Kapitel I

Normalerweise gehörte ich wohl eher zu den Personen, die man als Stubenhocker bezeichnete. Personen, die ungerne das Haus verließen und ihre Zeit lieber in den eigenen vier Wänden verbrachten.
Für gewöhnlich versuchte ich es zu vermeiden das Haus tagsüber verlassen zu müssen. Ich zog es vor lieber nicht dem Sonnenschein und der klirrenden Hitze ausgesetzt zu sein. Heute jedoch blieb mir kaum eine andere Wahl.
Nachdem ich zu dem Schluss gekommen war, dass es mit Sicherheit nicht schaden würde etwas mehr Geld, als mein monatliches Taschengeld auf dem Konto zu haben, hatte ich mich auf die Suche nach einem Job gemacht und war tatsächlich fündig geworden.
Ein Café, nicht weit von dem Haus meiner Eltern entfernt, hatte eine Aushilfe für die Sommerferien gesucht und mir war es möglich gewesen den Job zu ergattern.

Und so war ich nun auf dem Weg zu diesem besagten Café. Es war um die Mittagszeit herum und die Straßen schienen relativ leer zu sein. Von den Leuten abgesehen, die sich vermutlich aufgrund der brennenden Hitze und der Absicht ein Mittagessen zu sich zu nehmen in ihre Häuser begeben hatten, waren wohl auch viele Familien in den Urlaub gefahren oder geflogen. Immerhin war es das was glückliche Familien taten. Zeit miteinander verbringen. Ich hingegen war hier. Wie jedes Jahr. Schätze das sprach bereits für sich.

Jedoch war der Gehweg nicht gänzlich leer gefegt. Abgesehen von mir war da noch eine weitere Personen. Eine Person, welche permanent einige Schritte vor mir her lief und stets den gleichen Weg einschlug, den ich auch vorhatte zu gehen. Zwar sah ich diese Person lediglich von hinten, traf jedoch die Vermutung, dass es sich um eine männliche Person handelte. Die Figur erschien männlich. Groß, muskulös und der Gang wirkte nicht wie der einer Frau. Die braunen Haare mussten jedoch etwas länger sein, denn sie war am höchsten Punkt seines Hinterkopfes zu einem kleinen Zopf zusammen gebunden. Wie betitelte man diese Frisur heutzutage nochmal? Man bun. Das war das Wort dafür, wenn ich mich nicht irrte.
Ich konnte beobachten, wie er seinen Kopf immer wieder nach links und rechts bewegte. Es wirkte als würde er nach jemandem oder etwas Ausschau halten, als würde er etwas suchen oder selbst nicht gefunden werden wollen. Er strahlte Nervosität aus, erschien beinahe paranoid.
Das war einer dieser Momente, in denen meine Fantasie dann mit mir durchging. In meinem Kopf formte sich die Geschichte eines Verbrechers, welcher vor der Polizei floh, ebenso wie die eines Undercoverspions, dessen Tarnung auf keinen Fall aufliegen dürfte. Mittendrin meine Wenigkeit, die aufgrund unvorhersehbarer Ereignisse in das gefährlich Doppelleben des jungen Mannes verwickelt werden würde.
Natürlich war all das weit hergeholt. Die Geschichten waren lediglich Hirngespinste einer Teenagerin, die sonst nichts in ihrem Alltag erlebte. Sie waren eine Tür in eine andere Welt. Eine Welt in der aufregende Dinge passierten.
Doch wie so oft blieb diese Welt nicht lange bestehen, denn nun wählte der Protagonist dieser Geschichte einen anderen Weg, als ich ihn gehen musste und mit ihm verschwand auch der Gedanke an Spione und Abenteuer.

Kurz schüttelte ich den Kopf und setzte dann unbeirrt meinen Weg fort. Jedoch kam ich nicht dagegen an einen Blick in die Gasse zu werfen, welche er entlang ging. Und gerade als ich dies tat, fiel etwas hinter ihm zu Boden und wurde dort von ihm liegen gelassen.
'Sein Handy.', schoss es mir durch den Kopf. 'Er hat es nicht gemerkt.'
Ich zögerte, denn kurz kam der Gedanke in mir auf, dass mir sein Handy egal sein sollte und meine Priorität war rechtzeitig zum Café zu kommen. Doch es war Schwachsinn. Würde ich mein Handy verlieren, wäre ich froh darüber, wenn mich jemand darauf aufmerksam machen würde.
Ich schlug also ein weiteres Mal den Weg des Mannes ein, dieses Mal jedoch ohne mein eigentliches Ziel zu verfolgen. Bei dem Smartphone angekommen, hob ich dies vom Boden auf und verschnellerte dann meine Schritte. Immer weiter reduzierte ich den Abstand zwischen uns und als ich nah genug war, streckte ich meine Hand aus, um ihm auf die Schulter zu tippen.
"Entschuldigen Sie, ich...", begann ich, verstummte dann aber wieder, ehe ich den Satz zu Ende gebracht hatte, denn die Person vor mir stoppte abrupt und drehte sich schwungvoll zu mir an. Ich, die noch immer im Gehen war, schaffte es nur mit Mühe rechtzeitig zu bremsen und somit eine Kollision zu verhindern.
Doch auch ohne einen Zusammenstoß empfand ich die Situation als überaus unangenehm, denn uns trennten lediglich wenige Zentimeter. Das war auch der Grund dafür, dass ich hastig einen Schritt zurück trat. Mein Blick wanderte zu der Person hinauf, dessen Gesicht ich nun zum ersten Mal betrachten konnte, nachdem ich zuvor lediglich seine Rückseite zu sehen bekommen hatte.
Seine Augen waren braun, hellbraun. Beinahe so braun wie einige der Haarsträhnen, welche ihm ins Gesicht fielen. Scheinbar waren diese zu kurz um von dem Zopfgummi an seinem Hinterkopf gehalten zu werden. Müsste ich schätzen wie alt er war, würde ich vermuten, dass es sich um einen jungen Mann, Anfang seiner zwanziger Jahre handelte. Nicht sonderlich viel älter als meine Wenigkeit. Einen großen jungen Mann. Ihm Gegenüber fühlte ich mich noch kleiner, als ich ohnehin schon war. Während ich an den 1,70m kratzte, war er sicher an die 1,90m groß.
"Gib mir einen Stift und du bekommst ein Autogramm, wenn du schnell wieder verschwindest, ich habe keine Zeit und es wäre unpassend wenn gerade jetzt noch mehr Leute auf mich aufmerksam werden.", ergriff der Fremde das Wort, wobei ein ziemlicher genervter Unterton in seiner Stimme lag. Verwirrung kam in mir auf und mein Kopf neigte sich ganz automatisch in eine leichte Schräglage. Fragend blickte ich ihn an.
"Was für ein Autogramm?", wollte ich wissen, da ich zu dem Schluss kam, dass ein fragender Blick alleine wohl nicht ausreichte. Ich gab ihm jedoch keinerlei Chance zu antworten, sondern erläuterte sogleich mein eigentliches Vorhaben. "Ich wollte dir nur dein Handy geben. Du hast es verloren."
Zögernd nahm mein Gegenüber das Gerät entgegen, welches ich ihm reichte. Er schien meine Verwirrung mittlerweile zu teilen. Oder zumindest wirkte er überrascht.
"Danke.", murmelte er schließlich. Kurz schien er noch zu überlegen was er jetzt tun sollte, drehte mir dann jedoch langsam den Rücken zu und setzte seinen Weg fort. Einen kurzen Moment beobachtete ich ihn noch, ehe ich mich dann ebenfalls umdrehte und in die Richtung des Cafés ging.
"Komischer Kerl.", sagte ich leise zu mir selbst. In diesem Moment war ich mir sicher, dass ich die Geschichte mit dem Spion und auch die mit dem Verbrecher über den Haufen werfen konnte. Er hatte nicht wirklich wie eine Person aus einer dieser Branchen gewirkt. Die Sache mit dem Autogramm ließ mich eher darauf schließen, dass er wohl in irgendeiner Form an Berühmtheit gewonnen hatte. Sein Gesicht konnte ich persönlich nicht zuordnen.
Aus diesem Grund schob ich meine Gedanken an ihn auch einfach beiseite. Wenn mich das was er tat interessieren würde, dann würde ich ihn kennen. Dem war jedoch nicht so und von daher konnte es mir völlig gleichgültig sein.

Lange dauerte es nicht, bis ich schlussendlich das Café erreichte. Ein kurzer Blick auf die Uhr vertiert mir, das ich glücklicherweise nicht zu spät war. Zuversichtlich betrat ich also das Gebäude, nur um dann wie angewurzelt im Türrahmen stehen zu bleiben. Augenblicklich verließ die Zuversicht mich wieder und ich hätte am liebsten auf den Absatz kehrt gemacht und wäre auf Nimmerwiedersehen von hier verschwunden.
Es war voll. Brechend voll. Vor dem Tresen tummelten sich ungeduldige Menschen und auch viele der Tische waren besetzt. Ich schluckte schwer, während ich die Szene begutachtete. Hinter dem Tresen konnte ich zwei Personen ausmachen, die Schürzen trugen, vermutlich weitere Mitarbeiter. Doch schien es nicht so, als hätten sie den Überblick über die momentane Situation. Während einer der beiden, ein junger Mann, in ein Gespräch mit einem Kunden verwickelt war, versuchte die andere Mitarbeiterin das Chaos zu organisieren. Beide schienen in dem was sie taten nicht sonderlich erfolgreich zu sein.

"Miss Clark, Gott sei Dank sind sie hier. Wir sind deutlich unterbesetzt und können jede helfende Hand gebrauchen.", ertönte plötzlich eine Stimme, welche mich anzusprechen schien. Ich drehte meinen Kopf in die Richtung aus der ich die Stimme vernahm und erblickte einen kleinen, etwas pummeligen Mann. Soweit ich mich erinnern konnte war sein Name Carl Larkson und er war der Manager dieses Cafés. Bei ihm hatte ich damals mein Vorstellungsgespräch gehabt. "Rasch mit Ihnen hinter die Theke."
Verdutzt blickte ich ihn an. Sollte jemand in seiner Position nicht eventuell versuchen etwas Ordnung in dieses Chaos zu bringen? War nicht genau das seine Aufgabe?
Scheinbar teilte Mr. Larkson diese Meinung nicht, denn so schnell wie er gekommen war, verschwand er auch schon wieder durch eine Tür mit der Aufschrift *Zutritt nur für Personal*.
Unsicher was nun genau meine Aufgabe war, drängte ich mich erst einmal zur Theke durch und trat an meine neuen Mitarbeiter heran.
"Entschuldige bitte.", sprach ich den jungen Mann an, welcher daraufhin das Gespräch mit dem Kunden unterbrach. Jedoch schien er ziemlich erleichtert über diese Unterbrechung zu sein, denn die Kommunikation ging recht hitzig zu und er wirkte nicht so, als hätte er sich dabei wohl in seine Haut gefühlt. "Ich bin neu hier und habe ehrlich gesagt nicht wirklich eine Ahnung, was genau ich machen soll."
"Du hast dir scheinbar den perfekten Tag ausgesucht, um mit der Arbeit zu beginnen. Glaub mir, es ist hier nicht immer so.", antwortete der junge Mann mit den eher kurzen, blonden Haaren, durch die er sich einmal mit den schmalen Fingern fuhr. Er war eine schmächtige Person, zusätzlich auch noch recht klein, kaum größer als ich. Seine braunen Augen strahlten etwas herzliches und warmes aus, während seine Körpersprache eher ein wenig zurückhaltend auf mich wirkte. "Ich bin Noam. Gerade ist es eher schwierig dir deine eigentliche Aufgabe zu erklären, denn wir müssen irgendwie erst einmal etwas Ruhe hier reinbringen. Die Frage ist nur wie."
"Bist du die Neue?", auch die zweite Person hinter dem Tresen stieß nun zu uns. Spontan schätzte ich sie bezüglich ihres Alters auf Mitte oder sogar Ende dreißig. Ihre blonden Haare hatte sie zu einem Zopf zusammengebunden, welcher bei jedem Schritt von einer zur anderen Seite wedelte. Sie war größer als Noam und meine Wenigkeit und auch etwas kräftiger gebaut.
"Ja, ich heiße Rhiannon, freut mich euch kennenzulernen.", stellte ich mich den beiden kurz vor.
"Ich bin Molly, freut mich ebenfalls. Hast du vielleicht 'ne Idee wie wir das Chaos auflösen können. Es heißt ja immer neue Personen bringen frischen Wind mit.", sprach die Blondine, während sie mit den Schultern zuckte.
"Ähm...naja, vielleicht sollten wir erst einmal alle darauf hinweisen, dass sie eine Schlange bilden sollen.", schlug ich etwas unsicher vor. Immerhin war dies mein erster Arbeitstag und ich hatte nicht damit gerechnet mit einer solchen Situation konfrontiert zu werden.
"Tu dir keinen Zwang an.", meinte Molly und machte eine einladende Geste. Zum zweiten Mal in diesem Laden musste ich schwer Schlucken. Zögernd trat ich einen Schritt vor und atmete einmal tief durch.
"Entschuldigen Sie bitte.", rief ich in den Raum hinein. Es trat Stille im Café ein und sämtliche Augenpaare schienen sich auf mich zu richten. Sofort bereute ich es dies getan zu haben. Ich hätte mich in diesem Moment am liebsten hinter die Theke geduckt, doch das war wohl keine Option. "Ich möchte Sie bitten sich in einer geordneten Reihe anzustellen, damit wir die Möglichkeit haben Sie angemessen zu bedienen.", fuhr ich also fort, denn es blieb mir wohl nichts anderes übrig. "Auch möchte ich mich für das Chaos und die Wartezeiten entschuldigen. Soweit ich es mitbekommen habe, haben wir heute einen Ausfall von einigen Kollegen. Ich bitte daher um Verständnis."
Ein Raunen ging durch die Menge und auch wenn ich mir einige missbilligende und genervte Blicke einfing, fiel mir ein Stein vom Herzen, denn meinen Anweisungen wurde Folge geleistet. Ich konnte also erst einmal erleichtert durchatmen.
Plötzlich schien das Chaos weitestgehend aufgelöst zu sein und auch die Geräuschkulisse wurde ruhiger. Hätte man mir am gestrigen Tage erzählt, dass ich so Handeln würde, hätte ich die Person für verrückt erklärt und mir dies auf keinen Fall zugetraut. Ich war zwar nicht unbedingt eine schüchterne Person, doch eine derartige Situation zu managen war eine ganz andere Nummer.
Auch Noam und Molly schienen von meiner Tat überrascht zu sein, positiv überrascht. Beide bedankten sich bei mir und gaben mir dann eine kurze Einweisung in meine Aufgaben. Und nach einiger Zeit musste ich zugeben, dass es sogar beinahe Spaß machte an der Seite meiner beiden Kollegen zu arbeiten. Das war wohl auch der Grund dafür, weshalb mein erster Arbeitstag schnell rum ging, als ich es zuvor gedacht hatte.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top