7 | Falling for the Mafia Boss
Harold tigerte nun schon seit einer Stunde durch seine Wohnung. Eine halbe Flasche Wein hatte er bereits geleert, dabei war es nicht einmal vier Uhr. Doch die Sache mit Isabella Sinclair hatte ihn aus der Bahn geworfen.
Wie war es nur möglich, dass seine Figuren plötzlich ein Eigenleben entwickelten? Wurde er am Ende doch verrückt?
Es lag sicher an der vielen Arbeit oder dem Stress, den er ausgesetzt war. Die letzten Jahre waren hart gewesen, er hatte ständig unter dem Druck gestanden, einen weiteren Bestseller zu schreiben. Dann hatte ihn erst seine Frau und schließlich auch seine Muse verlassen. Als er endlich ein neues Buch zustande gebracht hatte, war es von der Presse zunächst hochgelobt, doch kurz darauf verrissen worden. Ein Glück, dass sein Agent trotz allem an ihn glaubte. Die Erwartungen an Harold waren hoch, er musste wieder performen. Ein Teufelskreis!
Harold leerte das Glas und ließ sich auf seinem Stuhl nieder. Er konnte jetzt nicht aufgeben. Er brauchte das Geld vom Vorschuss und von den Buchverkäufen zum Leben. Er hatte doch sonst nichts, bis auf sein Erspartes. Und das verstand seine Tochter immer wieder anzuzapfen. Er konnte ihr kaum etwas abschlagen.
Also, ab ans Werk! Harold klappte den Laptop auf, den er vorsorglich geschlossen hatte, und öffnete den Ordner mit seinen laufenden Geschichten. Die jüngsten Ideen hatte er in einem Unterordner mit der Bezeichnung „Die Bellas" gespeichert. Kurz huschte ein Lächeln über sein Gesicht. Ein wenig verrückt war es ja, was hier passierte. Aber auch spannend. Er hatte sich oft im Spaß gefragt, was seine Figuren taten, während er nicht am Computer saß. Waren die Bellas in diesem Moment dabei, ihren Alltag zu leben? Oder warteten sie in der Dunkelheit, in der er sie zurückgelassen hatte, auf ihren Schöpfer?
Harold überlegte kurz. An Isabella Sinclair traute er sich erst einmal nicht heran. Sie hatte ihn gesehen. Wer wusste schon, was mit ihm passieren würde, wenn er sich weiter auf ihre Geschichte einlassen würde?
Sein Alpha Weibchen würde er vorerst in Ruhe lassen. Eine lesbische Liebesgeschichte war sicher nicht, was sein Agent Josh sich vorstellte. Zumindest nicht für seine Leserinnen.
Blieben das Mafiamädchen und die Assistentin. Für die Mafia hatte er bisher am meisten recherchiert. Er hatte eine illustre Hintergrundgeschichte seiner Protagonisten angelegt, einige Kapitel geschrieben und Bella Bianci war am ehesten zu kontrollieren. Die rebellische Boss-Bella Harper hatte ihrem geplanten Love Interest im Gegensatz dazu mit der Gewerkschaft gedroht.
Harold öffnete das Dokument, das unter dem Arbeitstitel Falling for the Mafia Boss gespeichert war. Den Plot eines Mafia Buches bereits im Buchtitel zu offenbaren, gehörte laut seiner Recherche zum Guten Ton des Genres.
Er scrollte durch das letzte Kapitel und las die Sätze, die dort geschrieben standen.
Bella verharrte reglos auf der pechschwarzen Straße, dessen Dunkelheit immer schwerer auf ihren Schultern lastete. Ihr Atem stieg stoßweise in die kalte Nacht auf und ihre Hände zitterten, während sie mit ausgestreckten Armen nach einem Weg suchte.
Plötzlich flackerte das Licht einer Straßenlaterne auf. Dann eine zweite. Und dort hinten – noch eine. Ein Pfad aus flüchtiger Hoffnung, der ihr den Weg wies.
Davon ermutigt setzte sich Bella in Bewegung. Mit jedem Tritt, den sie tat, erwachten weitere Laternen zum Leben, ihr Flackern wich einem festen, helleren Schein. Ihr Herz schlug schneller. Ihr Tempo wurde hastiger. Schließlich rannte sie, das Echo ihrer High Heels hallte durch die leeren Gassen – wie die Schritte eines unsichtbaren Verfolgers.
Als sie um die nächste Ecke bog, erstarrte sie. Direkt vor ihr stand eine Telefonzelle. Ein Zeichen?
Hastig riss sie die Tür auf, griff nach dem Hörer. Ihre Finger umklammerten ihn krampfhaft, doch sie zögerte. Die Polizei rufen? Was, wenn Lorenzo und seine Männer längst auf dem Weg waren? Was, wenn die Cops nicht rechtzeitig kamen – und Lorenzo erfuhr, dass sie es versucht hatte?
Der Hörer sank langsam in ihrer Hand. Ihre Beine gaben nach, und sie lehnte sich gegen die kalte Glaswand der Zelle. Sie konnte ihm nicht entkommen. Nie würde sie dem Mann entfliehen, der bald ihr Ehemann werden sollte. Sie würde auf ewig gefangen sein in einer Ehe, die sich wie ein Urteil anfühlte.
Vielleicht wäre ein Schusswechsel die Erlösung. Oder Gift.
Lieber würde sie sterben, als eine weitere Nacht neben einem Mann zu verbringen, der sie nur als eine Trophäe betrachtete.
Harold zitterte leicht, als er die letzten Worte las. Hatte er Bella so schäbig behandelt? Hatte er sie in eine Verbindung gezwängt, aus der es keinen Ausweg gab? Würde sie lieber sterben, als die Geschichte, die er für sie geplant hatte, zu Ende zu leben? Oder war es nur ein bewusst gesetzter dramatischer Höhepunkt?
Einen Moment lang starrte er auf das leere Weiß, das ihm nach dem letzten Satz auf dem Bildschirm entgegenleuchtete. Was sollte er nun tun?
Er könnte Lorenzo und seine Männer losschicken, um Bella aus der Telefonzelle zu holen. Sie könnte behaupten, sie sei aus Angst vor der Schießerei geflohen. Aber was dann? Würde sie erneut versuchen zu entkommen? Oder konnte er den Mafia-Boss so handeln lassen, dass sie sich doch noch in ihn verliebte?
Harold rieb sich nachdenklich das Kinn. Das war es! Wieso war er nicht gleich darauf gekommen?
Er konnte sie doch einfach fragen!
Eilig tippte er ein paar Zeilen auf seinem Laptop und hoffte, dass sie sein Angebot zum Gespräch annehmen würde.
Bella seufzte und legte den Hörer zurück auf die Gabel. Draußen hatte es begonnen zu regnen. Einzelne Tropfen klopften gegen die Scheibe, zogen träge ihre Bahnen und vereinten sich schließlich zu schmalen Rinnsalen, die immer schneller hinabglitten.
Gedankenverloren legte sie die Hand an das Glas, folgte mit dem Finger der Spur eines Tropfens. War sie wie dieser Tropfen? Erst einzigartig – und dann? Aufgesogen, verschluckt, bedeutungslos in der Masse?
Hart schlug die Hand gegen das Fenster. Bella war gefangen in der Belanglosigkeit des Clans, nur eine weitere liebreizende Schönheit, ein Schmuckstück in den Augen ihres Besitzers. Aber Bella wollte sich nicht besitzen lassen. Sie wollte frei sein. Wenn es doch nur einen Ausweg gäbe...
In diesem Moment klingelte das Telefon.
Erschrocken fuhr Bella zusammen. War der Anruf etwa für sie? Das Läuten schnitt durch die Stille, fünfmal, sechsmal – dann griff sie zögernd nach dem Hörer und führte ihn langsam ans Ohr.
„Ja?" Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. „Wer ist da?"
„Endlich", kam es von der anderen Seite. „Mein Name ist... unwichtig. Nenn mich Paul. Bella, wir müssen reden."
„Wer... wer bist du? Woher weißt du, wer ich bin?" Ihre Finger umklammerten den Hörer fester. Die andere Hand schwebte über der Gabel, bereit, jederzeit aufzulegen. Doch ihre Neugier hielt sie zurück. Wer war dieser Mann mit der angenehmen, fast vertrauten Stimme?
„Ich glaube, du bist in Schwierigkeiten, oder?" Pauls Tonfall war besonnen. „Vielleicht kann ich dir helfen."
Bella schluckte. War das ein Wink des Schicksals? Oder eine Falle, um sie auszuhorchen? Sie kannte diesen Mann nicht. Vielleicht war er einer von Lorenzos Leuten.
„Woher weiß ich, dass du mich nicht noch tiefer in Schwierigkeiten bringst?" Ihre Stimme war brüchig. „Ich kenne dich nicht."
Eine kleine Pause entstand. Dann kam die Antwort: „Aber ich kenne dich."
Harold schrieb in kurzen, präzisen Sätzen, dass er ein Angestellter im Club sei und ihre Flucht beobachtet habe.
„Ich möchte dir helfen, deine Geschichte zu einem besseren Ende zu bringen. Ich glaube, du kannst dich mit Lorenzo aussöhnen. Er hat sicherlich einen guten Kern."
Bella unterbrach ihn scharf. „Du kennst Lorenzo nicht, wie ich ihn kenne! Er ist ein Monster! Sie alle sind Monster!"
„Willst du ihm nicht wenigstens eine Chance geben? Vielleicht hat er Gründe, warum er—"
„Mich aus meinem Elternhaus entführt hat? Meinen Vater niedergeschlagen hat? Mich wie seinen Besitz behandelt? Mich einsperrt und zwingt, ihn zu heiraten und seine Kinder zu bekommen? Und komm mir jetzt bloß nicht mit einer kaputten Kindheit! Die habe ich jetzt auch!"
Harold hielt inne. Er sah, wie sich die Worte über den Bildschirm ausbreiteten, als würde Bella all ihre angestaute Wut an ihm auslassen. Und plötzlich wurde ihm bewusst, was er seiner Protagonistin angetan hatte. Was er ihr weiterhin antun würde, wenn er sie zurück zu Lorenzo schickte.
Als der Sturm der Wörter schließlich abebbte, fasste Harold einen Entschluss: Er musste Bella erst besser kennenlernen, bevor er entschied, wie ihre Geschichte weiterging.
„Hör zu, Bella. Du hast allen Grund, mir nicht zu vertrauen. Aber gib mir bitte eine Chance, dir zu helfen. Ich gebe dir gleich meine Adresse und biete dir mein Gästezimmer für die Nacht an. Oder du rufst die Polizei, damit sie dich abholen. Allerdings... Lorenzo hat Verbindungen zum Kommissariat. Ich würde mich nicht auf ihre Hilfe verlassen."
Die Stimme aus dem Hörer schwang warm und beruhigend in Bellas Ohren. Ihr Herzschlag verlangsamte sich, während sie seinen Worten lauschte. Sie war von Natur aus misstrauisch, doch sein Angebot klang aufrichtig. Und er hatte recht: Die Polizei war vermutlich korrupt und würde sie sofort zu Lorenzo zurückbringen.
„Einverstanden", sagte sie nach kurzer Überlegung und versuchte, sich die Adresse genau einzuprägen. Sie war nicht weit entfernt, sie würde zu Fuß dorthin gelangen. „Aber wenn ich merke, dass du nicht ehrlich zu mir bist, verfluche ich dich und deine gesamte Familie!"
„Ich bin schon verflucht", murmelte der Mann leise.
Bella legte auf und blickte nach draußen. Der Regen fiel noch immer, doch die Laternen tauchten die Tropfen in ein schimmerndes Licht, das wie polierte Diamanten in einem Vorhang aus Wasser tanzte. Sie atmete tief ein. Dann drückte sie die Tür auf und machte sich auf den Weg zu Paul – nicht sicher, ob er ihre Rettung oder ihr Verderben sein würde.
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