6 | Bella Sinclair
Am nächsten Morgen setzte sich Harold direkt an seinen Laptop, der wie immer in der Küche seiner kleinen Dachgeschosswohnung stand. Vor Jahren hatte er sich einen Schreibtisch gekauft und eine Ecke im Wohnzimmer unter der Schräge als Arbeitsplatz eingerichtet. Doch schon bald stapelten sich dort nur lose Blätter, aufgeschlagene Bücher und anderes Recherchematerial. Stattdessen schrieb der Mittfünfziger seine Geschichten fast ausschließlich in der Küche – stets mit einer kräftig duftenden Tasse Kaffee oder einem Glas seines liebsten Rotweins in Reichweite.
Harold hatte sich nach dem Gespräch mit seiner Tochter dazu entschieden, zunächst mit Isabella Sinclair weiterzumachen. Sie war bisher die Einzige, die keinen Ärger gemacht hatte. Außerdem erinnerte sie ihn ein bisschen an Millie, und der Gedanke, dass seine Mausi sich eines Tages in eine gute Partie verlieben könnte, gefiel ihm. Ein Leben ohne Geldsorgen – das wünschte er ihr von Herzen.
Als Studentin war Millie oft knapp bei Kasse, ebenso ihr neuer Freund, der kaum mehr hatte als eine Kirchenmaus. Er war Student und Künstler - ein Dichter, ausgerechnet! Harold schüttelte den Kopf. Er war inzwischen ein erfolgreicher Autor – doch selbst er kämpfte finanziell. Millie sollte es besser wissen und sich jemanden mit solideren Karrierechancen suchen. Doch trotz allem konnte er Isabella dabei helfen, ihren Traumprinzen zu finden.
Harold nahm einen großen Schluck von seinem Kaffee und ließ voller Tatendrang die Finger knacken. Dann öffnete er die Datei und machte sich ans Werk.
Knatternd schob sich der alte rostrote Chevy im nachmittäglichen Nebel über die schmale Landstraße von Darkmoore. Etwas nervös überprüfte Isabella auf dem Weg zum Schloss des Lords ihr Outfit im Rückspiegel. Sie hatte sich zu diesem Anlass ein Kleid angezogen, doch die warmen Wanderstiefel wollten nicht so recht zu ihrer Aufmachung passen. Als sie ihren Koffer für diese Reise gepackt hatte, hätte sie nicht im Traum daran gedacht, dass sie in dieser gottverlassenen Gegend hohe Schuhe gebrauchen könnte. Immerhin hatte sie es geschafft, ihre Haare zu bändigen, die sorgfältig gekämmt ihr mühsam geschminktes Gesicht umrahmten.
Fast kam sie sich verkleidet vor. Wann hatte sie sich das letzte Mal ausgehfein gemacht? Es musste Jahre her sein. Vier, um genau zu sein. Vielmehr vier Jahre, drei Monate und elf Tage.
Isabella blinzelte.
Nicht jetzt, ermahnte sie sich, den Kloß in ihrem Hals mühsam hinunterwürgend. Sie hatte nach so langer Zeit ihre Lebensfreude wiedergefunden. Sie durfte ihr nicht gleich wieder entgleiten. Sie würde hier, am anderen Ende der Welt, endlich einen Neuanfang wagen! Weit weg von dem Schmerz, der sie all die Jahre umklammert gehalten hatte.
Ein lauter Knall aus dem Auspuff riss Isabella aus ihren Gedanken und scheuchte ein paar Vögel auf, als sie die imposante Toreinfahrt zum Anwesen des Lord Cavendish erreichte. Sie parkte den Wagen nahe einer Hecke und machte sich zu Fuß auf den Weg die breite Auffahrt hinauf, die von einem prächtigen Garten flankiert wurde.
Sofort fielen ihr die wilden Rosen ins Auge, die sich an den Gitterstäben des gusseisernen Tores vor dem Schloss emporrankten. Trotz ihrer ungezähmten Herkunft hatte sich offenbar jemand liebevoll um sie gekümmert – die Triebe waren sorgfältig beschnitten, und die Blüten standen in voller Pracht, als wollten sie sich für die Pflege bedanken.
Isabellas Blick wanderte zu den hohen Türmen, die wie Wächter den Park überschauten. Ob der Lord hier wohl allein lebte oder mit seiner Familie? Neugierig, ob das Innere des Palastes ähnlich imposant wäre wie das Äußere, stieg sie die steinernen Stufen zum Eingang hinauf. Fast ehrfürchtig nahm sie die eiserne Kette neben der Tür zwischen die Finger und ließ die kleine Glocke erklingen. Der helle, durchdringende Klang hallte über den Hof und vermutlich bis tief ins Schloss hinein.
Sie wartete nur einen Moment, bis eine Bedienstete ihr die Tür öffnete. „Willkommen auf Dunwin Castle!"
„Wie schön, dass Sie es einrichten konnten, Miss Sinclair. Wie Sie sich vielleicht denken können, habe ich hier oben nicht häufig Besuch."
Lord Cavendish hatte Isabella im Tearoom empfangen, einem gemütlichen Zimmer im ersten Stock, dessen Wände von hohen Bücherregalen gesäumt waren. Im Kamin prasselte ein munteres Feuer, das den Raum in ein warmes Licht tauchte. Isabella hätte sich leicht heimisch fühlen können, doch war sie beim Anblick des distinguierten Mannes erneut ein wenig nervös. Statt die Atmosphäre zu genießen, bemühte sie sich um eine angemessene Antwort, um nicht wiederholt in ein Fettnäpfchen zu treten.
„Ich freue mich über die Einladung, Lord Cavendish", meinte sie etwas steif. Schnell griff sie nach ihrer Tasse und nahm hastig einen Schluck Tee, der zu heiß war und ihr ein wenig die Zunge verbrannte. Doch sie unterdrückte den Schmerz und sah sich aufmerksam um. Zwischen ihnen stand ein rundes Tischchen, auf dem eine antike Porzellankanne, ein Pott mit braunem Kandiszucker und ein Kännchen Milch arrangiert waren. Der dunkle Ledersessel, in dem Isabella saß, war so tief und weich, dass er sie fast zu verschlucken schien. Daneben stand ein Teewagen, mit dem eine Bedienstete eine Auswahl an Keksen, frischen Obst und einen merkwürdig aussehenden Früchtekuchen ins Zimmer geschoben hatte. Alles hier schrie förmlich: Großbritannien.
„Sie kommen nicht von der Insel, habe ich recht? Sind Sie aus den Vereinigten Staaten?" Lord Cavendish nippte vorsichtig am Rand des Porzellans. „West Virginia, vielleicht?", riet er mit wachsamen Blick.
Isabella lächelte höflich. Sie war es gewohnt, dass sie auf dem alten Kontinent nicht für eine Engländerin gehalten wurde. Aber mit einer Amerikanerin verwechselt zu werden, gefiel ihr überhaupt nicht. Der Lord hatte anscheinend schon eine feste Vorstellung von ihr, kaum dass sie sich gestern kennengelernt hatten.
„Ich bin Kanadierin", antwortete sie und richtete sich etwas im Sessel auf. „Ich habe in British Columbia ökologische Betriebswirtschaft mit Schwerpunkt Hotelmanagement studiert. Meine Vorfahren sind zwar vor Generationen ausgewandert, doch meine Wurzeln liegen hier. Genau wie Ihre, Lord Cavendish."
Für einen Moment herrschte Stille, nur das leise Ticken der Standuhr war zu hören.
„Du bist Amerikanerin, Isabella! Du kommst aus Florida und wolltest immer Meeresbiologin werden. Und Lord Cavendish zeigt dir die wunderschöne Welt der Berge!"
Isabella blinzelte verwirrt. Der Satz schoss ihr durch den Kopf, aber es war nicht ihre eigene Stimme.
„Haben Sie das auch gehört?", flüsterte sie mit einem leichten Unbehagen. Der Lord runzelte die Stirn. „Ihre Erläuterung über Ihre Herkunft? Klar und deutlich!"
Isabella schüttelte sich. „Nein, da war eine Stimme! Sie hat mir etwas zugeflüstert. Etwas ... Verrücktes." Sie legte den Kopf schief, als könne sie so besser lauschen, doch der Lord sah sie nur amüsiert an.
„Ich habe nichts gehört, Miss Sinclair. Vielleicht waren es die Geister, die dieses Schloss manchmal heimsuchen. Eine Menge Menschen sind hinter diesen Mauern bereits gestorben." Er grinste über diesen harmlosen Scherz. Doch Isabella war sich sicher: Sie hatte sich das nicht eingebildet.
⭐ca. 7.000 Wörter ⭐
Keuchend riss Harold die Hände von der Tastatur. Ein eiskalter Schauer kroch ihm über den Rücken. Die Küche war mit einem Mal totenstill, als hätte jemand den Ton der Welt heruntergedreht. Sein Herz schlug so heftig, dass er befürchtete, es könne aus seiner Brust springen.
Das war nicht möglich!
Er stand auf, füllte mit zitternden Händen ein Glas mit eiskaltem Wasser und trank es hastig aus. Sein Puls beruhigte sich nur langsam. Doch als er nach dieser kurzen Pause zurückkehrte, erstarrte er. Seine Finger lagen nicht auf der Tastatur – und trotzdem rollte der Text weiter über den Bildschirm.
„Das kann nicht sein!"
Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Er beobachtete, wie Isabella sich im Schloss herumführen ließ und am Ende mit dem Lord vor einem Fenster stand, durch das man in der Ferne das Anwesen Ashbourne sehen konnte.
Harold wollte aufstehen, den Laptop zuklappen, das Ganze beenden – doch er konnte sich nicht rühren. Und dann tippten sich die nächsten Sätze wie von Geisterhand auf den Bildschirm:
„Isabella sah zu dem Anwesen hinüber, in dessen oberen Türmen die Abendsonne über dem Nebel gegen die Fensterscheiben fiel und sie blendete. Sie kniff die Augen ein wenig zusammen und plötzlich meinte sie, in einem der Fenster ein Gesicht zu erblicken. Sie griff nach dem Fernglas, das auf dem Fenstersims stand und schaute erneut zu ihrem Haus hinüber. Dort, im rechten Turmfenster erkannte sie es: Es war das Gesicht eines Mannes, etwa in seinen Fünfzigern, mit bereits ergrauten Haaren und einem ungläubigen Gesichtsausdruck. Plötzlich dämmerte es ihr: Sie war nicht allein hier!"
Harolds Magen zog sich zusammen. Die Spiegelung seines Bildschirmes starrte ihm mit weit aufgerissenen Augen entgegen.
Er war nicht verrückt.
Sie hatte ihn gesehen.
Und nun wusste sie, dass er da war.
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