11 | Von der Dunkelheit ins Licht

Endlich! Ein schwacher Lichtstrahl kroch über den Boden vor der großen Fensterfront, ließ das Grau des Teppichs in einem mintgrün Blau aufleuchten und brachte langsam Farbe in das Bürozimmer zurück. Als die automatische Jalousie schließlich vollständig hochfuhr und den strahlend blauen Himmel über der Stadt freigab, drückte Bella Harper ein letztes Mal die Hand ihres Chefs.

„Ich glaube, es ist vorbei. Wir können raus, Louis."

Louis Kane atmete erleichtert aus und kam müde auf die Beine. Sein sonst makelloses Jackett lag noch immer als provisorische Unterlage auf dem Boden. Zwei Tage lang hatten sie hier in völliger Dunkelheit ausgeharrt – ohne Kontakt zur Außenwelt, ohne zu wissen, wann oder ob jemand sie befreien würde.

Überlebt hatten sie wohl aus zwei Gründen.

Erstens: Das Büro besaß ein separates Badezimmer, und der Obstkorb sowie die Werbetafeln mit Schokolade hatten ihnen als Proviant gedient.

Zweitens: Louis – oder Mr. Kane, wie Bella ihn bis dahin stets genannt hatte – war in seiner Verzweiflung über sich hinausgewachsen.

Der kühle, unnahbare Boss, den sie bisher für einen gefühlskalten Kontrollfreak gehalten hatte, war in Wahrheit ein Mann, der selbst in einem goldenen Käfig saß. Sein Traum war es gewesen, Maler zu werden. Doch als sein Vater krank wurde, hatte dieser ihn unter Druck gesetzt, das Familienunternehmen weiterzuführen. Also stand Louis jetzt hier, in einer Firma, die er nie hatte leiten wollen, gefangen zwischen Erwartungen, die er kaum erfüllen konnte, und der ständigen Angst, das Vermächtnis seines Vaters zu ruinieren.

Sein übermäßiges Bedürfnis nach Kontrolle – über Zahlen, Abläufe, Menschen – war sein einziger Weg gewesen, sich selbst unter Kontrolle zu halten.

Doch in dieser Dunkelheit, zusammen mit ausgerechnet der Frau, die er insgeheim für ihre Souveränität und Tatkraft bewunderte, war all das zusammengebrochen. Louis hatte geweint. Bella hatte ihn getröstet. Ihm zugehört. Und irgendwann hatte sie seine Hand gehalten.

Er hatte ihr von seiner Familie erzählt. Von dem Druck. Von den schlaflosen Nächten. Und davon, dass er sich wünschte, irgendwo ganz anders zu sein.

Und Bella hatte ihm erzählt, dass sie große Ambitionen und Pläne hatte. Dass sie genau zu wissen glaubte, was dem Unternehmen seines Vaters guttun und es noch erfolgreicher machen würde.

Louis hatte zugehört. Und sich geschworen, dass er einiges anders machen würde, wenn sie hier nur lebend wieder rauskämen. Und dann hörte er es – das leise Klicken der Tür. Jemand begann, sie zu entriegeln.

Draußen vor dem Büro war es verdächtig lange still geblieben. Niemand hatte es sonderlich eilig gehabt, Mr. Kane zu befreien. Die automatische Verriegelung des Büros war durch einen Fehlalarm ausgelöst worden – vermutlich ein Relikt seines paranoiden Vaters, der es für notwendig gehalten hatte, einen Panikraum in die Chefetage zu integrieren. Leider hatte es zusätzlich zum Fehlalarm einen Kurzschluss gegeben und den Strom auf der ganzen Etage lahmgelegt. Als man endlich wieder Licht und sich beruhigt hatte, war jemandem die verschlossene Bürotür aufgefallen, die sich nicht mehr öffnen ließ. Niemand kannte den Code, und die Sicherheitsfirma hatte erst einen Techniker schicken müssen, um das Schloss zu knacken.

Die Mitarbeiter hatten das Ganze anfangs mit einer Mischung aus Faszination und Belustigung beobachtet. Die Vorstellung, dass ihr Chef – dieser kontrollsüchtige Perfektionist – zur Abwechslung einmal machtlos in seinem eigenen Büro festsaß, hatte fast etwas Beruhigendes. Doch irgendwann war jemandem aufgefallen, dass auch Bella verschwunden war.

Und plötzlich war die Stimmung eine andere gewesen.

Nun standen sie gespannt vor der Tür und warteten darauf, was sie gleich zu sehen bekamen. Mit einem letzten metallischen Klick entriegelte das Schloss, die Tür öffnete sich langsam – und zwei Gestalten traten hinaus.

Bella Harper kam als Erste heraus. Sie wirkte erstaunlich gelassen, als wäre sie gerade von einem erfolgreichen Meeting zurückgekehrt. Ihre Bluse war ein wenig zerknittert, ihr Zopf nicht mehr ganz so streng wie sonst, aber ihr Blick war entschlossen, beinahe herausfordernd, als sie die versammelten Kollegen musterte.

Hinter ihr trat Louis Kane ins Freie – und blinzelte unsicher. Sein Hemd war aufgeknöpft, die Ärmel hochgekrempelt, seine Haare leicht zerzaust. Und vor allem hielt er noch immer Bellas Hand.

Ein kollektives Luftanhalten ging durch die Menge. Niemand sagte etwas. Dann räusperte sich einer der mutigeren Angestellten.

„Ähm ... Boss? Sie leben?"

Louis atmete tief durch, streckte sich und murmelte dann trocken: „Siehst so aus." Er warf Bella einen kurzen Seitenblick zu und fügte hinzu: „Aber nur, weil Miss Harper mich gerettet hat."

Ein aufgeregtes Flüstern ging durch die Reihen.

„Sie waren also die ganze Zeit zusammen ... da drin?" fragte schließlich jemand vorsichtig.

„Zwei ganze Tage", bestätigte Bella trocken.

„Und ... was haben Sie so gemacht?"

Louis verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln. „Überlebt."

„Gearbeitet", ergänzte Bella.

Die Blicke, die sich die Mitarbeiter zuwarfen, waren unbezahlbar. Irgendwo hörte man ein leises „Aha...", ein verdächtiges Kichern.

Bella ließ Louis' Hand los, strich sich über die Bluse und klatschte dann in die Hände. „Gut. Genug gegafft. Ich brauche eine Dusche und dann haben wir eine Firma zu führen."

Louis sah ihr einen Moment nach, schüttelte dann kaum merklich den Kopf und zuckte mit den Schultern. „Ihr habt sie gehört. An die Arbeit."

Während sie durch das Großraumbüro schritten, blieb nur das erstaunte Murmeln der Mitarbeiter zurück.

„Zwei Tage?! Ich wäre nach zwei Minuten schon ausgerastet!" Die Stimme kam ungläubig durchs Telefon.

Bella grinste, schob ihren Handtuchturban zurecht und ließ sich auf das Sofa fallen. „Das wäre ich vor ein paar Tagen auch. Aber ich habe ihn jetzt von einer anderen Seite kennengelernt. Er kann wirklich nett sein."

Jenny schnaubte. „Nett ist die kleine Schwester von—"

„Jenny, bitte. Sei doch einmal erwachsen."

Bella zog die Beine an, schraubte mit einer Hand den Deckel der Nagellackflasche auf und begann ein dunkles Rot aufzutragen. „Ich denke, wir sind auf einem guten Weg zu einer gesunden Beziehung."

„Beziehung, hmm? Beruflich oder privat?"

Bella rollte mit den Augen. Natürlich war ihre beste Freundin sofort auf den neuesten Klatsch aus. Aber vielleicht war die Frage gar nicht so unberechtigt. Sie hatte sich in den letzten zwei Tagen gut mit Louis verstanden. Ihr gefiel seine sensible Seite. Und sie wollte ihn besser kennenlernen.

„Ich frage ihn mal, ob er mit mir ausgehen will", dachte sie laut.

Jenny quietschte empört. „Willst du nicht wenigstens warten, bis er dich fragt? So viel Power könnte ihn abschrecken."

Typisch. Jenny ließ sich gern erobern. Aber Bella gab nicht viel auf solche Konventionen. Wenn ihr ein Mann gefiel, sagte sie es ihm. Das mochte einige abschrecken – aber dann waren sie auch nicht die Richtigen für sie.

„Vielleicht gehen wir einfach im Park spazieren. Oder ein Hot Dog essen. Nach zwei Tagen Obstkorb und Schokolade habe ich Lust auf was Herzhaftes", überlegte sie und betrachtete ihr Werk. Wieso wurde eigentlich immer ein Fuß besser als der andere?

Jenny seufzte. „Du willst ihn heute noch sehen? Ihr wart gerade zwei Tage zusammen eingesperrt! Brauchst du keine Pause?"

Bella hielt inne, schraubte einhändig den Nagellack zu und griff nach ihrem Kaffee. Sie nahm einen großen Schluck.

Hatte sie genug von Louis? Seiner verletzlichen Seite? Seinen Zweifeln? Seinem Traum, doch noch Maler zu werden? Oder seiner warmen Hand in ihrer?

Sie schüttelte den Kopf und grinste. „Nö! Ich will ihn wiedersehen."

„Du bist verrückt." Jenny lachte.  „Aber auf die gute Art! Viel Spaß mit Mr. Boss."

„Danke, wir werden sehen."

Bella legte nach der Verabschiedung das Handy beiseite und zog den Turban ab. Mit den Fingern fuhr sie durch ihr feuchtes Haar, während ihr Blick auf das Display fiel.

Da vibrierte ihr Handy erneut.
Louis Kane ruft an.

Bella blinzelte. Dann zog sie grinsend eine Braue hoch und nahm ab.

„Na, Mr. Boss? Haben Sie mich etwa vermisst?"

Am anderen Ende der Leitung lachte Louis leise. „Ich wollte nur mal hören, ob Sie heute schon etwas vorhaben, Miss Harper. Vielleicht ein Spaziergang im Park? Oder ein Hot Dog zum Mittag?"

Bella erstarrte kurz. Dann lachte sie überrascht auf. „Louis, wenn du mir jetzt noch sagst, dass du dir gerade die Nägel lackierst, wird es gruselig."

„Die Nägel? Nein, aber ich bin offen für Vorschläge."

Bella schüttelte amüsiert den Kopf. „Wir treffen uns in einer halben Stunde im Grand Central Park."

Und während sie ihr Handy beiseitelegte, musste sie zugeben: Manchmal war es gar nicht so schlecht, wenn der Mann den ersten Schritt machte.

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