5 | Harold Keynes*

„Dad? Hast du mir überhaupt zugehört?" Millie verschränkte die Arme vor der Brust und sah ihren Vater fast ein wenig enttäuscht an. Leider war sie es gewohnt, dass der Schriftsteller häufig in seiner eigenen Welt unterwegs war und nahm es ihm darum nicht allzu übel.

„Hmm?" Harolds Augen flackerten kurz, bevor er sich auf seine Tochter konzentrierte, die ihm gegenüber in der Eisdiele saß und bis eben in ihren überdimensionalen Jumbo Schoko-Sahne-Eisbecher gelöffelt hatte. Nun schob sie den Becher zur Seite und wischte mit einer Serviette über ihre Lippen.

„Wo bist du denn nur wieder mit deinen Gedanken?" Sie kannte diesen abwesenden Blick nur zu gut — ihr Vater war einmal mehr in seine innere Welt abgetaucht, vermutlich in irgendeinen Plot für einen neuen Roman.

Harold blinzelte irritiert und sah sie endlich richtig an. „Entschuldige, Mausi, was hast du gesagt?"

Sie seufzte und machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ach, nichts ..." Dann hielt sie kurz inne und musterte ihn mit leicht gerunzelter Stirn. „Willst du vielleicht darüber reden?"

Er zögerte, bevor er sich nach vorne beugte und die Ellbogen auf den Tisch stützte. „Also schön", sagte er schließlich. „Ich habe mich an ein neues Genre gewagt."

Millies Augen weiteten sich überrascht. Sie wusste, dass der Verlag ihres Vaters ihm nach dem letzten Bestseller ein neues Image und Pseudonym verpassen wollte. Die Aufregung des Werkes hing wie eine schwere Wolke in der Luft. Doch bisher hatte ihr Vater nichts von dem aktuellen Projekt erzählt. Das tat er nie, bis das Manuskript fertig war. Jetzt schien er sich anders überlegt zu haben. „Echt?", fragte sie deshalb erfreut. „Das klingt doch spannend!"

Harold seufzte schwer, als wäre es mehr Bürde als Freude. „Ja, das dachte ich anfangs auch. Aber irgendwie ... irgendetwas stimmt damit nicht."

Mille sah ihren Vater verwundert an. Sie zog ihre linke Augenbraue in die Höhe. „Wie meinst du das? Was stimmt damit nicht?"

„Ich weiß nicht genau. Vielleicht fühlt es sich nicht echt genug an. Zu konstruiert." Er fuhr sich durch das leicht zerzauste Haar und wirkte plötzlich um Jahre älter.

Millie schob ihren fast leeren Eisbecher beiseite und stützte das Kinn auf die Hand. „Na ja, du kannst nicht ewig nur Krimis schreiben. Welches Genre ist es denn? Horror? Dystopie? Science-Fiction?"
Sie versuchte aufmunternd zu klingen, während sie ihn weiterhin beobachtete. Ihr Vater war zwar ein begnadeter Geschichtenerzähler, aber auch erstaunlich unsicher, wenn es darum ging, sich aus seiner literarischen Komfortzone zu wagen.

„Ja, also..." Harold zögerte kurz. Normalerweise sprach er mit niemanden über seine laufenden Projekte. Doch dieses Mal war es anders. Er zweifelte schon fast an seinem Verstand. Vielleicht konnte Millie ihm helfen – zumindest ein bisschen.

Er räusperte sich: „Dark Romance." Die Worte kamen so leise über seine Lippen, als würde er sich dafür schämen.

Millie blinzelte ungläubig. „Dark Romance?"

„Dark Romance", bestätigte er etwas lauter.

Eine Sekunde lang herrschte Stille, dann fing Millie an lauthals zu lachen. Ihre kurzen braunen Locken wippten munter, während sie sich vor Unglauben schüttelte. „Dark Romance! Ist das dein Ernst?"

„Mein voller Ernst!" Harold warf seiner Tochter einen missmutigen Blick zu.

Millie versuchte sich zusammenzureißen, doch ihr amüsiertes Grinsen verriet sie. „Aber du liest doch noch nicht mal Dark Romance! Wie kommst du darauf, ausgerechnet das zu schreiben?"

„Na ja, der Verlag meinte, ich könne mit dem neuen Pseudonym nun eine andere Richtung einschlagen. Sie wollten, dass ich etwas Neues ausprobiere."

„Und da dachtest du dir: 'Klar, ich schreibe jetzt düstere Liebesgeschichten mit Vampiren'?"

„Nicht ganz", sagte Harold trocken. „Ich habe mit Mafia angefangen."

Millie brach erneut in schallendes Gelächter aus. „Mafia? Oh, Dad!"

Harold verschränkte nun seinerseits beleidigt die Arme vor der Brust. „Ja, lach du nur. Das ist gar nicht so einfach, wie ich dachte. Und meine Figur macht einfach nicht, was ich will."

Millie wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. „Das machen sie doch nie."

„Diesmal ist es anders." Harold fuhr sich durch die Haare. „Bella hat im letzten Kapitel einfach ..."

Millie prustete ihren Kaffee über den Tisch. „Bella? Ernsthaft?"

„Was ist falsch an Bella?" Harold klang beleidigt.

„Ach, gar nichts", winkte Millie ab, immer noch kichernd. „Aber lass mich raten – sie hat ihren eigenen Kopf?"

Harold nickte widerwillig. „Genau das."

„Tja, Dad, willkommen in der Welt der Dark Romance." Sie grinste. „Ich glaube, du hast gerade deine erste Lektion gelernt."

Harold schwieg. Seine Tochter schien die Tragweite seiner Situation nicht im Ansatz zu verstehen. Aber würde sie ihm glauben, wenn er ihr erzählte, dass er sich beim besten Willen nicht erklären konnte, wie Bella es geschafft hatte, seine Geschichte weiterzuführen – ohne dass er daran beteiligt gewesen war?

„Was hat sie denn getan, deine Bella?" Millie musterte ihn mit echtem Interesse.

Harold rieb sich die Stirn, überlegend, wie viel er preisgeben sollte. „Es ist fast so, als hätten ... na ja ... als hätten die Bellas die Geschichte umgeschrieben."

Millie runzelte die Stirn. „Die Bellas? Gibt es etwa mehr als eine?"

„Es sind vier." Harold nahm einen tiefen Atemzug. „Ich habe mit Bella Bianci angefangen, einer jungen Frau, die von der Mafia entführt wurde. Sie sollte Lorenzo verfallen. Aber dann ist sie weggelaufen."

Millie hob eine Augenbraue. „Kannst du es ihr verdenken? Ich finde deine Idee ehrlich gesagt ziemlich erfrischend."

Harold schüttelte den Kopf und nahm einen Schluck von seinem inzwischen kalten Kaffee. „Aber es war nicht meine Idee!"

„Wie meinst du das?"

Er setzte die Tasse ab. „Ich habe das nicht geschrieben. Ich hatte die Szene fast fertig, aber dann kam der Pizzabote. Ich war nur kurz an der Tür. Als ich zurückkam ..." Er zögerte und seufzte. „Ach, du glaubst mir das bestimmt nicht."

„Versuch's doch mal, Dad", drängte Millie mit einem milden Lächeln.

„Als ich wieder da war, hatte sich die Geschichte einfach ... weitergeschrieben. Bella war weg. Ich habe panisch etwas getippt, damit sie nicht weiter weglaufen kann, und habe das Dokument geschlossen. Seitdem liegt die Geschichte brach."

Millie sah ihn nachdenklich an. „Vielleicht will Bella einfach ihre eigene Geschichte erzählen."

Harold verzog das Gesicht. „Na wunderbar. Jetzt führen schon meine Figuren ein Eigenleben."

„Und was hast du dann gemacht?"

„Eine neue Geschichte angefangen."

Millie grinste breit. „Logisch! Mit einer neuen Bella, nehme ich an?"

„Bella Harper", bestätigte Harold widerwillig.

„Und sie ist auch weggelaufen?"

„Nicht ganz. Sie hat dem CEO gedroht, eine Gewerkschaft zu gründen."

Millie lachte so laut, dass die anderen Gäste im Lokal sich zu ihnen umdrehten. Harold konnte das Lächeln nicht unterdrücken.

„Daran ist überhaupt nichts witzig", behauptete er halbherzig, obwohl er selbst laut gelacht hatte, als er die Szene zum ersten Mal gelesen hatte.

„Dad, das klingt eigentlich ziemlich genial."

„Wenn du das sagst." Harold rührte gedankenverloren in seinem kalten Kaffee. „Aber ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, wohin diese Geschichte führt."

„Ach komm, ich finde das spannend. Was ist mit den anderen Bellas? Hast du dich an Werwölfe getraut?", wollte Millie gierig wissen.

Harold seufzte laut. „Bella Thorne ist die Schlimmste! Nicht nur, dass ich ewig gebraucht habe, mich in dieses ganze Rudelgehabe reinzudenken, nein, sie ignoriert den von mir hart konzipierten Alpha und lässt sich ausgerechnet von einer ausgestoßenen Omega erwecken. Wie soll ich das je wieder einfangen?"

„Klingt für mich nach einem originellen Plottwist. Oh, Dad, das musst du unbedingt schreiben! Ich würde es lesen!" Millies Augen strahlten.

„Du würdest das Lesen?" Harold sah seine Tochter überrascht an. „Ich dachte, du hast einen Freund?"

„Na und?" Millie zog die Achseln hoch. „Lesen würde ich es trotzdem. Wenn die Anziehung zwischen den beiden stimmt."

Harold dachte über die Worte seiner Tochter nach. Sie war kurz vor der Jahrtausendwende geboren und entsprach genau seiner Zielgruppe. Aber der Verlag hatte deutlich gemacht, welche Art von Geschichte er haben wollte. Und noch hatte er Isabella Sinclair. Sie würde sich von dem edlen Adligen angezogen fühlen. Er konnte ihn beim nächsten Treffen attraktiver machen. Reicher. Geheimnisvoller. Sofort überlegte Harold, wie er ... Nein, wie Arti ihr Herz für sich gewinnen konnte.

„Hey Dad, du träumst schon wieder!"
Millie lehnte sich vor und lächelte verschwörerisch. „Ich habe gerade nachgedacht. Wie wäre es, wenn du den Bellas etwas entgegenkommst? Ihnen das Leben ein bisschen leichter machst? Vielleicht findet ihr ja eine Geschichte, mit der ihr beide leben könnt."

Harold zog ungläubig die Augenbrauen zusammen. „Ich soll mit meinen Figuren verhandeln?"

„Wäre das so abwegig?" Millie zuckte mit den Schultern. „Wenn sie dir sowieso auf der Nase herumtanzen, kannst du ihnen genauso gut ein Angebot machen."

„Hmm..." Harold lehnte sich zurück und dachte über den Vorschlag seiner Tochter nach. Konnte das funktionieren? Würde der Verlag sich auf eine unkonventionelle Idee einlassen?

Über ihnen zogen weiße Schäfchenwolken durch den strahlend blauen Himmel. Harold ließ den Gedanken kurz sacken. Dann schüttelte er vehement den Kopf. Der Verlag würde so einer Geschichte niemals zustimmen!

Er musste seine Bellas wieder zurück in die Spur bringen!

Oder sie einfach in den Papierkorb verschieben.

*Ja, es sind Anspielungen zu der Vorgeschichte von Harolds Keynes „Prophezeiung" aus dem Buch „Das Orakel von Neptuchamun" vorhanden. Zu lesen ist meine Kurzgeschichte in dem Buch auf der Seite von AllanRexword oder in der Printversion, die ihr über Amazon bestellen könnt.

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