Kapitel 30

Das erste Mal fiel mir dieses Mädchen an der Straßenbahn auf. Ich weiß noch, dass die Regenwolke die gesamte Umgebung in ein bedrückendes Grau gehüllt hatten. Jedoch strahlte sie etwas aus. Ich konnte meinen Blick einfach nicht von ihr abwenden. Ich war so fasziniert von ihrer Ausstrahlung gewesen, dass ich sogar in die gleiche Bahn wie sie einstieg, obwohl das überhaupt nicht meine Richtung war. Seid diesem Tag traf, ich sie immer wieder am gleichen Bahnsteig an. Jeden Tag war ich aufs neue von ihr fasziniert. Dieses Mädchen zog mich immer weiter in ihren Bann.

Da ich erst vor kurzen hierhergezogen war, hatte ich so gut wie noch keine Kontakte geknüpft. Ich konnte selber gar nicht sagen, warum mich dieses Mädchen so interessierte. Ich war kein Typ, der ein Mädchen nur wegen ihres Äußeren mochte. Es war vielmehr ihr Innerstes, was sie nach Außen hin ausstrahlte. Es schien fast so, als würde sie das gesamte Leid der Welt auf ihren Schultern tragen. Ich hatte den Impuls dieses Mädchen einfach nur umarmen zu wollen, und ihr den, mir unbekannten Schmerz, von der Seele zunehmen. Ich war mir sicher, wenn sie lächelte, war es so, als würde die Sonne aufgehen. Jedoch fand ich nie den Mut sie anzusprechen. Was sollte ich denn auch sagen?

Bestimmt hielt sie mich für irgendeinen aufdringlichen Kerl. Aber so einer war ich nicht! Aber ich wusste ja auch nicht, wie oft sie vielleicht schon dumm angemacht wurde. An ihrer Stelle wäre ich dann auch genervt, wenn jemand wie ich einfach zu ihr kommen würde, und sie versuchte in ein Gespräch zu verwickeln.

Doch … ich wusste nicht, ob es vielleicht vom Schicksal so gewollt war, oder nicht … es war an einem Samstag … an dem ich sie wieder traf. Spät am Abend. Das Gleis war vollkommen leer. Die meisten waren noch in irgendwelchen Clubs. Sie stand da, am Fahrkartenautomat, der ihr offensichtlich Probleme bereitete. Ich war von Natur aus schon ein Hilfsbereiter Mensch. Wenn mir das Universum so eine Chance einräumte, sie anzusprechen … musste ich sie nutzen! Auch auf die Gefahr hin das sie mich komplett ignorierte, oder mich an maulte.

Zögerlich trat ich dichter zu ihr, und der kalte Wind schob ihr die Kapuze von dem Kopf. Ihre schulterlangen braunen Haare wirbelten auf.
Ja, ich glaubte, in diesen Moment hatte ich mich wirklich in sie verliebt. Fluchend boxte sie gegen den Automaten und seufzte verzweifelt.


»Ähm … entschuldige, aber kann ich dir helfen?«, kam es nervös über meine Lippen, ja ich flüsterte fast. Völlig abrupt fuhr sie erschrocken auf und starrte mich fassungslos an. Für ein paar Sekunden hatte ich mich mit erschrocken. »B-Bitte entschuldige. Ich wollte dir keinen Schrecken einjagen«, lachte ich peinlich berührt. Schnell lenkte ich ihre Aufmerksam auf den Grund, weswegen ich mich überhaupt getraut hatte sie anzusprechen. »Dieser Automat macht oft Probleme. Will er den Schein wieder nicht annehmen?«, merkte ich an und trat vorsichtig näher.

Mit großen Augen starrte sie mich an, und nahm Abstand zu mir. Fast so, als hätte ich eine ansteckende Krankheit. Wahrscheinlich war sie nur vorsichtig. An ihrer Stelle wäre ich das auch gewesen. Auch wenn ich wohl eher alles andere als bedrohlich oder machohaft wirkte. Ich betrachtete mich schon immer als eher normal. Ich versuchte Konflikte mit logischem Denken zu lösen, anstatt mit Fäusten. »Soll ich es mal probieren? Was für eine Fahrkarte wolltest du dir denn holen?«, fragte ich freundlich nach. Sie jedoch ging noch einen Schritt zurück und schüttelte den Kopf. War sie vielleicht betrunken? Doch so wirkte sie gar nicht auf mich. »I-Ist alles in Ordnung?«, hakte ich besorgt nach, und hörte in der Ferne schon die Bahn.

Mit weiten Augen und verzweifelten Blick sah sie zu der Bahn, die immer näher kam. Urplötzlich lief sie bis ans Ende des Gleises. Ich wollte noch etwas sagen, jedoch begriff ich das rufen wohl nichts mehr brachte. Gab es etwa jemanden, der schüchterner war als ich selbst?

Nein. Dafür war ihr Ausdruck ein komplett anderer! In ihren Augen spiegelte sich Verzweiflung und Angst wider, und, entweder hatte ich es eingebildet, oder, auch eine Spur von Besorgnis.

Die Bahn fuhr ein. Eigentlich wäre dies gar nicht meine. Doch aus irgendeinem Grund stieg ich auch hinein. Sie war relativ leer und ich suchte mir unauffällig einen Platz. Dabei war es wirklich Zufall, dass ich von meinem Platz direkt zu ihr schauen konnte.


Jedoch konnte ich nur ihr Gesicht in der Fensterspiegelung erkennen. Immer noch hatte sie einen gequälten Ausdruck, und sie zog sich die Kapuze auf.

Irgendetwas verängstigte sie doch! Doch was? Wurde sie vielleicht verfolgt? Oder hatte sie eventuell eine Angststörung?

Die Bahn hielt an der nächsten Haltestelle an, und bis auf einen Mann, stieg kein weiterer Gast dazu. Im Gegenteil, alle restlichen stiegen aus. Nur ich, sie und dieser Mann waren noch im Abteil.

Unauffällig folgten meine Augen seinen Bewegungen. Obwohl er nicht gerade viel Körpergröße, für einen Mann, besaß, so strahlte er doch was Bedrohliches aus. Mit finsteren Augen schaute er sich um, und unsere Blicke trafen sich kurz. Eine Gänsehaut durchfuhr mich. Solche kalten Augen hatte ich noch nie gesehen! Sollte ich sie mit irgendetwas vergleichen, würde ich sagen, dass so der Ausdruck eines Killers aussah oder eines Mafiabosses.

Eingeschüchtert wandte ich den Blick ab. Jedoch konnte ich im Augenwinkel erkennen wie er langsam zu dem Mädchen schritt. Man konnte sofort erkennen wie sich ihre Haltung veränderte.
Ich hingegen schärfte alle meine Sinne, während ich unauffällig beobachtete, wie sich der Mann vor sie stellte. Er beugte sich zu ihr herunter und streckte seine Hand nach ihr aus. Im Gegenteil zu seinem bedrohlichen Auftreten, bedachte er sie mit einer sanften Bewegung, als er ihr die Kapuze vom Kopf streifte. Auch sein Blick ihr gegenüber war ein völlig anderer. Sein Gesicht beugte sich weiter zu ihrem herunter, und ich konnte nur erahnen, was er tat.

Ihre Körperhaltung passte gar nicht, zu meinen Gedanken, dass das ihr Freund sein könnte. Aber wenn das ein vollkommen Fremder war, warum sagte sie dann nichts, oder tat nichts?

Jedoch wurde mir bewusst, dass, wenn sie schon bei mir vorhin so reagiert hatte, dann musste sie ja jetzt wie paralysiert bei diesen Typen sein. Das konnte ich nicht ignorieren! Dieses Mädchen konnte sich nicht wehren! Warum oder weshalb stand für mich außer Frage!


Meine Fingerknöchel nahmen einen hellen Ton an, als ich die Hand ballte. Mein Herz schlug schneller. Ja, ich hatte Angst! Dieser Typ war vermutlich stärker als ich. Aber lieber riskierte ich ein blaues Auge, als mir vor Augen führen zu müssen, dass ich keinem unschuldigen Mädchen geholfen hatte!

Ich atmete tief durch und erhob mich. Wie zu erwarten, hatte ich sofort seine Aufmerksamkeit. Ohne mir etwas anmerken zulassen, ging ich zu der Tür, die in ihrer unmittelbaren Nähe war. Erstmal wollte ich mir einen besseren Eindruck verschaffen. Die nächste Haltestelle kam in fünf Minuten. Ich hoffte, dass der Typ einfach nur dachte, dass ich mich schon hinstellte. Jedoch sah ich die ganze Zeit im Fenster der Tür seinen Blick auf mir. Auch wenn er wie ein Killer wirkte, so bemerkte ich jetzt aber auch, dass er keinen dummen Eindruck machte. Solche Leute waren wirklich gefährlich! Verdammt! Der war wirklich eine Nummer zu groß für mich!

Nur der Gedanke daran dem Mädchen zu helfen, hielt meine Beine davor ab zu zittern. Mein Blick wanderte in der Spiegelung zu ihr. Sie sah zu dem Mann auf und legte ihre Hand auf seine, dann schüttelte sie den Kopf. In ihrem Gesicht konnte ich genau erkennen, wie sie versuchte ihn zu beruhigen. Also, kannten sie sich doch? War es doch ihr Freund? Aber warum war dann ihre Haltung so steif? Irgendetwas stimmte da doch nicht! Behandelte er sie etwa schlecht? War sie nicht in der Lage sich von ihm zu trennen? So was gab es oft genug.


»Hör auf!«


Ich wäre fast zusammen gezuckt, als ich ihre Stimme hörte. Langsam drehte ich meinen Kopf zur Seite, und hielt kurz den Atem an, als der Typ plötzlich hinter mir stand. Mit verschränkten Armen musterte er mich.

Blitzschnell erhob sich das Mädchen und trat zu ihm herüber. Beruhigend legte sie ihre Hand auf seinen Oberarm. »Lass das! Bitte!«, murmelte sie.

Ich wandte mich zu den beiden um. Der Mann sah mich ausdruckslos an und verzog verächtlich die Lippen.

»Oii! Glaubst du eigentlich, ich bin bescheuert?«, knurrte er bedrohlich.

Ich schluckte aufgeregt und versuchte meine Unsicherheit zu verbergen. »B-Bitte? Gibt es irgendein Problem?«, fragte ich nach, und versuchte dennoch höflich zu klingen.

Das Mädchen zog am Arm des Mannes. »Nein! Es gibt kein Problem! Bitte, lass uns wieder da rübergehen!«, nuschelte sie nervös. Doch der Typ beachtete sie gar nicht, er starrte mich weiterhin gefühlskalt an. Erneut musste ich schlucken.

Was hatte er für ein Problem? Ich habe ja nun wirklich nichts getan. Aber er wirkte auf mich keinesfalls betrunken.

»Bitte, setzt dich doch einfach hin!«, versuchte sie ihn nochmals gut zuzureden.

Der Typ sah kurz zu ihr herüber. Diesmal bedachte er sie mit einem genauso kalten, bedrohlichen Blick, wie mich. Das Mädchen zuckte zusammen und nahm Abstand zu ihm.

»Vier …«

Ich blinzelte verwirrt. Es stand außer Frage, dass das Mädchen von diesem Typen völlig eingeschüchtert war.

»Drei …«, fuhr er fort und sah auf seine Armbanduhr.

Warum zählte er? Meine Gedanken rasten, genauso wie mein Puls.

»Zwei …«

Nach wie vor stand das Mädchen einfach nur da und ihr Blick war gen Boden gerichtet.

»Eins …«

Nervös spielte sie mit ihren Fingern und ich konnte erkennen, wie eine einzelne Träne ihre Wange herunterglitt.

»Null!« Noch ehe ich mich weiter fragen konnte, was das sollte, stoppte die Bahn. Ich hatte mich so auf das Mädchen konzentriert, dass ich völlig ausgeblendet hatte, dass wir an der nächsten Haltestelle angekommen waren. Überrumpelt starrte ich nach Draußen. Doch ehe ich reagieren konnte, schlug mir der Typ in meine Magenkuhle.

Meine Augen weiteten sich. Die Tür öffnete sich und ich wankte nach Draußen. Mit halb zusammen gekniffenen Augen schaute ich nach vorne und krümmte mich.

Ohne den Blick von mir abzuwenden, stieg der Typ aus. Das Mädchen blieb einfach in der Bahn stehen. Mit einem verzweifelten Gesichtsausdruck presste sie ihre Hände gegen die Ohren, und schüttelte den Kopf, dann sank ihr Körper in die Hocke.

Die Türen schlossen sich und die Bahn fuhr los.
Überfordert versuchte ich den Schmerz zu unterdrücken. Der Mann kam langsam und bedrohlich näher. Ich wankte nach hinten und stolperte rücklings auf den Boden. Hektisch blickte ich mich um. Es war keine Menschenseele zu sehen.

Ich öffnete den Mund und schmeckte Blut. Mein Körper kippte ruckartig zur Seite, als er mir ins Gesicht trat.

»Bleib einfach liegen!«, zischte der Typ rau. »Denn der Boden ist Dreck gewohnt!«

Meine Sinne wurden immer stumpfer. Die Schmerzen überrannten meinen gesamten Körper.
Immer und immer wieder trat er zu. Ich hatte bald schon jegliches Gefühl verloren. Nur vage nahm ich wahr, wie er sich zu mir herunter hockte, und meinen Kopf an den Haaren nach oben zog.

»Tcch! Du hättest mein Mädchen einfach nicht ansehen dürfen, Kleiner!«, brummte er. Mein Inneres verkrampfte sich, als ich eine Klinge vor meinen Augen erkannte. »Aber keine Sorge, jetzt wirst du gar nichts mehr sehen können!« Das Letzte, was ich wahr nahm, war der stechende, brennende Schmerz in meinem rechten Auge. Ich weiß nicht, ob ich schrie, oder ob ich nur gedanklich meine Schmerzen zum Ausdruck brachte. Das Letzte, was ich noch erkannte, war die, Schwärze, die mich sanft einhüllte.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top