Kapitel 15

[Cassandra]

Nachdem Levi aufgelegt hatte, sah er wieder zu mir und kam mir näher. »Also«, begann er und grinste dunkel, »wo waren wir?!«

Ich presste die Lippen zusammen. Irgendwie war mir diese ganze Situation äußerst unangenehm. Ich konnte nicht genau sagen, ob es an dem Telefonat lag. Aber ich fühlte mich vollkommen durcheinander. Ich wollte einfach nur nach Hause und mich in mein Bett verkriechen. Wieso war mir plötzlich zum Heulen zumute?

Unbewusst schaute ich auf die Anzeigetafel der Bahn. Super, noch eine halbe Stunde! Wieso musste dieser Platz auch so Menschenleer sein? Kaum zu glauben, dass wir noch in der Nähe der Stadt waren.

Levi bemerkte meine nachdenkliche Miene. Er brummte kurz auf und setzte sich auf die Metallbank.

Er hatte mir vor wenigen Minuten gestanden, dass er mich liebte. Und ich? Ich stand hier vollkommen überfordert mit mir selbst. Levi richtete kurz sein Jackett, dabei rutschte es kurz am Ärmel hoch und ich erblickte ein Armband.

Das war doch das, was ich ihm mal vor Jahren geschenkt hatte. Ich hatte es zusammen mit meinem Vater ausgesucht. Gott, war diese Zeit schwer für mich gewesen. Ich war wirklich eines dieser Mädchen gewesen, die sich verloren fühlten, wenn ihr großer Bruder nicht bei ihnen war.

Plötzlich kamen mir wieder Erens Worte in den Sinn.

„Eigentlich seid ihr nur Fremde, die im gleichen Haushalt aufgewachsen sind.“

Ich schluckte schwer. Im tiefsten meines Herzens wusste ich, dass er ja eigentlich recht hatte. Levi war nicht mein richtiger Bruder, das, was wir taten, war nicht verboten.

Moment! Was wir taten? Wohl viel mehr, was ich tat. Verboten hin oder her, ich hatte nichtsdestoweniger immer noch einen Freund! Ich wollte ihn nicht betrügen.

Betrügen? Ja … im Grunde hatte ich das schon getan. Das was zwischen mir und Levi passiert war, es war nicht mehr rückgängig zu machen. Genauso die Gefühle, die ich seit dem empfand.

Als hätte mir jemand einen Schlag verpasst, empfand ich Levis Nähe seit dem viel intensiver. Natürlich hatte ich ihn schon immer als sehr attraktiv gesehen, doch es war, als hätte sich ein Schalter bei mir umgelegt. Ich sah ihn nun noch mehr als Mann. Das Bild des Bruders schob ich nur immer vor, um meine eigenen Gefühle zu unterdrücken.

»Oii! Warum heulst du denn jetzt?« Ich blinzelte und strich mit meinen Fingerspitzen über meine Wange. Eine einzelne Träne glitt über meine Haut.
Mein Magen verkrampfte sich und mein Körper begann unkontrolliert zu zittern. »Oii! Cassandra!«

»Du ... du bist so ein Arsch!«, presste ich hervor und senkte den Blick »Du … du willst mit mir essen gehen … ziehst dich hier so an, als ob du mit mir auf ein Date bist .... jetzt stehen wir hier in der Einöde und ... und du sagst einfach so, dass du mich liebst. Was glaubst du denn, was das in mir auslöst, du Arsch?!«, wurde ich immer lauter und kniff die Augen zusammen. »Du weißt um deine Wirkung bei Frauen! Selbst ich kann mich dieser nicht entziehen! Doch … es ist nicht richtig! Es ist nicht richtig!«

»Cassandra …«

»Ich bin eine Lügnerin! Ich belüge alle um mich herum! Warum … sehne ich mich so nach deinen Berührungen? Ich sollte doch nur an meinen Freund denken! Doch … wenn er mich umarmt, oder küsst, ich fühle nichts! Ich träume stattdessen davon, von dir berührt zu werden! Was ist denn nur mit mir? Wieso … wieso hast du diese Gefühle in mir ausgelöst? Wieso … wieso kannst du sie nicht wieder von mir nehmen?« Völlig atemlos und verkrampft, stand ich da. Meine ganzen wirren Gedanken, sie waren einfach aus mir rausgeplatzt. Mir war es egal, was Levi nun von mir dachte. Ob er überhaupt verstand, was ich damit ausdrücken wollte. Mein Kopf war völlig leer.
Zögerlich sah ich zu ihm auf. Er saß einfach nur da und schaute ausdruckslos in die Ferne.

»Unsere Bahn kommt gleich«, gab er nur an und ich biss mir auf die Unterlippe. Das war seine Antwort darauf? War das sein Ernst? Ich hätte schon wieder heulen können. Doch ich schüttelte den Kopf und schluckte die Tränen schwer herunter.

Ohne ein Wort stiegen wir in der Bahn ein und fuhren nach Hause. Na, immerhin hatte er kapiert, dass sich der Abend für mich erledigt hatte. Die ganze Zeit über sah Levi monoton aus dem Fenster. Ich konnte nicht deuten, ob er gerade nachdachte oder ob ihm einfach alles egal war.
Diese Atmosphäre zwischen uns änderte sich nicht, als wir die Treppen zu unseren Wohnungen hinauf gingen. Automatisch blieb ich vor meiner Tür stehen und kramte nach dem Schlüssel.

»Es stimmt«, durchbrach Levi die Stille, »du bist eine Lügnerin.«

Ich hielt in meiner Bewegung inne, und drehte mich fassungslos zu ihm um.

Mit langsamen Schritten kam er auf mich zu. »Du versuchst verzweifelt deine Gefühle, deine Gedanken wegzusperren! Indem du dir eine Lüge einredest, willst du dich nicht weiter mit diesen Gefühlen auseinandersetzen«, fuhr er dunkel fort und kam vor mir zum Stillstand. »Doch, ich frage dich, Cassandra, warum sehnst du dich bitte nach meinen Berührungen? Warum empfindest du meine Nähe so intensiv?« Er hob seine Hand und berührte meine Wange. Ein wohliger Seufzer entfloh mir plötzlich, ohne dass ich es selbst kontrollieren konnte. »Du weißt, warum«, flüsterte er rau und sein Gesicht kam meinem näher. »Nur, muss ich dir die Antwort wohl noch deutlicher aufzeigen!« Verlangend legten sich seine Lippen auf meine. Eine elektrisierende Hitze stieg in mir auf. »Und diesmal«, hauchte er, »werde ich nicht aufhören!«

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top