✧.* - Kapitel 9
Donnerstag, 01. Mai
Mit wachsender Unruhe verfolgte ich, wie Mingi durch die Wohnung lief, in Socken, Hose, Hemd, die Krawatte baumelte ungebunden um seinen Hals, das Jackett lag halb auf dem Esstisch.
Er machte also ernst, ging tatsächlich wieder ins Büro, obwohl er immer noch Klammerpflaster auf der Stirn hatte und der Bluterguss, der sich von seinem linken Wangenknochen bis zum Auge hochzog, immer noch zu sehen war. Okay, die Pflaster verschwanden unter einem Haarschopf, den er in die Stirn frisiert hatte, der Rest unter einer Schicht Puder, auch wenn das nicht gänzlich alles verdeckte.
Schlimmer war also eher, dass ich es wusste, was er alles verbarg. Ich wusste um all die Schrammen und blauen Flecken, die monströsen Abdrücke auf seinem Rücken, die aussahen, als hätte man ihn getreten, die einzelnen Punkte über seinen Hüftknochen, oder an seinen Schenkeln, alle im selben Abstand und, wenn man es wusste, auch problemlos als Fingerabdrücke zu erkennen. Ich hatte sie alle gesehen, die meisten davon, wenn Mingi schlief, weil er es sonst nach wie vor tunlichst vermied, sich vor mir umzuziehen und sich immer noch im Bad einschloss, wenn er darin war.
Gerade jagte er wieder an mir vorbei, griff sich sein neues Handy und ich berührte ihn kurz, als er nah genug war.
„Hey..."
Da hielt er inne, sah mich an und ich zwang mich zu einem Lächeln, bevor ich aufstand und mir die losen Enden seiner Krawatte schnappte. „Halt mal einen Moment still."
Tat er, während ich mit raschen Handgriffen die Krawatte band und den Knoten zurechtrückte. Dann strich meine Hand über seine Brust und ich seufzte leise.
„Du siehst gut aus", murmelte ich und musste dann schmunzeln. Ich kam mir ein wenig dumm vor, weil ich ihm so oft dasselbe sagte und nur selten Worte fand, für das, was ich wirklich ausdrücken wollte.
Im Moment wollte ich allerdings nur eins, ihn unterstützen, denn das war richtig, nicht wahr? Wenn er sich in seinen Alltag zurückkämpfen wollte, musste ich für ihn da sein, so gut ich eben konnte. Später würde ich ohnehin selbst kurz ins Büro fahren, wollte aber nur so lange bleiben wie nötig und abends wieder hier sein, wenn Mingi zurückkam.
„Und heute Abend? Was meinst du", fragte ich und zupfte immer noch an seiner Krawatte an der Knopfleiste seines Hemdes. „Soll ich für uns kochen oder willst du lieber was bestellen?"
Mingi grinste. „Also wenn du kochen willst..."
„Dein Lieblingsessen, nehme ich an?"
Jetzt kräuselte er die Nase und ich schlug lachend nach ihm.
„Oh, du bist manchmal so ein Macho, ehrlich!"
„Und du magst es", grinste er.
„Was? Dass du mich zum Hausmann degradierst? Na, nicht unbedingt, aber ich mag es, dich zu verwöhnen und das weißt du und nutzt es dreist aus. Schämst du dich gar nicht?"
„Ah... ein bisschen." Er hielt Daumen und Zeigefinger etwa drei Millimeter auseinander, um es anzuzeigen und lachte dann.
Das war schön. Es war das erste Lachen seit Tagen.
„Also gut." Ich legte die Arme um seinen Nacken, neigte den Kopf etwas und betrachtete ihn. „Und nur für dich."
Sein Blick funkelte ein wenig, lag auf meinen Augen, rutschte jetzt aber auf meinen Mund ab und ich spürte sein Zögern, bevor er sich leicht zu mir beugte und mich küsste. Es war unschuldig, genau wie gestern, fühlte sich jedoch trotzdem wie ein Balanceakt an, der so viel Gewicht hatte.
Gleich darauf löste er sich wieder von mir, wand sich fast ein wenig beschämt aus meiner Umarmung und sah weg. Da war ein schwaches Lächeln in seinem Gesicht, jedoch auch sehr viel Unsicherheit.
„Ich sollte jetzt...", murmelte er und ich nickte.
„Ja, natürlich."
Wir zelebrierten keine große Abschiedsszene und ich verkniff mir alle Kommentare, die womöglich geklungen hätten, als würde ich ihn zu seinem ersten Arbeitstag losschicken. Das hätte er mir sicher übelgenommen.
Kaum war er weg, tigerte ich planlos in der Wohnung auf und ab, ohne sagen zu können, was genau mich eigentlich gerade so aufwühlte. Die Tatsache, dass er alleine losgegangen war und mich hier zurückließ? Oder eher das Wissen, dass ich von hier nichts ausrichten und auch nicht helfen konnte. Es war wohl an der Zeit, dass ich selbst auch wieder ein wenig Normalität lebte und nicht nur im Dauermodus der Alarmbereitschaft. So kehrte ich an den Schreibtisch zurück, packte meine Sachen zusammen und lief dann ins Bad, um mich ebenfalls fertigzumachen. Eine halbe Stunde später war ich auf dem Weg ins Büro und hatte mir dabei strikt verboten, Mingi im Halbstundentakt Nachrichten zu schicken. Mittags, erlaubte ich mir selbst, mittags würde ich ihn kontaktieren, um zu hören, wie es denn so lief.
Natürlich erreichte ich ihn nicht, hinterließ also eine kurze Nachricht und es dauerte auch nur eine Stunde, bis er endlich zurückschrieb, dass alles okay sei, einfach nur viel zu tun wäre. Beruhigungsfaktor: semioptimal, aber ich war gewillt auch das fürs Erste so anzunehmen, denn mir ging es ähnlich. Meine Kollegen atmeten erleichtert auf, dass ich wieder hier war, mein Chef kippte einen Eimer Arbeit über mir aus und in meinem Kalender blinkten gleich fünf Termine für diverse Meetings auf, die ich weder ignorieren noch ihnen fernbleiben konnte. Wäre ich jetzt verheiratet gewesen oder hätte wenigstens eine Verlobte oder Freundin gehabt, die ich dann natürlich auch längst vorgestellt hätte, wäre es ein Leichtes gewesen, zu erklären, warum sie meine Unterstützung brauchte. Man hätte wohl Verständnis gehabt und vielleicht ein bisschen darüber gewitzelt, wie fürsorglich und behütend ich war. Da aber auch von meinen Kollegen keiner wusste, dass ich mein Leben mit einem Mann teilte - der ein oder andere mochte etwas ahnen, keiner hatte je gefragt oder was gesagt - blieb es lediglich die Unterstützung eines Freundes, der eben gerade eine schwere Zeit durchmachte. Lobenswert, aber kein Grund, die eigene Arbeit zu vernachlässigen.
Ich konnte mich trotzdem etwas früher loseisen, raste in den Supermarkt zum Einkaufen, raste nach Hause und stand dann, erschöpft und atemlos in einer stillen und leeren Wohnung. Was hatte ich erwartet? Dass ich Mingi hier finden würde, vor der grausamen Welt davongerannt und in die heimische Zuflucht gerettet? Meine Besorgnis trieb echt seltsame Blüten.
Ich wusch sie mit einer raschen Dusche ab, machte dann leise Musik an und mich schließlich daran, das Essen vorzubereiten. Alles Dinge, die sich normal anfühlen sollten und trotzdem kroch die Nervosität wie unzählige kleine Ameisen über meine Haut. Ich ertappte mich dabei, wie ich immer wieder auf die Uhr sah, was nur dafür sorgte, dass die Zeit noch langsamer dahinschlich.
Wirklich aufatmen konnte ich erst, als ich hörte, wie die Wohnungstür aufging. Mit hoher Stimme flötete ich ein übertrieben fröhliches „Hallo Schatz, Essen ist gleich fertig" und trat nach einer Weile einen Schritt zurück, um in den Flur spähen zu können, weil ich weder eine Antwort bekam, noch sonst was hörte. Was trieb er denn da draußen?
Kein ‚Hallo', kein ‚du spinnst doch', gar nichts. Mit dem zweiten Schritt in Richtung Tür brach mein Grinsen schon wieder ein, denn von Mingi war nichts zu sehen. Seine Schuhe standen da, seine Tasche lag auf der Kommode, aber von ihm war keine Spur.
„Hey Babe", murmelte ich also vor mich hin, „ich bin so froh wieder daheim zu sein." Schnaubend trat ich in den Flur, sah, dass die Badezimmertür geschlossen war und lehnte mich dagegen.
„Hey Äffchen, alles klar?" Ich klopfte leise, aber dann hörte ich Wasser rauschen und ging wieder. Unter der Dusche würde er mich ohnehin nicht hören.
Stattdessen deckte ich den Tisch, machte mir außerdem eine Flasche Wein auf und nahm gleich einen großen Schluck aus meinem Glas, um meine Nervosität zu dämpfen. Ich hatte keine Ahnung, warum ich gerade so hibbelig war, aber ich fühlte mich nicht wohl damit. Als Mingi jedoch nach einer Weile immer noch nicht auftauchte, schlich ich erneut hinaus in den Flur und zur Badezimmertür. Kein Wasserrauschen mehr, aber sonst hörte man auch keinen Mucks.
„Mingi?" Ich klopfte behutsam. „Willst du nicht rauskommen? Gibt Essen."
Aber nichts rührte sich und ein kurzer Griff an die Klinke bestätigte, er hatte abgeschlossen. Seufzend legte ich die Hand auf die Tür.
„Was ist denn los, hm? Sprich mit mir. Ist irgendwas vorgefallen?"
Aber immer noch blieb hinter der Tür alles still und allmählich wuchs meine Besorgnis. Wieder klopfte ich.
„Mingi, bitte mach auf. Komm schon, wir wollten zusammen essen, ja? Und ich verspreche, ich frage dich nicht aus, kein Wort. Wir...machen uns einfach einen gemütlichen Abend und..."
Mittendrin klackte das Schloss leise, die Tür wurde geöffnet und Mingi sah mich zerknirscht an. Er sah furchtbar aus, blass, die Augen rotgerieben, als hätte er geweint und so unendlich müde. Trotzdem verbot ich mir jeden Kommentar dazu, trat einen Schritt näher und wollte ihn umarmen, zögerte dann aber.
„Darf ich?"
Er nickte stumm, also schloss ich ihn in meine Arme und hörte, wie er an meiner Schulter bebend ausatmete.
Behutsam strich ich durch seine Haare, über seinen Rücken, bis ich spürte, dass er sich langsam wieder entspannte und schob ihn nun wieder etwas von mir.
„Lass uns essen", murmelte ich und nahm ihn an der Hand wie ein Kind. „Wird ja alles kalt."
Wenigstens ließ er sich ganz ohne Gegenwehr von mir an den Tisch schleppen, dort plumpste er schwer auf seinen Platz und betrachtete wohl leicht überfordert das Sammelsurium an Schüsselchen und Töpfchen, das ich aufgebaut hatte. Er fing auch erst an zu essen, als ich ihm alle möglichen Häppchen auf den Teller gepackt hatte und mittendrin sah er auf, beobachtete mich, wie ich nach meinem Weinglas griff und raunte: „Krieg ich auch was?"
„Was - was?"
Mingi verzog unwillig das Gesicht. „Wein."
Ich stellte mein Glas wieder hin und sah ihn überrascht an. „Du willst Wein? Ich dachte, du hasst Wein?"
„Kann ich doch gar nicht beurteilen, wenn ich nie welchen trinke, oder?"
Daraufhin zuckte ich nur die Schultern, stand wortlos auf und holte ein weiteres Glas. Der Gedanke, dass die Gründe, warum er plötzlich nach Alkohol verlangte, so offensichtlich waren, gefiel mir nicht, aber ich schwieg auch dazu. Wir waren beide erwachsen, ich hatte kein Recht, ihn diesbezüglich zu belehren, schon gar nicht, wenn ich selbst mit einem Weinglas in der Hand am Tisch saß. Mit etwas Glück würde er es ohnehin scheußlich finden und wieder auf Eistee umschwenken.
Ich schenkte ein, stellte ihm das Glas hin und hatte es noch kaum losgelassen, da hatte Mingi es sich schon gegriffen. Erst nippte er daran und hielt seine Mimik erstaunlich kontrolliert, dann kippte er das halbe Glas auf einmal hinunter, ohne mit der Wimper zu zucken und ich blinzelte ihn überrascht an.
„Ahm...", machte ich, da stellte er das Glas ab und sah mich an, also schloss ich meinen Mund wieder und nahm mir vor, auch das nicht zu kommentieren. Das war schwer, denn innerhalb der nächsten fünf Minuten leerte sich sein Glas ganz und er stand auf um selbst nachzuschenken. Zurück am Tisch warf ich ihm einen neuerlichen kurzen Blick zu.
„Möchten Sie noch etwas Reis zu Ihrem Wein?", fragte ich durchaus bissig, aber Mingi trank, stellte das Glas dann hin und atmete nur genervt aus.
„Lass mich doch einfach", raunte er. „Vielleicht ist es einmal gerechtfertigt?"
Wäre es, ja, wenn ich sowas von ihm kennen würde, tat ich aber nicht und deswegen bereitete es mir Sorgen.
Er hatte das zweite Glas hinuntergestürzt, da war noch nicht mal sein halber Teller leer und als er wieder aufstehen wollte, packte ich ihn rasch am Handgelenk und hielt ihn auf.
„Ich gehe", sagte ich nur, lief tatsächlich zur Küche um die Weinflasche zu holen und kam damit zum Tisch zurück, dieses Mal setzte ich mich direkt neben ihn, stellte unsere Gläser nebeneinander, schenkte ein.
„Okay, also - wollen wir uns einfach nur besaufen? Scheiß auf das Essen?"
Mingi seufzte und plötzlich legte er den Kopf auf meine Schulter.
„Es tut mir leid", raunte er. „Ich weiß. Du hast dir so viel Mühe gemacht und ich bin arschig, aber..."
„War es doch zu viel?"
„Nein, es war schon okay", brummelte er, drehte das Glas, nahm einen Schluck, stellte es wieder hin.
„Aber?"
„Wein schmeckt scheiße", tat er kund. Wir sahen uns an und ich musste gegen meinen Willen lachen.
„So schlimm, hm?"
„Ja."
„Willst du noch was?" Ich schwenkte die Flasche. „Ist ohnehin fast leer."
„Ja."
Und jetzt mussten wir beide lachen. Wir hockten auf dem Boden, tranken den Rest Wein und schwiegen einvernehmlich, zumindest bis ich eine Schnute zog und theatralisch seufzte. „Ey, das schöne Essen..."
„Tut mir leid", nuschelte Mingi wieder, schmiegte sich an meinen Hals und rieb mit der Stirn über meine Haut. „Ich mag's auch kalt, hm?"
„Du meinst, wir machen daraus ein Picknick - später?"
Mingi lächelte schwach. „Picknick klingt gut", flüsterte er und ließ den Kopf wieder auf meine Schulter sinken. Ich legte den Arm um seine Schultern und lehnte den Kopf an seinen. Ja, Picknick klang wirklich gut. Wir hatten das früher oft gemacht - wie lange war das her? Jahrhunderte? - hatten uns auf dem Boden zusammengerollt, uns mit kleinen Häppchen gefüttert, Musik gehört, geredet. Und manchmal hatten wir danach auch ...
Ich atmete tief ein, schloss die Augen und verdrängte den Gedanken wieder, bevor ich langsam ausatmete. Es gab so viele Dinge, die kaputt waren und ich konnte mir nicht vorstellen, wie wir sie jemals wieder reparieren sollten.
Unterdessen stahl sich Mingis Hand in meine, unsere Finger verschränkten sich und ich blinzelte wieder.
„Ist alles okay?", fragte ich nun doch.
„Mhm", er nickte schwach, seine Finger zwischen meinen bewegten sich leicht.
„Und würdest du mir auch sagen, wenn es nicht so wäre?"
„Mmh."
Nur eine Nuance, ein winzig kleiner Unterschied, aber ich hörte es durchaus.
„Ich will dich nicht nerven", murmelte ich. „Ich will ... einfach für dich da sein, okay? Lass mich für dich da sein, Äffchen, bitte."
„Bist du doch", seufzte er leise. „Es ist nur ... so viele Dinge sind mir plötzlich zu viel und ich weiß nie welche oder warum. Es kommt, es geht."
„Okay." Ich nickte, glaubte zu verstehen und drückte seine Hand etwas fester. „Du darfst mir das alles sagen, hm? Wenn es zu viel oder zu wenig ist - egal was - sag es mir einfach und ... keine Ahnung. Ich will nur, dass es dir gutgeht."
Für eine ganze Weile blieb es jetzt still, dann flüsterte Mingi plötzlich: „Es geht mir gut, wenn du da bist."
Und ja, das versöhnte mich im Moment mit Vielem. Es schenkte mir auch etwas Zuversicht, dass wir es eben doch schaffen konnten, dass wir beide nur mit sehr viel Geduld agieren mussten. Geduld, Respekt, Freiraum. Ich für meinen Teil war gewillt, ihm das alles zu geben.
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