Her
„Ich kann nicht."
Erst leise und dann etwas lauter murmelte sie die Worte ihrem Spiegelbild entgegen.
„Ich kann das nicht", keuchte sie und legte die rechte Hand auf ihr gerötetes Dekolleté.
Ihr Herz glich einem Presslufthammer und sie fürchtete, dass es nächstens durch ihren Brustkorb brechen würde.
„Wenn du so weitermachst, brauche ich bald die ganze Dose Rouge, um dir wenigstens ein bisschen Farbe zu verleihen", witzelte die Make-Up Künstlerin und zugleich beste Freundin, und zwinkerte der nervösen Braut zu, während sie dabei war, den Concealer auf den fiesen Pickeln zu verteilen, die sich heute Morgen wie eine Armee auf Moira's Gesicht ausgebreitet hatten. „Außerdem kannst du das sehr wohl. Es ist schließlich Harry, den du heiratest. Dein Harry."
Und für einige wenige Sekunden war es die Vorfreude auf den heutigen Tag und die Liebe, die sie für ihren Verlobten empfand, die an erster Stelle stand.
Sie erinnerte sich an all die Dinge, die sie mit ihm seit Beginn ihrer Beziehung erlebt hatte.
Wie er sie auf Tour mitten in der Nacht angerufen hatte, weil er ihre Stimme vermisste. Wie er ihr ein falsches Datum zu seiner Rückkehr angegeben hatte, um sie nach der Tour bei ihr zu Hause mit einer Schneekugel aus jedem Staat oder Land, in dem er war, zu überraschen. Oder, wie er ihr zu ihrem dritten Jahrestag eine eingerahmte Karte geschenkt hatte, auf dem ein Sternenhimmel zu sehen war. Mit einem Stern ziemlich mittig, der etwas heller leuchtete und mit ihrem Namen angeschrieben war.
Hätte sie es nicht bereits nach den ersten paar Monaten ihrer Beziehung gewusst, so wusste sie es spätestens an diesem Tag. Harry war ihre Zukunft.
Und heute war es so weit. Heute würden sie in ihre gemeinsame Ewigkeit starten. Endlich. Aber taten sie das Richtige? Unter die verliebten und in rosa Töne gehaltenen Erinnerungen mischten sich aber auch die Umstände und Zeiten, die schwierig waren. Was, wenn das Ganze danach nicht klappte? Dieser Mann, der als gefeierter Sänger Hallen und Stadien mit dahinschmelzenden Frauenherzen füllte und die ganze Welt sein Zuhause nannte; wollte sie zur Frau nehmen. Sie, ein normales Stadtmädchen, dessen Faszination für den Sternenhimmel es immer wieder aus dem Beton Jungle zog, um einfach nur in Ruhe die funkelnden Himmelskörper zu bestaunen. Wie konnte er sich sicher sein, dass es ihm nicht irgendwann zu langweilig werden würde?
„Das ist ja auch genau der Punkt. Es ist Harry. Harry, der Superstar, der sich für so ein Dorfkind wie mich entscheidet. Das kann doch nicht gut gehen."
Moira wusste selber nicht, weshalb sie auf einmal Muffensausen hatte, war die einzige Emotion heute Morgen auf dem Weg zur Location doch die Vorfreude gewesen. Lesley hatte sie nach dem zehnten Mal fragen, ob sie denn nun endlich da seien nur noch genervt angeschaut und dennoch wusste die Rothaarige, dass Lesley es ihr nicht böse nahm. Sie hatte an Harry denken müssen, wie er selbst wohl gerade mal dabei war, sich aus dem Bett zu rollen, während sie bereits vier Stunden wach war. Sie hatte daran denken müssen, wie er sich nervös durch die Haare fahren würde, wenn er später wartend zuvorderst im Raum stehen würde, und sie hatte daran denken müssen, wie sein Blick auf niemand anderem lag als auf ihr, wenn sie den Gang hinuntergehen würde. Und es waren diese Gedanken, die ihr Herz haben flattern lassen, und aufgrund welcher sie es kaum erwarten konnte, ihm endlich am Arm ihres Vaters entgegenzugehen.
Verglichen mit ihrer zappeligen Selbst noch vor wenigen Stunden fühlte sie sich jetzt so, als müsste sie sich nächstens übergeben.
„Ihr seid füreinander bestimmt. Das sieht jeder Blinde", versuchte Lesley ihrer besten Freundin aus dem Gefühlschaos zu helfen.
Dass dieser lieb gemeinte Kommentar eher das Gegenteil bewirkte, hatte sie nicht ahnen können. Unwissentlich warf sie noch einen weiteren negativen Gedanken in den ganzen Mix.
Mit weit geöffneten Augen blickte Moira ihre Freundin durch den Spiegel an und entgegnete mit flacher Atmung: „Das hat man über Harry's Eltern bestimmt auch gesagt – und jetzt schau, wo die beiden stehen. Was, wenn ich ihm irgendwann zu langweilig werde? Was, wenn ich irgendwann nicht mehr mit seinem Beruf umgehen kann? Wenn er monatelang weg ist und ich zu Hause auf ihn warte? Wenn die Gespräche, die wir führen nur noch per SMS oder über Skype stattfinden? Wenn er plötzlich merkt, dass ihn ein Filmstar oder sonst eine Frau aus dem Showbiz besser versteht, als ich es könnte? Was, wenn ..."
Mit einem Ruck schoss sie vom Stuhl auf und tigerte kopflos durch das Hotelzimmer. Sie kriegte kaum Luft und wollte nichts mehr, als sich aus dem weißen Stoff ihres wunderschönen Hochzeitskleides rauszuschälen. Es war zu eng, es war zu weiß, es war zu endgültig. Es ließ keine Zweifel zu. Doch alles, was sich zurzeit in ihrem Innern abspielte, waren genau das: Zweifel.
Und der eine Gedanke, den sie sich nicht traute, laut auszusprechen, spielte sich nun in ihrem Kopf ab, wie ein kaputtes Tonband, das immer wieder an den Anfang zurücksprang.
Was wenn Harry die Frage der Pastorin nicht mit "Ja" beantwortete? Alleine durch diese eine Frage spürte sie den kalten Schweiß, der ihr den Rücken runterlief. Ihre Hände wurden klamm und durch die flache Atmung fühlte sie sich schwindlig.
Was wenn er sie mitleidig anschauen würde, wenn er nach Worten ringen würde, um zu erklären, weshalb er sie nicht wollte? Genau wie der Mann in der Geschichte, die sie vor einigen Tagen zu Ende gelesen hatte. Dieser hatte seiner Verlobten am Altar mitgeteilt, dass er sie nicht heiraten könne, und hatte ihr später in einem Brief erklärt weshalb. Seine beste Freundin seit der Kindheit hatte ihm vor der Kirche ihre Liebe gestanden, hatte ihm gesagt, dass sie diese Gefühle bereits einige Jahre hege. Aber als sie realisierte, dass sie ihn nicht nur als ihren besten Freund sah, war es schon zu spät, da er mit seiner jetzigen Verlobten zusammengekommen war.
Soweit Moira wusste, hatte Harry keine solche Freundin aus Kindheitstagen, aber was, wenn sein Grund für ein "Nein" die Karriere wäre? Was, wenn er in den vergangenen Stunden realisiert hatte, dass sein Leben als einer der begehrtesten Junggesellen vorbei sein würde? Was, wenn er sich nicht vorstellen konnte, für den Rest seines Lebens auf jemanden Rücksicht nehmen zu müssen, wenn er auf Tour war?
Die Szene spielte sich vor ihrem inneren Auge ab.
Sie sah sich selbst, wie sie den Gang bis zu Harry entlang ging. Sie sah das gleiche vorfreudige und doch zittrige Lächeln auf seinen Lippen, wie es auch ihr Gesicht zieren musste. Als sie jedoch ihm gegenüber stehen blieb und in die ihr so vertrauten grünen Augen blickte, erkannte sie, dass das Lächeln diese nicht erreichte. Zunehmend nervöser biss sie sich auf die Unterlippe und versuchte, Harry's Blick einzufangen, der immer wieder durch den Raum huschte und zwischendurch nur kurz auf ihr lag.
Sie versuchte ihm mit einem kleinen Händedruck zu verstehen zu geben, dass sie genauso nervös war, sie aber hier gemeinsam waren. Darauf schenkte er ihr ein schiefes Lächeln und ihr Herzschlag verlangsamte sich ein bisschen. Dies jedoch nur, bis die Pastorin ihm die alles entscheidende Frage stellte. Es folgte eine Pause, nicht länger als eine Sekunde, aber diese kurze Stille gepaart mit dem betrübten Gesichtsausdruck ihres Verlobten sagten ihr alles, was sie jemals fürchtete.
„Es tut mir leid, Moria. Ich kann dich nicht heiraten."
Dank der Schnappatmung war sie noch nicht vollends auf die Knie gesunken, aber sie merkte, wie sie die Gedanken in immer enger werdenden Kreisen nach unten zogen. Sie versank in ihrer selbst gesponnen und ungerechtfertigten Trauer.
„Moira!", hallte die laute Stimme ihrer besten Freundin durch den Raum, und schon spürte sie die warme Umarmung, die sie aus dem dunklen Raum mit den ungläubigen und verwirrten Gesichtern der Hochzeitsgästen zurück in das lichtdurchflutete Hotelzimmer holte.
Die blauen Augen ihres Gegenübers sahen Moira besorgt an und eine Sekunde später spürte sie Lesley's Arme um sich und die eine Hand, die ihr beruhigend über den Rücken fuhr.
Es half ein wenig. Die Gedanken kreisten nun vor allem um die Vorstellung, wie sie wohl ausschauen musste und Harry's entschuldigender Blick verschwand.
Eine blonde Haarsträhne kitzelte in Moira's Ohr, sodass sie sich sanft aus der Umarmung löste.
Lesley sah sie prüfend an, doch die Trauzeugin sprach erst weiter, als sie merkte, dass die aufgeregte Braut mit der Hand auf dem Herzausschnitt ihres Kleides versuchte, ruhig ein- und auszuatmen.
„Du musst mir nicht sagen, was du gerade eben in deinem Kopf durchgespielt hast, aber ich muss wissen, ob du okay bist. Ich hatte gerade echt Angst, dass du nicht mehr genügend Luft kriegst."
Lesley tupfte mit einem Taschentuch über Moira's Stirn, die sich trotz den aufwühlenden Bildern dazu entschieden hatte, ihrer Freundin zu erzählen, was los war.
„... Mir geht's aber wieder besser. Es sind wahrscheinlich die Nerven."
Der verständnisvolle Ausdruck auf Lesley's Gesicht half ihr und sie war froh, dass sie das hier gerade nicht alleine hatte durchstehen müssen und dass es ihre beste Freundin war, die sie nun versuchte zu beruhigen. Das war einer der Gründe, weshalb sie ihre Mutter zu den zwei weiteren Brautjungfern ins Zimmer geschickt hatte. Sie wäre jetzt nämlich selber viel zu aufgeregt, um ihrer Tochter irgendwie zu helfen.
„Komm, setz dich wieder hin. Ich muss nur noch deine Augen schminken und dann können wir mit der Frisur loslegen."
Und das taten sie. In Stille lehnte Moira sich zurück und ließ ihre Freundin ihren Job machen.
Erst, als sie die Bürste mit Wimperntusche das letzte Mal durch die zuvor noch hellen Wimpern gezogen hatte, begann Lesley wieder zu sprechen: „Es ist normal, dass du nervös bist und deine Emotionen und Gedanken Achterbahn fahren. Das ist schon fast dein Job als Braut. Aber mein Job ist es, dich zu beruhigen, dich daran zu erinnern, weshalb du das hier machst. Weshalb du heute um drei Uhr morgens befunden hast, dass es keinen Sinn hat und du sowieso nicht schlafen kannst. Dass du darauf dein Trauversprechen, das du bereits seit drei Wochen fertig hast, noch mindestens zwei Mal neu geschrieben hast.
Ich bin dazu da, um dich daran zu erinnern, wie du mich vor vier-einhalb Jahren mitten in der Nacht angerufen hast und mir die Ohren vollgequasselt hast. Du hättest gerade deinen Traummann gefunden. Ich bin da, um dich daran zu erinnern, wie dir Harry jeden Morgen und jeden Abend auf seiner Tour eine Video-Nachricht geschickt hat. Er hat keinen einzigen Tag ausgelassen. Noch nicht mal am Tag, als er sich mit Liam, Niall und Louis getroffen hat, um sich gegenseitig wieder mal auf den neusten Stand zu bringen. Du hast gewusst, dass es spät werden würde und dass er neben all den Erinnerungen, in denen er an diesem Tag schwelgen würde, wohl wenig an dich denken würde. Und doch hat er dir versichert, dass ihm trotz allem etwas, jemand, gefehlt hat – du."
Die Erinnerungen an all das, was ihre Freundin gerade aufgezählt hatte, überflutete sie. Sie konnte sich an alles erinnern, als wäre es erst letzte Woche gewesen. Wie sehr sie aus dem Häuschen gewesen war, als sie Harry das erste Mal getroffen und sich mit ihm unterhalten hatte. Wie sehr sie ihn vermisst hatte, als er auf der Welttournee war und sich jeden Morgen und Abend wie ein Kind auf die Nachrichten von ihm gefreut hatte. Sie hatten ihr die Zeit ohne ihn erträglich gemacht. Sie wusste, dass das alles sehr kitschig und rosa war, aber so war sie. Sie war unglaublich romantisch, und dass sie in Harry jemanden gefunden hatte, der diese Eigenschaft mit ihr teilte, war einfach nur schön.
Während sich Lesley also an ihre Haare machte, schwelgte sie noch weiter in den schönen Erinnerungen, die nun alle durch sie durchflossen, als hätte die Blonde den Damm gebrochen. Moira schloss die Augen und tauchte ab.
Ein sanftes Klopfen an ihrer Zimmertür unterbrach jedoch das Fertigstellen der Hochzeitsfrisur. Lesley verschwand im Gang und Moira hörte nur hier und da einige Wortfetzen.
„Hi ... wieder einigermassen beruhigt ... nervös ... normal ... Whiskey ... Flasche Wasser ... danke Niall."
Die Tür fiel ins Schloss und Lesley kam wieder zurück. In ihrer Hand hielt sie einen kleinen Umschlag und trug dazu ein breites Grinsen auf dem Gesicht.
„Was wollte Niall?", wollte Moira wissen und strich sich die eine Locke, die ihre Freundin noch nicht richtig befestigt hatte, aus dem Gesicht.
„Er hat den Postboten gespielt und mir diesen Brief gegeben. Zusätzlich soll ich dir ausrichten, dass er seinen besten Freund hatte davon abhalten müssen, die Minibar vor lautet Nervosität leer zu trinken."
Ein Teil der Anspannung löste sich durch das herzhafte Lachen, das Moira nach der überbrachten Nachricht durchschüttelte.
Es war so untypisch für Harry, sich auf Alkohol zu stürzen. Was das anging, war er ein Genussmensch. Ein Glas Wein zum Abendessen oder einen Whiskey bei guten Freunden war ihm mehr als genug. Dass er sich aber kaum zurückhalten konnte, zeigte der Rothaarigen, dass er tatsächlich genauso nervös und aufgeregt war wie sie – und das beruhigte sie ungemein. Sie war nicht alleine mit ihren wirren Gedanken und Gefühlen. Ihr Seelenverwandter durchlebte gerade ganz ähnliche Stunden des Wartens wie sie. Diese Erkenntnis ließ ihren Puls noch etwas weiter sinken und sie lächelte ihre beste Freundin glücklich an, die sich ebenfalls langsam vom Lachflash erholte.
Mit der einen Hand noch immer auf ihrem Bauch überreichte Lesley Moira den Umschlag und meinte: „Wir machen deine Frisur nachher fertig."
Mit diesen Worten begab sie sich ins Badezimmer und ließ der Braut ein bisschen Privatsphäre.
Mit steifen Fingern und wieder langsam ansteigendem Puls klaubte sie den Brief aus dem Umschlag und entfaltete ihn. Sie erkannte sofort die ordentliche und saubere Schrift. Die zahlreichen Briefe und Liebesbekundungen, die sie die vergangen vier Jahre von Harry erhalten hatte, hatten ihr Auge auf seine Handschrift geschult und sie hätte sie überall erkannt.
„Mein Sternenmädchen, ich kann es nicht erwarten, dich zu meiner Frau zu nehmen. Ohne viel von meinem Trauversprechen vorweg zu nehmen, möchte ich, dass du weißt, dass der heutige Tag der Anfang des Beweises dafür sein wird, dass ich die beste Entscheidung meines Lebens getroffen habe. Ich werde in dieser Scheune auf dich warten und mich zusammenreißen, dir auf dem Weg zu mir und der Pfarrerin nicht entgegenzustürmen.
Dein vor Vorfreude und Liebe rastloser H."
Mit dem hereinscheinenden Sonnenstrahl ging Moira's Herz auf und all die lästigen Zweifel, die sie seit heute Mittag begleitet hatten, fielen restlos von ihr ab. Harry war genauso aufgeregt wie sie, und dennoch hatte er ihr mit diesen Zeilen sämtliche Nervosität genommen und sie mit einer freudigen Aufregung und Neugier ersetzt.
Schlussendlich war ihr nun mehr als alles andere bewusst, dass sie sich nie würde verzeihen können, wenn sie heute nicht am Arm ihres Vater diesen Gang entlang schritt. Dafür liebte sie diesen charmanten Lockenkopf einfach zu sehr.
Ob er sie nun so sehr liebte wie sie ihn, war schon beinahe nebensächlich. Ihr Herz gehörte ihm. Er hatte es im Sturm erobert und dieser Schritt hier würde ihre Gefühle und alles, was sie für diesen Mann empfand, bestätigen.
Sie würde somit ohnehin nie mehr zu der Moira zurück können, die sie noch vor seinem Einzug in ihr Leben war.
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