Kapitel 20

[Cassandra]

Ich wusste nicht, wie weit ich gerannt war. Alles um mich herum war ausgeblendet. Ich nahm nur noch den Regen wahr, der sich langsam und kalt durch meine Kleidung zog. Nun stand ich hier, unter irgendeinem Vordach und starrte in die Leere. Erst jetzt realisierte ich, dass an diesem Platz so gut wie gar keine Menschen waren. Nur ein paar liefen vor dem Regen davon. Wo zum Teufel war ich denn?

Ich blinzelte, um meinen trüben Blick wieder zu hellen, und holte mein Handy hervor. Super, mit fünf Prozent Akku brauchte ich gar nicht erst zu versuchen, das Navi einzuschalten. Hörbar atmete ich angestrengt aus und lehnte mich an die kalte Mauer.

Meine Gedanken waren immer noch völlig durcheinander. Ich wusste gar nicht, was ich zuerst verarbeiten sollte. Meine Kehle schnürte sich wieder zu, und mein leises Schluchzen ging im Rauschen des Regens unter. Kraftlos sank ich auf den Boden und winkelte die Knie an meinen Oberkörper. Ich konnte nicht einschätzen, ob ich das, was mir Eren erzählt hatte, glauben konnte. Jedoch, hatte er mich, sollte es stimmen, die ganze Zeit angelogen und mir etwas vorgemacht!

War seine anfängliche Schüchternheit auch nur gespielt? Die Küsse? Das Intime? Wie sollte ich bitte wissen, ab wann seine Gefühle und Berührungen nicht mehr gespielt waren?

Meine gesamte Welt geriet gerade ins Wanken! Jahrelang war ich mit vernarbten Herzen durchs Leben gegangen, in dem Glauben, leider nie meine Mutter kennengelernt zu haben. Und nun soll sie einfach so am Leben sein? Hatte mein eigener Vater mich jahrelang belogen?

Doch ich konnte ihn nicht mehr fragen …

Ich zuckte zusammen, bei dem starken vibrieren in meiner Hand. Zögerlich sah ich aufs Display.

>Bitte verzeih, dass ich dich mit diesem Geständnis überrumpelt habe, Cassandra. Ich verstehe, wenn du jetzt durcheinander bist. Ich möchte nur, dass du weißt, ich lasse dir alle Zeit der Welt zum Ordnen deiner Gefühle. Und bitte glaub mir, meine Liebe zu dir ist aufrichtig. Ich werde auf dich warten.<

Ich biss mir auf die Unterlippe. Was bildete sich Eren überhaupt ein, mir jetzt noch so eine lumpige Nachricht zu schreiben?!

Meine Finger krallten sich um das Handy. Ich wollte einfach nur meine Ruhe! Ich hob meinen Arm und wollte das Handy einfach nur wegschmeißen!

»Hab ich dich!«

Eine leichte Wärme legte sich um mein Handgelenk. Erschrocken wirbelte ich herum, und holte instinktiv mit dem anderen Arm zum Schlag aus. Doch auch bei diesem wurde ich am Handgelenk festgehalten. Völlig überfordert, kniff ich die Augen zusammen und war wie versteinert.
Nur der Regen war zuhören. Vorsichtig öffnete ich die Lider, als ich wieder los gelassen wurde.

Ungläubig starrte ich in graue Augen. Mein Herz setzte kurz aus und mein Körper spannte sich an. »L-Levi?!«

Mit gewohnt, ausdrucksloser Miene sah er mich an und verschränkte die Arme. Eigentlich hatte ich gedacht, er sei zurück nach Hause gefahren. Wie hatte er mich überhaupt gefunden? Ich wusste ja selbst nicht einmal, wo ich war.

Ich war nicht in der Lage, ihm in die Augen zusehen. Nicht nach dem, was passiert war. Es war nicht nur die Kälte, die mich frösteln ließ. Ich spürte seinen durchdringenden Blick auf mir. Mein Körper begann zu zittern. Innerlich bereitete ich mich schon darauf vor, eine ordentliche Standpauke von Levi zu bekommen. Ich wollte es nur schnell hinter mich bringen!

[Levi]

Cassandras Schultern bebte vor Kälte. Wie lange stand sie hier denn schon? Ich konnte von Glück reden, dass ich eine App auf ihrem Handy installiert hatte, die mir ihren Standort mitteilte, doch kurz bevor ich hier ankam, war das Signal verschwunden. Bestimmt war ihr Handy leer. Ich wusste genau, dass dieses Treffen nicht gut enden würde! Ich war nur wegen ihrer Bitte weggegangen. Auch wenn ich kurz davor gewesen war diesem Bastard umzulegen!

Das Cassandra es gewagt hatte mir eine Ohrfeige zu verpassen, schob ich erstmal beiseite. Dieses Nachspiel würde sie noch früh genug zu spüren bekommen!

Aber bei diesem Anblick, den sie gerade bot, verschwand mit einem Schlag meine Wut. Wie eine zerbrechliche Porzellanpuppe stand sie vor mir. Ich öffnete den Reißverschluss meiner Jacke, die zum Glück nicht völlig durchnässt war, und legte sie Cassandra über die Schultern. Dies war immer noch besser als sie nur im T-Shirt stehenzulassen.

Verwundert sah sie langsam zu mir auf. Sanft legte ich meine Hand auf ihre Wange. Ich schluckte meine Worte herunter. Im Normalfall hätte ich ihr gesagt, dass ich wusste, dass es so enden würde und dass ich der einzige Mensch war, den sie an ihrer Seite brauchte. Doch auch ich hatte so etwas wie Feingefühl. Auch wenn ich es so gut wie nie zeigte.

»Lass uns nach Hause gehen. Hier in der Nähe ist eine Straßenbahn. Der Regen ist schon weniger geworden«, sprach ich ruhig. Zunächst sah sie mich einfach nur an, bis sie ihren Blick senkte und stumm nickte.

*

Ich nahm einen letzten Zug meiner Zigarette, bevor ich sie weg schnipste. Genervt schnaubte ich, als ich wieder vom Balkon in Cassandras Wohnung trat. Sie war immer noch nicht aus dem Badezimmer zurück.

Was trieb sie denn so lange da drin? So lange konnte man doch gar nicht die Wärme des Wassers auf sich wirken lassen!

Ungeduldig klopfte ich an die Badtür. »Oii, Cassandra! Wie lange willst du noch da drin bleiben?!« Natürlich bekam ich keine Antwort. Jedoch konnte ich auch kein Wasserrauschen hören. Mir war es scheißegal, ob sie es wollte, oder nicht! Jeder normale Mensch wäre hereingegangen, um sicher zugehen.

Mit einem tiefen Brummen öffnete ich die Tür. »Antworte mir gefälligst!«, knurrte ich und hielt in meiner Bewegung inne. Cassandra hockte auf dem Boden der Dusche und starrte ins Leere. Einzelne Wassertropfen glitten ihre Haut entlang. Was war nur mit ihr? »Cassandra?«

Langsam hob sie ihren Kopf und schaute in meine Richtung. Als hätte sie sich aus ihrer Starre gelöst, blinzelte sie überrascht. »L-Levi! Komm … komm doch nicht einfach so rein!«, quiekte sie peinlich berührt.

Ich verengte die Augen. »Wenn du mir nicht antwortest, ist es normal, dass ich reinkomme!«, antwortete ich tonlos und nahm ein großes Handtuch, ausgebreitet hielt ich es vor meinem Körper. »Jetzt komm endlich raus!«

Cassandra kaute kurz auf ihrer Unterlippe, ehe sie sich zögerlich erhob. Mit trägen Schritten kam sie auf mich zu, und ich schlang das Handtuch um ihren nackten Körper.

Gott, wenn sie nicht so zerbrechlich wirken würde, hätte ich sie schon längst …

Nein! Ich musste mich zusammenreißen!

Als würde ihr das Handtuch Halt geben, kuschelte sie sich in dieses. Ich verzog die Mundwinkel. Was war nur mit ihr?

Sanft legte ich meine Hände auf ihre Schultern. »Cassandra, was ist passiert? Hat dieser Bastard dir etwas angetan?!« Keine Antwort. »Cassandra! Bitte rede mit mir!« Ausdruckslos sah sie zu mir auf. Etwas war passiert! So hatte ich sie in den ganzen Jahren noch nie gesehen!

Meine Brust zog sich zusammen. Wie ein Impuls schlang ich meine Arme um sie und presste sie an meinen Körper. Dieser dreckige Bastard! Meine Augen verfinsterten sich.

Ich werde ihn …

»Levi?« Ich blinzelte und mein Blick klärte sich wieder. Ich schob Cassandra etwas von mir und sah sie an.

Sie presste die Lippen zusammen und sah zur Seite. »Du … du sagtest letztes Mal, dass du mich liebst … nicht wahr?«

Meine Brauen schoben sich verwirrt zusammen. »Ja … habe ich.« Jetzt wo ich es so aus ihrem Munde hörte, hörte es sich so peinlich kitschig an. Und irgendwie machte es mich etwas verlegen.
Gott, dass ich sowas überhaupt mal fühlen würde … dies konnte auch nur diese Frau in mir auslösen! Schnell fasste ich mich wieder, und sah sie monoton an.

»Ist dies wirklich so, oder hast du das nur gesagt, um mit mir zu schlafen?«

Meine Augen weiteten sich für ein paar Sekunden.
Bitte was?! Was fragte sie mich da gerade?! War das ihr Ernst?! Was hatte ihr dieser Bastard diesmal eingeredet?!

»Weißt du Levi … meine Gedanken, meine Gefühle … alles ist so durcheinander. Ich war heute wirklich kurz davor, mit Eren Schluss zumachen. Doch, ich war mir nicht mal sicher, ob ich das überhaupt möchte. Eigentlich wollte ich es nur tun, weil es so kompliziert geworden war. Ich war verwirrt von den Gefühlen, die du in mir auslöst, im Gegenteil zu Eren. Ich war in der festen Annahme, dass dies Liebe sein muss. Doch, wenn man vorher noch nie wirklich geliebt hat, versteht man dann überhaupt etwas von Liebe? Weiß man überhaupt, was sie genau ist? Wie sie sich definiert? Vielleicht habe ich mich auch nur von dir beeinflussen lassen, und in Wirklichkeit liebe ich niemanden! Vielleicht kann ich auch gar nicht lieben.«

Fassungslos starrte ich sie an. Unfähig, sofort etwas zu erwidern. Tränen rollten ihre Wangen herunter. Mein Kiefer spannte sich an und ich drückte sie wieder an meinen Körper. Fest umfassten meine Arme ihre Taille. »Liebe kann man nicht definieren, genauso wenig wie Hass«, begann ich. »Doch, wenn Liebe bedeutet, jede Minute mit der besagten Person verbringen zu wollen, jeden Gefühlszustand mit ihm teilen zu wollen, jede Minute seine Nähe spüren zu wollen, wenn das Herz schneller schlägt, nur bei einem leichten Lächeln, jede Bewegung einem den Atem raubt, wenn man für diese Person sogar töten würde ...«, fuhr ich fort und nahm ihr Gesicht in beide Hände. »Wenn das Liebe definiert … ja, dann liebe ich dich, Cassandra!«

Mit großen, funkelnden Augen sah sie mich an.
Gott! Sag was! Irgendetwas! Durch deine Stille sind mir meine entflohenen Worte nur noch peinlicher! Nie im Leben wäre mir in den Sinn gekommen, so etwas zu sagen. Und mir wurde nochmals bewusst, was diese Frau mit mir angestellt hatte.

»Jede Beziehung, die ich jemals geführt habe, war nur eine Vace. Ich war in dem Irrglauben, dich dadurch aus meinen Gedanken zutreiben. Doch ich konnte es nicht! Keine hatte auch nur deine Ausstrahlung, dein warmes Lächeln, deine Art dich zu bewegen. Selbst deine furchtbaren Versuche zu Musik zu tanzen, faszinieren mich, Cassandra! Die Art wie du die Lippen zusammen presst, wenn dir etwas unangenehm ist, dein verlegener Blick, durch deine dichten Wimpern. Einfach alles an dir raubt mir den Verstand!«, versuchte ich ihr weiter meine Gefühle zu vermitteln. »Also frage mich nie wieder, ob ich dich wirklich liebe!", fuhr ich brummend fort und legte meine Lippen auf der ihren.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top