9 | Isabelle und Josh
„Mit Werwölfen und Vampiren habe ich nicht so viel am Hut", plauderte Isabelle nach dem ersten Glas Wein munter aus. Sie hatte sich, nachdem der Schlüsseldienst ihre Wohnung aufgeschlossen hatte, umgezogen und saß nun in einem kurzen Sommerkleid Harold gegenüber am Küchentisch.
Sie hatte ein Paket Aufbackbrötchen und Antipasti mitgebracht, die sie nebenbei schnabulierten. ‚Öfter einkaufen gehen!', notierte Harold auf einem unsichtbaren Notizzettel. Er war ein lausiger Gastgeber. Wenigstens hatte er es geschafft, vorher halbwegs Ordnung zu schaffen, ehe die hübsche Lehrerin wieder vor seiner Tür gestanden hatte.
„Was liest du dann am liebsten? Boss-Romanzen, vielleicht? Oder Mafia?"
Isabelle lachte. „Ach nein, ich bin eher für historische Romane zu begeistern. Alte Schlösser, feine Grafen, unabhängige Frauen, die ihren eigenen Weg gehen ..." Sie seufzte theatralisch, legte eine Hand aufs Herz und kippte den Kopf in den Nacken, als wäre sie in einem ihrer Romane gefangen. Dann lachte sie leise und ihre Finger landeten auf Harolds. Sie waren warm und weich. „Nichts, was du je schreiben würdest." Sie zwinkerte.
Harold dachte laut: „Und wenn doch?"
Isabelle blinzelte überrascht. „Du schreibst einen Historienroman?"
Harold fuhr sich durch die Haare. Hatte er das wirklich gerade laut gesagt?
„Also ... nicht ganz, fürchte ich." Wie kam er jetzt aus der Sache wieder raus, ohne sie zu enttäuschen? Die Wahrheit war wohl das Beste – oder zumindest ein Teil davon. Wenn er ihr von seinen lebendigen Figuren erzählen würde, hielt sie ihn womöglich für verrückt.
„Ich habe eine Geschichte angefangen, die in Schottland spielt", sagte er schließlich. „Eine junge Frau erbt ein altes Schloss und will es in ein Hotel umbauen. Natürlich lernt sie bald ihren Nachbarn kennen." Er hielt inne und grinste plötzlich. „Fast wie bei uns."
„Und sie verliebt sich in diesen Nachbarn?" Ihre Stimme klang spielerisch, doch in ihrem Blick lag etwas anderes – etwas, das Harolds Puls schneller schlagen ließ. Ihre Finger fuhren langsam an seiner Hand entlang.
„Ja ... also ... eigentlich ..." Verdammt, lass das Gestotter! Sie hat dir eine einfache Frage gestellt!
Er atmete tief durch. „Ich würde es mir wünschen, ja."
Isabelle kicherte leise und suchte seinen Blick. „Du wünschst es dir? Klingt nicht gerade so, als hättest du darauf Einfluss."
Wenn sie nur wüsste, wie recht sie damit hat!
„Wer weiß schon, was Frauen wollen?" Er zuckte mit den Schultern und zwang sich zu einem gleichgültigen Tonfall. Doch in seinem Inneren brannte längst ein Feuer, und Isabelle spielte mit den Flammen.
„Es ist eigentlich ganz einfach", summte sie leise. Ihre Hand glitt langsam seinen Arm hinauf. „Wir wollen begehrt und geliebt werden. Mehr braucht es nicht."
Sie stoppte. Ihre Augen hielten seine fest.
„Und was brauchst du, Harold?"
Er schluckte. Konnte es so leicht sein? „Ich möchte kein Alpha sein", sagte er, ohne groß darüber nachzudenken.
Isabelle grinste breit. Unerwartet stand sie auf, umrundete den Tisch und blieb vor ihm stehen. Er musste aufsehen, um weiterhin in ihre Augen zu schauen. Langsam beugte sie sich zu ihm hinunter. Eine Hand vergrub sich in seinem Haar, ihr Daumen strich sacht über seine Bartstoppeln, bevor ihre Finger sanft auf seinen Lippen ruhten.
„Ich brauche keinen dominanten, reichen Alpha-Mafia-Boss", flüsterte sie. „Ich mag dich."
Die Worte schwebten zwischen ihnen, ehe die Stille sie verschluckte – eine Stille, die so aufgeladen war, dass Harold einen Moment lang vergaß zu atmen.
Isabelles Lippen zögerten über seinen, als wollte sie ihm die Wahl lassen. Ein leiser Atemzug, ein Hauch von Wärme – eine Frage, die in der Luft lag. Dann trafen sie sich. Erst sanft, erkundend, und als Harold sich ihr entgegen neigte, wurde der Kuss tiefer, drängender. Seine Finger fanden ihren Rücken, hielten sie fest, als würde er befürchten, sie könnte sich zurückziehen. Doch Isabelle tat das Gegenteil – sie schmiegte sich näher an ihn, als hätte sie genau hierhin gewollt.
Mutig geworden stand er plötzlich auf, hob sie mühelos hoch und trug sie in Richtung Schlafzimmer.
Isabelle kicherte gegen seine Lippen. „Und du wolltest mir erzählen, du wärst kein Alpha?"
Harold schmunzelte, während er mit der Hüfte die Tür aufstieß. „Tja... vielleicht hast du mich gerade ein wenig inspiriert."
Am nächsten Morgen lehnte Harold gegen die Küchentheke und goss Kaffee in seine Tasse. Isabelle war früh zur Arbeit gegangen, doch ihr Lachen hallte noch immer in seinem Kopf nach. Er strich sich über den Nacken und schüttelte grinsend den Kopf. Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet seine Muse ihm mal einen Besuch abstatten würde?
Er nahm einen Schluck Kaffee und griff nach seinem Handy. Er brauchte dringend Klarheit, wie es mit seiner Geschichte weitergehen konnte.
Bereits beim zweiten Tuten nahm jemand ab. „Harold, altes Haus! Mit dir habe ich noch gar nicht gerechnet. Bist du etwa schon fertig?" Die Stimme des jüngeren Mannes klang erfreut und etwas ungläubig aus dem Telefonhörer. Harold rollte die Augen bei der Bezeichnung „alt" und konzentrierte sich auf sein Anliegen.
„Erwarte nicht zu viel von mir, Josh. Die Recherche für das Projekt ist umfangreicher, als ich erwartet habe", gab er zu. Grinsend dachte er dabei an die letzte Nacht mit Isabelle, die leider am Morgen viel zu früh gegangen war.
Josh lachte freundlich. „Ich wette, du wirst das trotzdem souverän hinbekommen, Harold. So etwas schreibst du doch im Schlaf."
Harold atmete tief ein. Eigentlich schrieb es sich während er schlief. „Ehrlich gesagt, wollte ich deinen Rat. Ich bin mir nicht sicher, ob die Geschichte die richtige Richtung nimmt."
„Du fragst mich um Rat?"
„Ich brauche deine Sicht als Agent. Ich bin neu in dem Genre, wie du weißt. Du kennst das Publikum besser als ich."
„Das stimmt. Also, schieß los. Was ist der Plot?"
In kurzen Sätzen skizzierte Harold die Geschichte um Bella Sinclair und Lord Cavendish. Nachdem Isa gestern so davon geschwärmt hatte, wollte er gerne mit diesem Strang weitermachen. Sollten Bella Bianci und Paul sich erst ein bisschen besser kennenlernen.
„Ich habe vor, sie mit Hilfe des Lords ihre Trauer überwinden zu lassen", erklärte er seinen Plan. „Er unterstützt sie finanziell und sie bauen das Schloss gemeinsam wieder auf. Natürlich gibt es vorher Gerede im Dorf, weil der Lord schon einmal verheiratet war und..."
„Was ist aus deiner Mafia-Story geworden? Die klang doch ganz vielversprechend im ersten Entwurf", unterbrach Josh ihn. Harold seufzte.
„Dir gefällt die Idee mit dem Lord nicht?"
„Die Mafia gefällt mir besser." Harold hörte das Zwinkern durch den Telefonhörer.
„Na gut", meinte er, während er in der Küche umher schlurfte. „Bella Bianci wurde als junges Mädchen vom Mafia-Erben eines rivalisierenden Clans entführt und wächst bei ihrem Verlobten Lorenzo auf."
„Klingt schon mal gut", kommentierte Josh.
„Es kommt zu einem Überfall im Club, und Bella gerät in eine Schießerei", fuhr Harold fort.
„Solide", kam es aus dem Hörer. Harold schenkte sich Kaffee nach und nippte am Becher. Besser!
„Bella sieht ihre Chance zur Flucht, läuft durch den Club und auf die Straße. Sie entkommt ihren Entführern und findet Unterschlupf bei einem Freund und ..."
„...denkt, sie ist in Sicherheit", unterbrach Josh ihn begeistert. „Aber die Mafia ist ihr auf den Fersen und findet sie. Zurück im Unterschlupf merkt sie, dass Lorenzo sich um sie sorgt, und sie entdeckt sein sensibles ‚Ich'. Sie verliebt sich... blablabla. Das Ganze musst du natürlich noch mit spannenden Szenen füllen, aber so passt es von meiner Seite."
„Ist das der Weg, den sie gehen muss?", fragte Harold nach. „Sie verliebt sich in den Mafia-Boss?"
Josh schwieg kurz, bevor er irritiert antwortete. „Wie sollte die Geschichte denn sonst enden?"
„Naja... Bella könnte es schaffen, vor Lorenzo zu fliehen, sich ihr eigenes Leben aufbauen. Das wäre doch mal etwas Neues", versuchte es Harold. Doch Josh lachte nur.
„Bitte, Harold, das klingt ja fast wie das Ende eines Märchens. Das Rotkäppchen entkommt dem bösen Wolf und lebt glücklich bis ans Ende ihrer Tage. Das wollen unsere Kundinnen nicht lesen. Sie wollen sehen, wie Bella leidet, ihre innere Stärke findet und den guten Kern im Mann weckt. Sie ist diejenige, die ihn wirklich sieht, nur Bella versteht seinen Schmerz, der ihn zu diesem Mann gemacht hat. Sie kann ihn erlösen. Und am Ende bilden sie eine Einheit als Paar. So funktioniert Dark Romance. Egal, ob Mafia, Werwolf oder Boss-Romanze: Junge Frau trifft attraktiven Mann, der seine weiche Seite erst noch entdecken muss. Und genau das will ich von dir, Harold."
„Und wenn sich ein Alpha in eine Omega verliebt?"
Eine kurze Stille entstand, in der Josh zu überlegen schien. „Das ginge wahrscheinlich. Solange du es glaubwürdig rüberbringst. Willst du lieber eine Werwolf-Geschichte schreiben?"
„Vielleicht?" ‚Wenn es nur der Alpha wäre, der sich verliebt, und nicht seine Bella', dachte Harold heimlich.
„Halte dich einfach an die gängigen Regeln, dann kannst du fast alles mit den Figuren machen", meinte Josh.
„Auch etwas ... sagen wir... Unkonventionelles?"
„Harold?" Josh sprach langsam, klang auf einmal unsicher. „Was hast du vor?"
„Nichts Bestimmtes", meinte Harold schulterzuckend und blickte auf die beiden Weingläser vom Abend, die er noch nicht abgewaschen hatte. „Ich würde mir nur gerne alle Optionen offenhalten."
„Bitte, sei nicht zu experimentell. Das steht dir nicht!", mahnte Josh. Harold konnte den erhobenen Zeigefinger förmlich vor sich sehen.
'Mir nicht', dachte Harold bei einem weiteren Schluck Kaffee. ‚Aber vielleicht steht es Georgina James!'
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