✧.* - Kapitel 33
Montag, 1. Dezember
Das war der blanke Horror.
Der Anruf erreichte mich auf der Baustelle und riss mir wortwörtlich den Boden unter den Füßen weg. Dass Mingi ins Krankenhaus eingeliefert worden wäre, gerade eben.
Wieder.
Die Bilder, die in diesem Moment durch meinen Kopf jagten, waren unbeschreiblich grausam und zerrten all das an die Oberfläche, was ich geglaubt hatte, längst hinter mir gelassen zu haben. Nun wurde ich eines Besseren belehrt. Die Angst, der Kummer, die ganzen Sorgen holten mich in einem Rutsch ein. Meine Hände zitterten so stark, dass ich das Mobiltelefon kaum halten konnte, das Blut rauschte in meinen Ohren und meine Knie wurden weich. Benommen sank ich gegen den Bauwagen, aus dem ich gerade geflohen war.
„W-was?", hauchte ich stotternd. „W-was ist passiert?"
Aber das sagte man mir nicht am Telefon. Die vage Auskunft war Unfall und keine schweren Verletzungen. Dennoch wurde ich ins Krankenhaus gebeten, immerhin war ich die einzige genannte Bezugsperson.
Ich nickte schweigend, bis mir bewusstwurde, dass das am anderen Ende ja nicht ankam. Also hauchte ich ein heiseres „ja", beendete das Gespräch und rutschte am Bauwagen entlang zu Boden, bis ich dort kauerte, den Hinterkopf immer noch an die kalte Fläche gepresst. Ich konnte kaum atmen, so eng war es in meiner Brust.
Jiwong war es, der mich dort draußen fand, Minuten später, da waren meine Hände bereits eiskalt, und ich umklammerte immer noch mit steifen Fingern mein Handy.
„Yunho", hörte ich. Er klang besorgt. „Was ist passiert? Geht es dir gut?"
Nein, verdammt! Ging es mir nicht! Ich wollte schreien, toben, weinen, etwas kaputtschlagen. Es ging mir beschissen, aber das durfte ich nicht zeigen, deshalb nickte ich schwach. Jiwong und mich trennte nicht mal ein Jahr und wir verstanden uns wirklich gut. Ich hätte ihn sogar als Freund, nicht nur als Kollegen bezeichnet, aber selbst ihm gegenüber hätte ich es niemals gewagt, die Wahrheit auch nur anzudeuten.
„Ich ..." Umständlich hob ich das Telefon an. „Ich muss weg. Ein ... Notfall ..."
„Um Himmelswillen", murmelte er, griff dabei meinen Arm und zog mich in die Höhe. „Deine Eltern etwa? Geht es ihnen gut? Deine Mutter? Dein Vater? Hoffentlich nichts Schlimmes. Kann ich etwas für dich tun?"
Meine Eltern, ja. Wieder nickte ich knapp. Es war eine miese Ausrede, aber die einzig gangbare. Ich wiegelte ab. „Ich weiß nicht. Ich ... Mein Vater hat ..." Eine unbestimmte Geste beendete einen Satz, für den ich ohnehin kein Ende gehabt hätte. Ich wollte meinen Eltern keine Krankheit andichten, die sie nicht hatten.
Aber zum Glück nahm Jiwong das einfach so hin. „Soll ich dich fahren?", fragte er besorgt. Immer noch hielt er mich am Arm, als hätte er Angst, dass ich ohne seine Unterstützung gleich wieder zusammenfallen würde. Womöglich hatte er damit sogar recht. Trotzdem verneinte ich stumm.
„Du solltest nicht selbst fahren", beharrte er. „Du bist in keiner guten Verfassung. Stell dir vor, dir passiert was, auf dem Weg ins Krankenhaus. Du könntest-"
„Es geht mir gut", fiel ich ihm schwach ins Wort. Er glaubte mir nicht.
„Es geht dir nicht gut", beharrte er. „Warte einfach hier. Ich kläre das und dann fahre ich dich." Damit machte er auf dem Absatz kehrt.
„Jiwong! Warte! Nein, du ...!" Aber er war bereits im Bauwagen verschwunden. Entnervt lehnte ich mich gegen die eiskalte Metallwand und wartete. Als er wieder herauskam, jetzt auch mit meiner Jacke und meiner Tasche unter dem Arm, seufzte ich verhalten.
„Jiwong bitte", versuchte ich es ruhiger. „Du musst mich nicht fahren, wirklich. Mir geht es gut, es hat mich nur überrascht."
„Ja", sagte er lediglich, wischte dabei meinen Einwand mit einer knappen Geste beiseite und legte einen Arm um meine Schultern. „Komm jetzt."
„Aber mein Wagen!"
Da hielt er nur stumm meine Autoschlüssel in die Höhe, sodass sie leise klimperten. Die Frage, wie er dann wieder zurückkommen wollte, sparte ich mir. Ich war mir sicher, dass er dafür auch eine Antwort parat gehabt hätte. Schweigend folgte ich ihm zu meinem Wagen, stieg ebenso wortlos auf der Beifahrerseite ein und lehnte den Kopf an die Nackenstütze. Ich verlangte nicht noch einmal selbst fahren zu können. Er würde ohnehin nicht nachgeben und nachdem wir erst mal unterwegs waren, war ich auch ganz froh darum. Womöglich hatte Jiwong recht gehabt. Meine Gedanken wirbelten panisch im Kreis und ließen sich kaum anhalten. Ich hatte weder einen Blick für die Straße, noch für irgendetwas anderes. Nachdem ich ihm gesagt hatte, zu welchem Krankenhaus ich musste, steuerte Jiwong meinen Wagen ruhig und zielstrebig durch das übliche Verkehrschaos der Stadt. Ich bekam kaum etwas davon mit, kein Hupen, keine Sirenen, nichts. In meinem Kopf drehten sich die sorgenvollen Gedanken im Kreis.
Mingi. Was war passiert? War er okay?
Auf dem Besucherparkplatz wurde ich von Jiwong verabschiedet. „Grüß deine Eltern von mir. Und wenn du was brauchst – ruf mich an, in Ordnung?"
Ich bedankte mich, zwang mich zu einem Lächeln und wandte mich zum Gehen. Jetzt, wo ich allein war, nahmen meine Sorgen nochmal sprunghaft zu. Ich hatte keinen Schimmer, was mich erwarten würde und das ängstigte mich.
Auf mein Nachfragen am Empfang wurde ich auf die Allgemeinstation verwiesen und machte mich auf den Weg. Ich fand das angegeben Zimmer, wurde dieses Mal nicht aufgehalten und klopfte. Nichts regte sich, also öffnete ich vorsichtig, trat ein und der erste Blick auf Mingi in diesem Krankenhausbett bescherte mir ein solch niederschmetternden Déjà-vu, dass es mir augenblicklich die Kehle zuschnürte. Meine Augen brannten und ich blinzelte gegen die aufkommenden Tränen an. Nicht weinen, bitte.
„Mingi?" Ich hatte meine Stimme nicht unter Kontrolle, meinen Körper ebenfalls nicht, meine Hände zitterten. Und ich stand immer noch direkt an der Tür. Dabei wollte ich zu ihm laufen, ihn in meine Arme reißen und einfach nur festhalten, jetzt wo ich ihn sah.
„Was ist passiert?", flüsterte ich. „Geht es ... Geht es dir gut?"
Er sprach nicht, nickte nur, dann wischte er sich über die Augen, aber es war zu spät. Ansatzlos brach er in Tränen aus, schluchzte auf und das durchbrach auch endlich meine Starre. Rasch lief ich zu ihm, umarmte ihn zunächst vorsichtig, weil ich ja nicht wusste, was geschehen war und ob er verletzt war, aber nachdem er mich sofort fest umklammerte, sank ich auf die Bettkante und erwiderte die Umarmung.
Für eine Weile saßen wir nur so, Arm in Arm, bis Mingi sich beruhigt hatte und seine Tränen versiegt waren. Jetzt lehnte er nur noch schwer auf meiner Schulter und ich spürte seinen warmen Atem gegen meinen Hals schlagen.
„Was ist passiert?", hauchte ich, drückte einen Kuss in seine Haare und rieb vorsichtig über seinen Rücken.
Da er merklich zusammenzuckte, stellte ich die Bewegung sofort ein und drückte ihn ein Stück weg, um ihn ansehen zu können. „Entschuldige", flüsterte ich dabei. „Bist du verletzt? Hast du-?"
„Es war nur ein dummer Unfall", murmelte er dumpf, ging aber nicht näher darauf ein, als ich nachhakte, welcher Unfall es denn genau gewesen war.
„Ich bin gestürzt", brummelte er und sah weg. „Und blöd gefallen ... Irgendwer hat den Krankenwagen gerufen." Er seufzte tief, sah mich an und schon wieder schwammen seine Augen in Tränen. „Es tut mir leid, dass ich dir schon wieder Kummer mache, dass ich dich erschreckt habe."
„Schon gut", ich wiegelte ab und schluckte jedes weitere Wort hinunter. Das war nicht der richtige Moment für ein Gespräch dieser Art und ich wollte ihm auch keine Vorwürfe machen. „Ich bin froh, dass es dir gutgeht", flüsterte ich, zwang mich zu einem Lächeln und hauchte ihm einen raschen Kuss auf den Mund.
„Wie lange musst du bleiben?"
„Dazu haben sie noch nichts gesagt", seufzte Mingi und griff nach meinem Handgelenk, das er fest umklammerte, als ich aufstehen wollte. „Ich will nach Hause!"
Sachte streichelte ich über seine Hand, löste mich von ihm und stand nun auf. „Ich gucke nach dem Arzt, vielleicht kann er mir sagen, wann du nach Hause darfst."
„Yunho!", folgte mir jetzt, da war ich schon fast an der Tür, also drehte ich mich um, sah ihn an, wartete. Mingi schien mit sich zu ringen, wollte etwas sagen, winkte dann aber ab und sank zurück in das Kissen. Er wandte sich ab und sein Blick richtete sich wieder auf das Fenster.
Keine zehn Minuten später wusste ich diese Reaktion anders einzuschätzen, denn da stand ich mit seinem behandelnden Arzt am Ende des Flurs und starrte, genau wie Mingi zuvor, aus dem Fenster. Nur sah ich nichts, denn meine ganze Aufmerksamkeit, mein ganzes Denken war nach innen gerichtet, auf die Worte, die sich wie ein verdammter Pac-Man durch meinen Verstand fraßen.
Hatte Mingi versucht sich umzubringen? Das hatte der Arzt so nicht gesagt, er hatte nicht einmal die Bezeichnung Suizidversuch in den Mund genommen. Von ‚fraglicher Unfall' war die Rede gewesen und einem psychiatrischen Konsil. Beides zusammen war deutlich genug, um mir klarzumachen, worauf er hinauswollte.
Mir wurde kalt, aber es dauerte, bis ich begriff, woher das rührte. Dass es die nackte Angst war, die mich gerade in den Klauen hatte.
„Sie denken, er ... er hat versucht ...?" Ich brachte die Worte nicht über die Lippen, konnte es nicht aussprechen.
Und der Arzt wiederum hielt sich bedeckt. Seine Miene blieb so ausdruckslos wie zuvor, während er auf dem Tablet blätterte.
„Herr Song beteuert, es wäre ein Unfall gewesen."
Zum ersten Mal erfuhr ich, welche Art von Unfall es gewesen war, dass er von einem Dach gestürzt war und ich schlang fröstelnd die Arme um meinen Oberkörper, während ich mir vorzustellen versuchte, wie man versehentlich von einem Dach stürzen konnte. Hatte der Arzt mit seiner unterschwelligen Warnung oder auch Unterstellung womöglich recht?
Die Vorstellung, dass wir an diesem Punkt angekommen sein konnten, machte mir fürchterlich Angst und ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte.
„Ein psychiatrisches Konsil ist angeordnet. Wir sollten das abwarten, um die Situation angemessen bewerten zu können. Dafür würden wir Herrn Song ohnehin noch zwei Tage hierbehalten", wich der Arzt weiter aus und ich nickte stumm. Meine Schultern sackten hinab, ich wandte mich erneut dem Fenster zu und blieb allein zurück, nachdem der Arzt wieder gegangen war.
Unfall, flüsterte die Stimme in meinem Kopf. Vom Dach gestürzt. Wirklich? Oder war er gesprungen? Genervt zischte ich, presste die Hände vors Gesicht und wartete, bis sich mein Puls wieder etwas beruhigt hatte. Am liebsten wäre ich zurück in das Krankenzimmer gestürmt, hätte ihn gepackt und geschüttelt, ihn gefragt, warum?
Warum? Warum tat er sich das an? Mir? Uns? Warum?! Ich verstand es einfach nicht.
Stattdessen lief ich bis zur Kanzel der Station, machte den Kaffeeautomaten ausfindig und ließ mir einen Becher herunter. Es ging nicht um den Kaffee, obwohl mich das heiße Gebräu ein wenig beruhigte, es ging lediglich um die paar Minuten mehr, die ich mir damit verschaffte, bevor ich wieder zu Mingi zurückkehrte.
Wieder bei ihm im Zimmer, fehlten mir zunächst die Worte. Was sollte ich auch sagen? Wie ansprechen, was mich beschäftigte ohne noch mehr Druck aufzubauen oder es wieder eskalieren zu lassen? Ich wusste es nicht, also schwieg ich vorerst, zog mir nur einen Stuhl heran und setzte mich. Beide Hände um den Kaffeebecher gelegt, nippte ich daraus und schließlich war Mingi es, der das Gespräch eröffnete.
„Hast du den Arzt getroffen? Was hat er gesagt?"
Seine Stimme war leise, vorsichtig, wie es mir vorkam und ich musste mich zusammennehmen, um ihn nicht anzuschreien: Dass du dich umbringen wolltest!
Nun, das war ja auch nicht richtig. Genaugenommen war das genau das, was er nicht gesagt hatte. Was er um jeden Preis vermieden hatte, in Worte zu fassen.
„Dass sie noch ein psychiatrisches Konsil angeordnet haben und sie dich deswegen zwei Tage hierbehalten wollen", erwiderte ich heiser. Und ehrlicherweise war auch das nicht hundertprozentig die Wahrheit. Spielte für mich aber gerade keine Rolle.
Mingi schnaufte aufgebracht und sah weg. Aber er sprach das Offensichtliche nicht an und ich auch nicht. Stattdessen schwenkte ich um.
„Willst du mir endlich erzählen, was passiert ist?"
Genervt, wie es schien, atmete Mingi ein und wieder aus. „Wir waren mit Ice und seinen Leuten unterwegs ..."
Wir. Ich versuchte mir nichts anmerken zu lassen. ‚Wir' meinte dann wohl ihn und diese miese Kanaille, die ihn mit immer noch mehr scheiß Tabletten versorgte. Ich hatte seinen Namen vergessen. Aber vielleicht waren es mittlerweile ja schon mehr als einer. Und wer zur Hölle war Ice? Auch diesen Namen hörte ich zum ersten Mal.
„... es war ein Unfall."
Immer noch blieb er so vage wie möglich. Ich sah auf und bemühte mich wirklich, mir meinen Ärger nicht anmerken zu lassen.
„Du hängst mit einem Typ ab, der sich Ice nennt und was? Machst Party auf Hausdächern?" Meine Stimme vibrierte, offensichtlich gelang mir das mit dem Zügeln der Wut nicht wirklich.
Ihm aber auch nicht, denn er funkelte mich giftig an. „Ich mache keine Partys auf Hausdächern. Ice und seine Jungs sind Parkourläufer, sie ..."
„Ich weiß, was Parkourläufer sind!", unterbrach ich ihn unwirsch. Das konnte ja wohl nicht wahr sein. Welchen Mist wollte er mir hier verkaufen? „Und ich weiß, dass du keiner bist. Für wie dumm hältst du mich, hm? Und wer ist wir? Du und dein Dealer?"
Kaum waren die Worte heraus, bereute ich sie auch schon, noch mehr, als ich sah, wie sich Mingis Miene von verärgert zu verschlossen veränderte. Scheiße, verdammte.
Ich seufzte, griff nach seiner Hand, aber er riss sie aus meiner und presste die Lippen aufeinander, sodass sie nur noch eine dünne Linie bildeten.
„Entschuldige. Mingi? Es tut mir leid, wirklich. Ich hatte nur solche Angst und ..." Entnervt brach ich wieder ab. Es gab keine Erklärung dafür und ich glaubte auch nicht, dass wir beide gerade in der Verfassung waren, vernünftig darüber zu reden. Auch das sagte ich ihm, versuchte noch einmal einzulenken und wurde schlussendlich von der Schwester aus dieser Situation gerettet, die mich informierte, dass die Besuchszeit zu Ende war.
„Ich komme morgen Mittag", flüsterte ich, fasste nochmal nach seiner Hand und war froh, dass er es dieses Mal zuließ. „Du gibst mir Bescheid, wenn du etwas Bestimmtes brauchst?"
Dafür bekam ich ein stilles Nicken, außerdem einen flüchtigen Kuss auf den Mundwinkel, dann stand ich bereits allein auf dem Parkplatz und fühlte mich einmal mehr wie an einem Abgrund. Zum ersten Mal verspürte ich nun aber auch den Wunsch, mich einfach in diesen fallen zu lassen.
Auf dem Weg nach Hause blieb ich noch relativ ruhig, war ich bemüht, meine Gedanken im Zaum zu halten. Aber kaum betrat ich die leere, dunkle Wohnung, holte es mich ein. Er war nicht hier. Wie nah war ich an dem Moment, an dem er nie wieder hier sein würde?
Bevor mich dieser Gedanke in den Wahnsinn treiben konnte, schlüpfte ich in meine Laufklamotten, machte auf dem Absatz kehrt und verließ die Wohnung wieder.
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