie sie sich mit einem Messer Muster in ihren Oberschenkel geschnitten hatte, nachdem sie vergewaltigt worden war. Als Mitch, unserer Bordellmutter, aufgefallen war, dass das Mädchen sich verstümmelte, hatte sie sie verprügelt und schließlich raus geworfen. Ich seufzte und konzentrierte mich wieder auf die Näharbeit, denn darüber nachzudenken, machte mich immer traurig. Plötzlich stand die rothaarige Irin Lisa vor mir und gestikulierte wild, während sie so schnell brabbelte, dass ich kein Wort erkennen konnte. Sie deutete nach unten, ich schüttelte den Kopf und zeigte ihr meine Näharbeit. Sie nahm sie weg und zog mich mit sich, obwohl ich nur ein Korsett und einen Unterrock trug! Mein einziges Kleid musste ich ja gerade nähen! Ja, wir waren kein Nobel- Bordell, aber unser Einkommen und das, was unsere Farm abwarf, reichte zum Überleben. Wir mussten uns wenigstens nichts von irgendwelchen Kerlen sagen lassen! Lisa schleifte mich die Treppen hinunter und stürmte mit mir in den Salon, wo sie abrupt stehen blieb, als wir in eine Gewehrmündung schauten. Mitch, auf die das Gewehr gerichtet war, drehte sich zu uns um und ich las:
„Ich hab doch gesagt, ihr sollt oben bleiben, verdammt!"
Lisa antwortete nicht und starrte die Männer an. Der, der das Gewehr hielt, war groß, dunkel und kahlköpfig. Sein Gesichtsausdruck war unergründlich und er trug, wie die anderen vier Männer auch, Gefängniskleidung.
Ich atmete scharf ein und sah zu dem nächsten Mann, der mich mit eisblauen, stechenden Augen musterte. Er lümmelte auf Mitch's Lieblingssessel, wofür wir eine Tracht Prügel bekommen hätten! Das Haar des Mannes war schulterlang und dunkel, er war unrasiert, doch sein Gesicht wies ebenmäßige Züge auf, er war fast schön. Und die Augen auf eine unheimliche Art faszinierend.
Doch der Junge, der hinter dem Mann mit dem Gewehr stand, hatte noch schönere Augen, Smaragdgrün. Er schaute auf Lisa, dann auf Tammy, die ebenfalls im Raum war. Der andere jüngere Kerl der Gruppe, der ebenfalls hinter dem Dunklen stand, der, wie ich vermutete, der Boss war, beäugte den Grünäugigen grimmig. Seine blauen Augen blitzten und er strich sich nervös durch das kurze, braune Haar. Grünauge hatte lockige, braune Haare, die ihm auf die Schultern fielen, und er war sichtlich von den Mädchen angetan.
Ganz hinten, an der Tür- ich vermutete, er würde sie bewachen- stand ein untersetzter, bulliger Mann mit schwarzen Locken und einem furchtbaren, überheblichen Grinsen, das ich nur zu gut von einigen Freiern kannte. Dieser Typ Mann war das reinste Grauen!
Ich fasste gerade das, was ich sah, in meinem Kopf zusammen, als die Tür aufging. Ein weiterer Sträfling kam herein, bei dem mir die Spucke weg blieb. Hatte ich vorher gedacht, die Augen des Jungen oder die des Mannes mit dem Eisblick wären die schönsten, die ich jemals in meinem Leben gesehen hatte, so wurde ich nun Lügen gestraft. Was vielleicht auch an der Tatsache lag, dass sein Blick sofort auf meinen getroffen war, kaum hatte er den Raum betreten, und er verweilte immer noch dort. Ich hätte längst woanders hinschauen müssen, doch wollte ich ihn weiter ergründen, wie ich es bei den anderen auch getan hatte, und so hielt ich stand. Außerdem konnte ich nun von seinen Lippen ablesen, dass „Draußen alles in Ordnung" wäre. Was so aussah, als würde er es zu mir sagen!
Ich gab auf und blickte Mitch an, die wieder zu dem dunklen Hünen starrte. Der Blick des groß gewachsenen, rotblonden Mannes lag immer noch auf mir, das konnte ich spüren. Er war anders als seine Kumpane. Der düstere Hüne war ruhig und besonnen. Eisauge schien alles für ein lustiges Spiel zu halten, die beiden Jungen waren unruhig, vielleicht sogar ängstlich. Der kleine Mann würde vor Mord nicht zurückschrecken, oder Schlimmeren, aber der Rothaarige- diese blauen Augen, die mich so sanft angeschaut hatten, dass ich nun intensiv betete, dass er mich wählen würde. Mitch sagte etwas, aber sie war von mir weg gedreht, sodass ich es nicht sehen konnte. Eisauge lachte und erwiderte:
„Wir nehmen sie uns einfach!"
„Werden wir nicht!" entgegnete der mit den gütigen Augen.
Der Dunkelhaarige prustete und schüttelte den Kopf.
„Wir wollen nur etwas Proviant und dann ziehen wir weiter!" sagte der Rothaarige ernst und schaute Mitch an.
„Er hat Recht." erwiderte der Dunkle. „Wo ist die Speisekammer?"
„Mann, Idris. Wo wir schon mal hier sind...!" bettelte der Untersetzte. „Ich hatte seit Jahren kein Mädchen mehr!"
Eisauge rollte mit den Augen und grinste.
„Denkst du, wir? Idris, wir bleiben über Nacht!"
„Negativ. Der Sheriff..." setzte Idris an, doch Eisauge fiel ihm ins Wort und ich revidierte meine Annahme, der dunkle Hüne Idris wäre der Boss.
Eisauge sagte:
„Der Idiot ist noch nicht mal auf unserer Spur! Harry und Louis, ihr folgt der netten Dame in Grün in die Speisekammer und packt alles ein, was ihr finden könnt. Und die Muli's nehmen wir auch mit."
Mitch schrie etwas und begann, zu weinen. Ich schaute den Gutmütigen an, der zwar mitleidig guckte, doch nichts dazu sagte. Wenn sie uns unsere Muli's und alles an Nahrungsmitteln nahmen, wären wir geliefert, denn so schnell konnten wir nicht für Nachschub sorgen und der Winter stand vor der Tür. Vielleicht würden einige von uns krank werden oder sogar verhungern. Unser Bordell lag außerhalb der Stadt und es wurde nicht besonders gut besucht, wie ich schon sagte. Nun, ich musste etwas tun! Ich drehte mich langsam um und ging ruhig zur Tür, war ganz in Gedanken, einen Plan zu schmieden, um zu verhindern, dass man uns beraubte. Plötzlich spürte ich einen Luftzug und eine Kugel drang in den Türrahmen vor mir ein. Ich blickte sie ungläubig an, der Rauch, der sich darum gebildet hatte, löste sich langsam auf. Was sollte das? Ich atmete tief ein und wieder aus. Und drehte mich wieder um. Eisauge stand vor mir und brüllte mich an. Ich hielt seinem Blick stand und dann las ich von Mitch's Lippen, die sich nun auch umgedreht hatte und leichenblaß war:
„Sie kann sie nicht hören, verdammt! Sie ist taubstumm!"
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