Kapitel 4
Taehyung
Als sich der Kuss von meiner mit Wasser benetzten Haut löst, wage ich es meine Augen zu öffnen. Es geht eine unbeschreibliche Wärme von dieser Gestalt, von diesem Jungen, aus, die den zuvor ausgelösten Schreck wieder mildert.
„Ich bin kein Traum."
Ich fühle eine Berührung auf der Haut meines Rückens, als würde jemand zärtlichen mit den Fingern darüber streichen. Eine Gänsehaut breitet sich augenblicklich auf ihr aus, die die Berührung des Anderen jedoch sofort stoppt.
Ich müsste Angst verspüren, denn etwas nicht natürliches, was ich mir einfach nicht erklären kann, treibt ein unvorhersehbares Spiel mit mir.
‚Ist dieser Junge etwa ein Geist?
Ein Dämon?
Wie kann das kein Traum sein?'
Die Fragen in meinem Kopf werden immer skurriler, sodass mein Verstand plant zu rebellieren. Doch mein Herz stoppt die aufsteigenden negativen Gefühle und nutzt diese tiefe und sanfte Wärme. Es scheint mich wirklich zu besänftigen, und meine Atmung wird gleichmäßig .
„Was bist du dann?", möchte ich wissen, als meine Stimme mir endlich gehorcht.
Es wird still in der Dusche, nur das herabfallende Wasser ist noch zu hören, als es auf mir und den Fliesen aufkommt.
„Nimm den Spiegel und finde mich, Kim Taehyung", haucht er mir seine Antwort ins Ohr. Seine beiden Hände befinden sich dabei auf meinen Schultern. Ich lehne den Kopf wieder in den Nacken, um der Stimme näherzukommen, schließe dabei sogar erneut die Augen.
Ich vertraue ihm vollkommen, denn diese Wärme ummantelt meinen gesamten Körper und schottet mich von jeglichem Zweifel und aller Furcht ab. Es fühlt sich so surreal an.
„Der Spiegel?", antworte ich, den Blick zu ihm richtend. Ich möchte sein Gesicht wieder sehen, in seine Augen schauen, die mir den Schlaf geraubt haben.
,,Ich werde dich finden, verrate mir aber..."
Ich stocke. Es nimmt mir beinahe den Boden unter den Füßen, als ich in absolutes nichts starre. Anstatt das tiefe Braun zu erblicken, sehe ich Leere. Auch die Wärme, die auf mich wie ein Rausch aus Gefühlen gewirkt hat, ist von einer auf die andere Sekunde verschwunden. Spurlos.
Suchend schaue ich mich um, doch das gesamte Badezimmer ist leer.
Ich fahre mir durch das triefend nasse Haar, während das Wasser aus dem Duschkopf weiter auf meinen Körper prasselt. Nun ist auch die Kälte zurück, mit ihr auch Sorge und sogar Zweifel.
„Du kannst doch nicht einfach verschwinden", klage ich und schlinge die Arme eng um meinen Körper.
Ich fühle Angst, denn ich kann mir einfach nicht erklären, was passiert.
‚Wer ist er?'
Was ist er?
Warum löst er in mir so ein Chaos aus?
Und was wird mir der Spiegel meiner Großmutter nutzen?'
Mit einem beklemmendem Gefühl in der Magengegend drehe ich den Wasserhahn wieder zu und verlasse die Dusche.
Es ist bitterkalt. Schnell greife ich nach meinem Handtuch und wickele mich darin ein.
Eine besonders große Hilfe ist das Tuch nicht, also ziehe ich zügig meine Unterwäsche und Shorts wieder an und hole mir noch zusätzlich ein T-Shirt aus dem Wäschekorb vor der Waschmaschine.
Wasser tropft von meinen Haarspitzen auf den Kragen meines weißen Stoff Shirts und droht ihn völlig zu durchnässen. Wieder greife ich nach dem Handtuch, was nun auf dem kleinen Hocker neben der Dusche steht und hebe danach sofort meinen Blick. Er wandert auf die Scheiben der gläsernen Dusche.
„Ich bin -", lese ich das laut vor, was nicht von einem Handabdruck verwischt worden ist. Überrascht trete ich nähe und versuche das Verwischte irgendwie zu entziffern.
„Ich-Bin... Je- Jeon? Jeon wer?"
Leidig blicke ich das Geschriebene an.
Das könnte meine Chance gewesen sein, ihn zu finden, doch es ist wie der Brief an meine Großmutter, größtenteils entzifferbar.
„Was mach ich jetzt?"
~•~
Die Decke bis zur Nase gezogen, liege ich wie ein Brett auf meiner Matratze. Licht der ersten Sonnenstrahlen kitzeln mir leicht das, was von meinem Gesicht nicht verdeckt ist. An diesem frühen Morgen habe ich kein Auge mehr zugemacht. Nicht, dass die Müdigkeit nicht stark genug wäre, um mich in die Knie zu zwingen. Diese Ereignisse lassen mich einfach nicht zur Ruhe kommen.
„Ich bin Jeon", wiederhole ich flüsternd, als ich mich aufgerichtet habe und Richtung meines Schreibtisches blicke. Die Sonne lässt das alte, fast völlig stumpfe Silber doch etwas funkeln.
Mit verzogenen Lippen betrachte ich den Gegenstand von Weiten. Der Riss, der sich über das ganze Glas zieht, erweckt nach einiger Zeit meine Aufmerksamkeit und erinnert mich an die Schnittwunde an meinem Finger.
Ich ziehe das Pflaster vorsichtig davon ab und habe vor den kleinen Schnitt nochmal in Augenschein zu nehmen. Als er die Wunde mit seinen Lippen berührt hat, hat dies eine seltsame Gefühlskette in mir ausgelöst, die vermutlich sogar noch bis jetzt anhält. Dem Zustand meiner Gedanken nach zu urteilen schon.
„Ist heute alles eine Illusion oder spielst du mit mir, Jeon?", spreche ich ihn direkt an, als ich erkenne, dass der Schnitt an meinem Finger verschwunden ist.
‚Er kann mich hören, da bin ich mir sicher.'
Ich stehe auf, um den Spiegel an mich zu nehmen. Ebenfalls greife ich nach dem Brief an meine Großmutter, den ich ebenfalls nach der Aufräumaktion habe mitgehen lassen.
Vorsichtig setze ich mich im Schneidersitz auf die Matratze und lege die zwei Gegenstände vor mir ab.
Ein müdes Gesicht mit tiefen Augenringen starrt mir entgegen. Die Nacht sozusagen durchzumachen, bin ich einfach nicht mehr gewohnt, dank der Schule.
„Jeon...", stocke ich, als ich den Namen ein erneutes Mal flüsternd ausspreche und den Spiegel dabei mit großen Augen anstarre.
Ruckartig drehe ich die Rückseite des Silberspiegels mir entgegen.
An meine Schwester, Jeon Tae-Eul
"Du musst ihr Bruder sein."
Ich schaue aus dem Fenster. Es ist zwar noch früher Morgen, doch die Sonne tut ihr bestmögliches, um die Straßen zu erhellen.
Einen Entschluss gefasst, klettere ich aus meinem Bett und greife nach einer schwarzen, langen Hose und einem kuscheligen Pullover, die sich über der Lehne meines Schreibtischstuhls befinden.
Zügig schlüpfe ich hinein und stürme danach so leise wie irgend möglich, die Treppen hinunter
Ich habe so viele Fragen, die ich mir wohl oder übel alle selbst beantworten muss. Da der Brief, wie auch der Silberspiegel keine weiteren Antworten preisgeben werden, muss ich mir anders Hilfe suchen, um Jeon Tae-Euls Bruder zu finden. Wo auch immer er sein mag. ‚Doch wie findet man einen, der so, wie du und ich nicht existiert?'
Meine Schritte verlangsamen sich und ich komme neben der Garderobe im Erdgeschoss zum Stehen. Bevor ich losgestürmt bin, habe ich noch nach dem Spiegel gegriffen.
‚Was soll ich nur tun?'
Ich kann nicht einfach tatenlos alles vergessen.
Er ist echt, das habe ich gespürt. Und er braucht meine Hilfe.
„Etwas Bewegung wird dir nicht schaden, also los!"
Fest entschlossen verlasse ich das Haus, den Spiegel in einer Umhängetasche verstaut.
Vielleicht werde ich doch noch etwas Nützliches im Haus meiner Großeltern finden. Es steht nun seit Wochen leer. Ich werde also ungestört nach Hinweisen suchen können.
Ich laufe zügig die Straße entlang. Zu meinem Ziel ist es zu Fuß ein ganz schönes Stück.
Den Schlüssel, um überhaupt in das Grundstück zu gelangen, halte ich fest in meiner Hand. Er klimpert dabei lautstark. Ich habe nicht vor meinen Plan verwerfen zu können, da mir der Schlüssel abhandengekommen ist.
„Der nächste Bus kommt erst gegen sieben?", murmele ich, es bereuend keine Jacke angezogen zu haben. Ein einfacher Pullover ist in der frischen Morgenluft wirklich nicht das Beste. Genervt schaue ich von der Uhr meines Smartphones auf, die erst die 06:11 Uhr anzeigt. In dieser Zeit bin ich auch selbst zu dem ehemaligen Zuhause meiner Großeltern gelaufen, ohne im Stehen in der Kälte langsam zu erfrieren. Also führe ich meinen Weg wieder fort und biege in die nächste Straße ein. Wir wohnen in einem beruhigten Wohnviertel, weit entfernt von dem Trubel der Großstadt. Man hat beinahe das Gefühl in einem kleinen Dorf zu wohnen, da man hier wirklich nichts für sich behalten kann.
Die Augen der Nachbarn liegen überall.
„Biegen sie jetzt rechts ab!"
Die elektrisch, monotone Stimme meines Smartphones ertönt und lässt mich überrascht zusammenzucken. Es fährt mir eiskalt den Rücken herab.
„Wie bitte?" Ich nehme das Gerät aus meiner Hosentasche und betrachte den Bildschirm, mit einem enormen Fragezeichen über dem Kopf.
„Biegen sie bitte rechts ab", wiederholt sich die weibliche Stimme und das Display zeigt einen Ausschnitt des Stadtplans an, in dem ich mich befinde. Verdutzt schaue ich auf die angezeigte Route. Der Plan lässt sich nicht wirklich bewegen, also kann ich nicht herausfinden, wohin mich diese Strecke genau führen wird.
„Finde mich, Taehyung."
Falls es mir zuvor noch nicht klar gewesen ist, ist es mir nun. Ich atme tief durch und schließe kurz die Augen.
„Führe mich zu dir", antworte ich ihm und folge den Anweisungen der elektronischen Stimme. Meine Schritte beschleunigen sich, um so näher ich dem Ort komme. Zu meiner Überraschung befindet sich dieser Zielort wirklich nicht weit von mir Zuhause entfernt.
Etwas außer Atmen komme ich in dem Waldstück, der das Dorf mit dem Park der Stadt verbindet, an. Es ist noch zu früh, dass mir wahrscheinlich irgendwer entgegenkommen wird, also laufe ich quer durch das Gras, um ein ganzes Stück an Weg zu sparen. Nach einiger Zeit Verschnaufpause sprinte ich wieder los, als ich den befestigen Weg erreiche und das feuchte, knöchelhohe Wiesenstück hinter mir lasse. Es wird mir immer noch nicht wärmer und der Raureif auf den Pflanzen hat meinen Schuhen übel zugesetzt. Er platscht bei jedem einzelnen Schritt.
„Folgen sie der Route bis zur nächsten Gabelung, biegen sie dann rechts ab."
Ich tue, wie die Stimme von mir verlangt und folge zügig dem Pfad. Bei der erwähnten Gabelung komme ich etwas ins Straucheln, da ich die Kurve, meine Geschwindigkeit und die feuchten Fußsohlen etwas unterschätzt habe.
Der unebene Schotterboden kommt meinen Knien und meiner ausgestreckten Hand gefährlich nahe, doch es gelingt mir irgendwie nicht doch mit dem steinigen Grund in Kontakt zu kommen. Ich richte mich wieder auf und trabe weiter. Es ist anscheinend wirklich nicht mehr weit, doch ich kenne diesen Ort hier eigentlich sehr gut und kann mir aus dem Ziel noch immer keinen Reim machen.
‚Wohin bringt er mich bloß?'
„Scheiße... ist das hoch!", ist das Letzte, was noch aus meiner Kehle kommt, bevor ich einen ganzen Satz in die Tiefe mache.
Als ich das Waldstück verlasse, führt mich die Stimme einen kleinen Hügel hinauf, die Wege waren durch niedrige Steinmauern ringsum eingeschlossen.
Auf der Spitze des Hügels angekommen, zwischen etlichen Kirschbäumen, beginnt die Stimme mich von dem Weg zu führen. Sie lenkt mich hinter die Steinmauern, was ich nicht erkennen kann ist, dass dahinter nicht gleich der Grund auf mich wartet, sondern erst an die zwei Meter von meinen Schuhsohlen entfernt.
Hart komme ich und die Umhängetasche auf dem Boden auf und ich verziehe schmerzerfüllt das Gesicht. Ich ziehe die Luft scharf ein, doch vermeide einen Schrei loszulassen. Es mag zwar noch früh sein, doch gehen einige um diese gottverdammte Zeit doch immer irgendwie joggen.
Ich schlucke den Schmerz so gut es geht hinunter und richte mich auf. Meine Fußgelenke schmerzen beide, doch mein Ziel liegt praktisch vor mir.
Humpelnd führe ihr meine Reise fort und schaue auf mein Smartphone. Nun erkenne ich endlich den Ort, wohin ich geführt worden bin.
„Natürlich", murmele ich, als ich das metallene Gittertor des Friedhofs öffne, um diesen zu betreten.
Die Stimme navigiert mich durch die unzähligen Reihen an Gräbern.
Ich sehe etliche Blumen und Laternen. Es macht mich wirklich traurig, doch es ist mir eigentlich klar gewesen, dass ich früher oder später doch an so einen Ort gehen müsste, um an Antworten zu gelangen.
„Ich hätte so gern dein echtes Ich kennengelernt", bemerke ich und biege in eine der Reihen. Die Gräber werden von Mal zu Mal älter und sind stark von der Witterung befallen. Ein Klos bildet sich in meinem Hals und ich verlangsame meine humpelnden Schritte. ‚Vielleicht will ich ja doch keine Antworten. Man soll doch das Geschehene hinter sich lassen, sagen sie alle.'
„Du hast mich gefunden", spricht er. Wieder ziert dieses süßliche Lächeln seine feinen Lippen. Ich muss blinzeln und fühle, wie mir das Herz beinahe zerspringt. Wie fremdgesteuert, nehme ich den Spiegel aus der Tasche und möchte ihn ihm reichen.
Er sitzt derweil auf einem aufrechten Grabstein, der bereits teilweise mit Moos überzogen ist.
Er trägt eine weite weiße Bluse, die er unbeholfen unter seine schwarze Hose gezogen hat.
Seine Wangen sind rosig und er lächelt mir entgegen. Doch die blendende Sonne hindert mich seine Augen zu erblicken, trotz dessen, dass ich die Färbung seiner Wangen dezent erkennen kann.
„Nein...", kommt es über meine Lippen, als ich auf das zerbrochene Spiegelglas schaue, das sich in meinen Händen befindet. Es muss bei dem Aufschlag zerbrochen sein. Schuld beginnt in meiner Brust an zu keimen.
,,Es tut mir so leid, dass ich...", beende ich mein Sprechen, als ich den Blick wieder hebe und den leeren Grabstein erblicke.
Er ist verschwunden. Spurlos, wie zuvor.
Ich schaue mich um und suche nach ihm, etwas Angst spürend.
Den Klos im Hals herunterschlucken, humpele ich um das Grab herum.
Vielleicht werde ich dann seinen Namen endlich erfahren.
Mit heißerer Stimme lese ich laut, was vor langer Zeit in den Stein gemeißelt wurde und mir einige meiner Fragen beantwortet.
Jeon Jungkook
*01.09.1897 - † 29.07.1916
Liebender Sohn und Bruder
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