8 | Die Muse
Harold zögerte. Wie sollte er das Ganze anstellen? Bella war auf dem Weg zu einem Paul, den er gar nicht erschaffen hatte. Er hatte kein Aussehen, keine Backstory und niemand im Club würde bestätigen, dass er dort arbeitete.
Und die Adresse, die er ihr gegeben hatte? Ein völliges Nichts. Er musste sich beeilen, wenn dort rechtzeitig eine Wohnung entstehen sollte. Inklusive Gästezimmer!
Der Schriftsteller lehnte sich zurück und überlegte. Draußen hatte es angefangen zu regnen. Das stetige Prasseln auf das Schrägdach war der einzige Laut in dem kleinen Zimmer.
Plötzlich hatte Harold eine Idee. Für einen alten Krimi hatte er mal eine gemütliche Stadtwohnung entworfen. Der Bewohner war kaum eingezogen, bevor er ermordet wurde – die Wohnung war so gut wie unbenutzt. Perfekt.
Und Paul? Den würde er schlicht halten. Hellhäutig, mittelgroß, mittelalt, braune Haare, eine kleine Narbe auf der Wange von einem kaputten Cocktailglas. Ein Gast hatte ihn damit attackiert, weil er ihm keinen weiteren Drink mehr einschenken wollte. Das würde eine gewisse Verantwortung implizieren und Bella Vertrauen schenken. Außerdem war er erst seit Kurzem im D'Oro – ein Aushilfsbarkeeper. Beruflich war seit ein paar Jahren...
Es klingelte schrill. Harold zuckte zusammen und starrte auf das geöffnete Dokument.
Bella stand vor dem alten Backsteinhaus. Der Regen hatte ihre Kleidung durchnässt, sie fror. War es eine gute Idee gewesen, hierherzukommen? Sie legte den Finger erneut auf die Klingel. Wenn er jetzt nicht öffnete, müsste sie wieder gehen. Zurück zu Lorenzo?
Ein weiteres Schrillen holte Harold aus seiner Geschichte. Er blinzelte und drehte sich zur Tür.
„Ja doch, ich komme schon!"
Mühsam stand Harold auf und hoffte, dass Bella in seiner Geschichte noch ein wenig auf Paul warten würde. Er ging zur Tür, öffnete sie – und erstarrte.
„Hallo, Nachbar! Tut mir leid, Sie zu stören, aber ich habe mich ausgesperrt, mein Handyakku ist leer und... Oh Gott, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt."
Die junge Frau vor ihm lachte verlegen. Ihre nassen, braunen Haare klebten an ihrem Gesicht, während sie ihm schwungvoll die Hand entgegenstreckte.
„Mein Name ist Wright. Isabelle Wright. Ich wohne gegenüber."
Harold keuchte. Seine Lippen bewegten sich, er brachte jedoch kein Wort heraus.
Das war Isabelle! Die nette Lehrerin, die vor ein paar Wochen in die Wohnung gegenüber eingezogen war. Er hatte sie schon öfter Mal im Treppenhaus und im Park gesehen. Sie gefiel ihm – mehr, als er sich eingestand. Da war diese Leichtigkeit in ihrer Art, die ihn faszinierte. Vermutlich hatte er deshalb seine Figuren nach ihr benannt.
Dass sie jetzt vor ihm stand brachte ihn zum Schwitzen.
„Es ist wohl gerade unpassend", meinte Isabelle nach einer kurzen Pause und lächelte unsicher. „Ich kann auch unten zur Telefonzelle..."
„Nein, Unsinn, kommen Sie rein."
Harold trat zur Seite und ließ sie ins Haus. Eilig räumte er ein paar Weinflaschen vom Boden und alte Zeitungen vom Schuhregal. Beschämt nahm er sich vor, künftig öfter aufzuräumen. Falls spontan Besuch vorbei kam. Doch Isabelle schien nicht auf das Chaos zu achten. Oder es war ihr egal.
Sie zog wie selbstverständlich ihre nasse Jacke und ihre Sandalen aus und stand mit einem Mal barfuß und nur in Jeans und Shirt vor Harold. Sie war vom Regen durchnässt, und das Shirt klebte eng an ihrem Körper. Der Flur war schmal und die Nähe zu der Lehrerin war plötzlich überwältigend. Harold spürte, wie sein Puls schneller wurde. Sie roch nach Regen und etwas Blumigem, das ihm seltsam vertraut vorkam.
„Ich hole Ihnen etwas zum Trocknen", sagte der Autor schnell, um sich aus der plötzlichen Starre zu lösen.
Er drückte sich an ihr vorbei und eilte ins Badezimmer, griff nach dem besten Handtuch, das er finden konnte – eins, das nicht völlig zerfleddert war – und reichte es ihr. Isabelle nahm es dankbar entgegen und fuhr sich damit über die tropfnassen Haare.
„Oh Mann, das ist echt unhöflich von mir, einfach so hier reinzuplatzen." Die Lehrerin rieb sich die nassen Arme trocken. „Ich wollte nur ganz kurz zum Briefkasten runter, da fiel die Tür zu. Dann begann es mit einem Mal heftig zu regnen und ich kam nicht wieder ins Haus. Ich musste erst bei allen Parteien klingeln, bis mich die alte Mrs. Fiedler reingelassen hat. Manchmal fühle ich mich wie eine dieser zerstreuten Protagonistinnen aus einem Young-Adult-Roman." Sie lachte zurückhaltend. „Und wenn ich nervös bin, quatsche ich viel zu viel..." Sie stoppte ihren Redefluss und strich eine Haarsträhne hinter das Ohr. „Ich müsste nur mal kurz telefonieren. Wenn das okay ist."
Harold huschte ein Lächeln über seine Lippen. Isabelle gab eine wunderbare Protagonistin ab, das hatte er immer geahnt. Nur schienen die Bellas, die er nach ihrem Vorbild entworfen hatte, nicht annähernd an das Original heranzukommen.
„Ich mache uns Tee, während Sie auf den Schlüsseldienst warten", sagte er, mehr zu sich selbst als zu ihr, und eilte in die Küche. Er brauchte dringend eine Aufgabe – bevor seine Gedanken völlig mit ihm durchgingen. Harold suchte einen Anbieter in seinem Handy und reichte es ihr. Dann füllte er Teewasser in den Wasserkocher und verschwand kurz im Schlafzimmer.
Eilig durchwühlte er die Schubladen nach etwas passendem. Er fand eine schlichte graue Jogginghose und einen kuscheligen Pullover. Dazu ein paar Socken, die Millie hier einmal vergessen hatte. Warum nur ließen Frauen immer irgendwas liegen, wenn sie einen besuchen kamen?
Als er zurück in die Küche kam, hatte Isabelle bereits aufgelegt und war vor Harolds Bücherregal stehen geblieben. Mit den Fingern fuhr sie über die Buchrücken und blieb an einem Titel hängen.
„Moment mal..." Sie zog das Buch heraus, drehte es in den Händen und blickte ihn ungläubig an. „Sie sind DER Harold Keynes?"
Harolds Kehle wurde trocken. Es war nicht so, dass ihn nie jemand erkannte, aber die Art, wie sie ihn ansah – mit echter Bewunderung, fast Ehrfurcht – brachte den Schriftsteller aus dem Konzept.
„Ich... ja." Er strich sich verlegen durch die Haare.
„Das kann doch nicht sein." Isabelle lachte leise, blätterte durch die Seiten. „Ich liebe Ihre Bücher! Prophezeiung hat mich damals völlig umgehauen. Ich hatte wirklich eine Zeit lang Angst, die Welt könne wirklich untergehen."
Harold schluckte. „Das freut mich zu hören. Also, nicht dass Sie Angst hatten, sondern das andere... also, dass du es mochtest... Sie es mochten." Er schüttelte sie innerlich. Wieso nur war er so nervös?
„Hier." Er hielt ihr das Bündel Kleidung entgegen, das er geholt hatte. „Also... ich dachte, das hier wäre vielleicht bequemer als nasse Jeans."
Isabelle drehte sich vollends zu ihm um, ihr Blick wurde weicher. Für einen Moment sagte sie nichts, musterte ihn nur, als würde sie eine neue Facette an ihm entdecken. Dann nahm sie das Kleidungspaket entgegen, ihre Fingerspitzen streiften dabei leicht seine.
„Danke. Harold." Sie lächelte breit, und ihr Tonfall hatte etwas Sanftes, fast Vertrautes.
Harold wurde plötzlich heiß, er wusste nicht, was er erwidern sollte. Also drehte er sich abrupt um. „Herrje, ich habe den Tee noch gar nicht aufgesetzt."
Er eilte zur Küchentheke, nestelte an der Teekanne herum, nur um festzustellen, dass er den Wasserkocher noch nicht mal angeschaltet hatte. Hektisch griff er danach, stieß dabei gegen eine Tasse, die klirrend wackelte.
„Alles in Ordnung?", fragte Isabelle belustigt hinter ihm.
„Ja! Ja, klar." Er räusperte sich, schaltete endlich das Gerät an. Verdammt. Reiß dich zusammen.
„Wann kommt der Schlüsseldienst?", fragte er, bemüht, seine Nervosität zu überspielen.
„Wieso, willst du mich loswerden?" Ihr Blick funkelte amüsiert, ein leises Kichern lag in ihrer Stimme.
„Nein, natürlich nicht! Du kannst so lange bleiben, wie du willst. Ich dachte nur ..."
„Wie wäre es dann, wenn wir zu dem Tee ein Gläschen Wein trinken?"
Harold spürte ihre warme Hand auf seiner Schulter. Sie stand jetzt dicht neben ihm, in seiner Jogginghose und seinem Pullover – als gehöre sie schon immer hierher. Ihre blaugrünen Augen musterten ihn mit einem schelmischen Ausdruck, als würde sie genau wissen, was in seinem Kopf vorging.
Er atmete hörbar ein. Wie war er nur auf die Idee gekommen, Geschichten über Alpha-Männer zu schreiben? Wenn er doch selbst jedes Mal die Fassung verlor, sobald ihm eine Frau gefiel?
Wäre er der dominante Lorenzo oder der wilde Wolf Bracken, hätte er Isabelle längst an der Hüfte gepackt, auf den Küchentresen gehoben und ihre vollen weichen Lippen mit seinen verbunden. Danach hätte er sie ins Schlafzimmer getragen und ... Nicht hilfreich, Harold!
„Gute Idee... ich hole dir noch ein Glas." Umständlich suchte Harold im Schrank das letzte saubere Weinglas heraus und reichte es seiner Besucherin. „Bediene dich, ich habe ein paar gute Flaschen da."
Er zeigte auf den kleinen Weintemperierschrank, in dem er seine hochwertigen Stücke aufbewahrte. Isabella schien beeindruckt. „Du hast ja eine vielfältige Auswahl! Welchen kannst du empfehlen?"
Harold lächelte. Mit Wein kannte er sich zum Glück aus. Er trat näher an sie heran – so dicht, wie er es aushielt – und stellte seine Schätze vor.
„Ich habe vor einiger Zeit diesen Tempranillo für mich entdeckt", sagte er und öffnete den Weinschrank. Seine Finger glitten über die Flaschenhälse, bis er die Richtige herauszog. „In einem kleinen Weingut in der Rioja, abseits der Touristenpfade. Der Winzer war ein älterer Mann, der mir mit leuchtenden Augen erklärte, dass Geduld der Schlüssel zu einem wirklich außergewöhnlichen Wein ist."
Er hielt die Flasche hoch, damit Isabelle das Etikett betrachten konnte. Das Papier war cremefarben und hatte eine leicht raue Struktur, als wäre es handgeschöpft. In der Mitte prangte der Name des Weinguts in geschwungener, goldgeprägter Schrift: "Bodega de la Vega". Darunter eine kunstvolle Illustration eines alten spanischen Herrenhauses, umgeben von sanften Weinbergen, eingefasst in einen filigranen goldenen Rahmen.
„Gran Reserva – Rioja DOCa – 2012", las Isabelle leise vor und strich mit dem Finger über die tiefrote Schrift. Ihr Blick wanderte zum roten Wachssiegel am Flaschenhals. „Wow, das sieht wirklich edel aus."
Harold lächelte und zog einen Korkenzieher aus der Schublade. „Dieser Wein ist wie eine gute Geschichte", sagte er, während er den Korken langsam herauszog. „Am Anfang noch verschlossen, mit einer gewissen Zurückhaltung. Doch je mehr Zeit man ihm gibt, desto mehr entfaltet er seine Tiefe, seine Nuancen. Und wenn du dich darauf einlässt, dann ..." Er hielt kurz inne, ließ den Gedanken in der Luft hängen.
Isabelle sah ihn neugierig an. „Dann?"
Er schenkte ihr ein Glas ein und hielt es ihr hin. „Dann erzählt er dir alles."
„Auch, woran der Bestsellerautor gerade schreibt?" Ein schelmisches Lächeln huschte über ihr Gesicht, doch in ihrem Blick lag ehrliche Neugier.
Harold zögerte. Sein Finger fuhr nachdenklich den Rand des vollen Weinglases entlang.
„Ich rede grundsätzlich nicht über laufende Projekte. Das stört meine Kreativität."
„Oh." Isabelle blinzelte überrascht, fast entschuldigend. „Tut mir leid, ich wollte dich nicht drängen." Sie trat einen kleinen Schritt zurück, und gab ihm Raum. Harold spürte augenblicklich, dass er es falsch angegangen war. Er wollte nicht unnahbar wirken – nicht bei ihr.
Er atmete tief durch. „Tatsächlich schreibe ich gerade etwas außerhalb meiner Komfortzone," gab er preis und versuchte, seine Stimme weicher klingen zu lassen. „Liest du denn nur Düsteres, oder auch andere Genres?"
Isabelle ließ sich nicht lange bitten, und ihr Lächeln kehrte zurück. „Ich liebe Krimis. Aber wenn ich ehrlich bin, habe ich wohl eine geheime Vorliebe für Happy Ends. Man kann mich wohl als unerträgliche Romantikerin bezeichnen."
Harold zog eine Augenbraue hoch. „Ich wäre auch gerne romantischer. Aber das fällt mir noch schwer."
„Ich finde, der Wein macht schon einen guten Anfang." Sie hob ihr Glas mit einem verspielten Funkeln in den Augen. „Auf die Romantik!"
Harold konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen und stieß mit ihr an. „Auf die Romantik."
Und während Harold seinen Wein mit Isabelle genoss, öffnete an einem anderen Ende der Geschichte ein freundlicher Mann die Tür seiner Wohnung und ließ die vom Regen nasse Bella bei sich Unterschlupf finden.
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