✧.* - Kapitel 32

Ende November

Der kurze Ausflug mit Yunho hatte etwas in ihm ausgelöst, den Wunsch gezündet, endlich wieder in die Normalität zurückzukehren, aber wie das mit Wünschen oftmals so war: Sie gingen nicht zwangsläufig in Erfüllung. Das gute Gefühl, der Wille hielten sich vier oder fünf Tage, dann überwog erneut der Alltag und Mingi spürte, wie ihn der Sog dieses Sumpfes wieder hinabzog. Dabei wollte er das gar nicht! Er wollte wirklich das befreite Gefühl dieser Auszeit bewahren, nur ließ es sich nicht festhalten. Mit dem Alltag kamen die Ängste zurück, die Unzulänglichkeiten und die Phasen, in denen seine Stimmung so im Keller war, dass nichts an ihn herankam, auch Yunho nicht. Er schlief schlecht, die Albträume kehrten wieder und sein Tablettenkonsum stieg langsam erneut an.

Nach nicht mal zwei Wochen waren seine guten Vorsätze nur noch ein Scherbenhaufen. Aber selbst da plagte ihn noch das schlechte Gewissen, versuchte er so gut wie möglich zu vertuschen, an welchem Punkt er wieder angekommen war und zwang sich in einen Rahmen, der sich mehr und mehr wie eine Klammer um seinen Brustkorb anfühlte. Der Augenblick, an dem er Yunho nicht einmal mehr vorspielen konnte, dass immer noch alles okay war, war nur noch einen Atemzug entfernt.

Mit zitternden Fingern schüttelte Mingi eine Tablette aus dem Röhrchen, schluckte sie rasch und drückte den Stopfen wieder zu. Er kniff die Augen zu, bemühte sich, ruhig zu atmen, aber es gelang ihm nicht. Kalter Schweiß brach ihm aus.

Gerade wusste er nicht einmal mehr, was er hatte tun wollen, aber das war ohnehin unwichtig, wenn sein Körper so verrücktspielte. Unbeholfen taumelte er einen Schritt zurück, streifte dabei das Regal, sodass die Sachen darin leise klirrten, bevor er gegen die Wand stieß. Die Fliesen fühlten sich unangenehm kalt an auf seiner Haut und ein Zittern erfasste ihn. Außerdem war ihm schwindelig und übel. Mit einem leisen Stöhnen sank er in sich zusammen.

Nach fünf oder zehn Minuten, die er so auf dem Boden gehockt war, griff er erneut nach den Tabletten, schüttelte eine zweite auf seine Hand und verzog dabei das Gesicht. Es waren kaum noch welche übrig. Das hieß auch, er musste dringend Hongjoong treffen. Aber fürs Erste musste er diesen Moment überstehen.

Es dauerte nochmal fünfzehn Minuten, dann spürte er die einsetzende Wirkung. Die Angst wich zurück und machte der dumpfen Ruhe Platz, die alles andere verschluckte. Jede noch so schwach aufflammende Empfindung, jeden winzigen Rest einer Emotion, die vielleicht noch dagewesen war. Es war, als würde sein Körper die Kälte, die ihn umgab, aufsaugen und in seinem Inneren verteilen, bis nichts mehr übrig war, das von Bedeutung gewesen wäre. Er mochte das Gefühl nicht, wie sich sein Kopf dann anfühlte – als hätte man ihn mit nasser Watte ausgestopft, aber nahm man es genau, war auch das etwas, das sich in der leblosen Gleichgültigkeit irgendwann auflöste.

Eine ganze Weile saß Mingi also halbnackt auf dem kalten Badezimmerboden, bevor er sich endlich dazu aufraffen konnte, aufzustehen und sich anzuziehen. Schließlich schlurfte er hinaus, machte sich einen Tee und ließ sich dann auf die Couch fallen. Wann war Yunho gegangen? War er im Büro oder auf der Baustelle? Er wusste es nicht. Aber er wollte sich auch gerade nicht damit beschäftigen. Alles zwischen ihnen war in den letzten Tagen wieder so mühevoll geworden.

Er hatte sich etwas anderes gewünscht, ja. Aber ...

Seufzend überblätterte Mingi die beiden Nachrichten von Yunho auf seinem Handy und öffnete stattdessen Hongjoongs Kontakt. Er brauchte Nachschub und überhaupt, womöglich wäre es besser, sich gleich mit ihm zu treffen und ihn zu fragen, ob er nicht noch was anderes hatte, das ihn nicht so mürbe machte.

Ob nun neue Tabletten, oder das gewohnte Zeug, eines war damit klar: Die Spirale drehte sich erneut, mittlerweile schlimmer als zuvor. Die Trigger nahmen zu, konzentrierten sich mehr und mehr auf Gerüche und Geräusche, manchmal auch bestimmte Bewegungsmuster, sodass Mingi sich zunehmend hilfloser fühlte. Die Angstzustände häuften sich, die Angst vor der Angst selbst, und manchmal war es so schlimm, dass er sich hinterher fühlte, als wäre er aus einer Trance aufgewacht. Schweißgebadet, mit Schwindelgefühlen und Herzrasen. Stimmen, vor allem lautes Lachen, ließen ihn oftmals in eine regelrechte Schockstarre fallen, in welcher die Panik so überhand nahm, dass er noch nicht mal hätte schreien können, um seine Hilflosigkeit auszudrücken. An besonders schlimmen Tagen vermied er es, überhaupt die Wohnung zu verlassen, wenn es erträglicher war, lief er oft Stunden ziellos umher, einfach, um die Unruhe ein wenig zu dämpfen. Nicht immer gelang das.

Das Einzige, was hierbei immer half, waren Medikamente. Alles was betäubte, was jede Emotion und Gefühlsregung zerschlug und auflöste, half. Innerhalb kürzester Zeit stumpften seine Empfindungen erneut so ab, dass er nicht einmal mehr sich selbst wahrnahm. Gar nichts. Damit war die nächste Krise in ihrer Beziehung ebenfalls vorprogrammiert.

„Herrgott Mingi!" Es war eine Auseinandersetzung von vielen. Die erste, die letzte – es spielte keine Rolle mehr, sie waren alle gleich und Mingi konnte sie nicht mehr unterscheiden. Yunho, der aufgebracht herumstapfte, laut wurde, wütend gestikulierte oder sich abwandte, wenn er die Teilnahmslosigkeit gar nicht mehr ertragen konnte. Manchmal schlugen Türen, hin und wieder fegte er irgendwas vom Tisch, was polternd über den Boden rollte und er fluchte, sehr oft. „Du hast es mir versprochen!" Seine Wut füllte summend den Raum zwischen ihnen. „Was ist mit all deinen Beteuerungen? Waren das alles nur leere Worte, nichts weiter?"

Vielleicht, wollte Mingi sagen, aber ihm fehlte selbst dazu die Kraft. Streiten war aufreibend und erforderte Gefühle, die er nicht hatte.

Wenn es zwischen ihnen eskalierte, brach er aus, er wusste keine andere Lösung. Er traf sich mit Hongjoong und Yeosang, noch öfter nur mit Yeosang, weil dieser ihn am besten zu verstehen schien und verlor sich mehr und mehr in einer Welt, die nur eine Form von Selbstbestätigung kannte, auch wenn es ihm nie darum ging.

Es ging immer nur um den Adrenalinkick, den einen winzigen Augenblick, der ihn aus seiner ewig grauen Welt riss, die ihn umgab wie zäher Brei.

Ein wummernder Herzschlag. Leben. Fühlen.

Balanceakte auf Hochhäusern, Trainsurfing, nächtliche Autorennen mitten in der Stadt, das Ausharren auf Schienen, während der nächste Zug mit einem schrillen, warnenden Signalton heranraste. Darin war er besonders gut, weil er tatsächlich keine Angst verspürte, nur Leben. Wenn sein Herz so hart in seinem Brustkorb schlug, dass der dröhnende Puls seinen ganzen Schädel anfüllte, dann war er lebendig, dann konnte er atmen.

„Mingi!"

„Mingi komm da runter!"

Ein Lächeln zupfte an seinen Mundwinkeln.

„Mingi!! Um Himmelswillen! Bist du verrückt?!"

Vielleicht? Ein wenig. Oder auch mehr. Wer wusste das schon.

„Mingi!"

Der Ausruf war ebenso schrill wie der Signalton des Zugs und eins ging ins andere über. Mit einem Satz hechtete er zur Seite, rollte sich über den harten Untergrund ab und spürte den wirbelnden Luftstrom, der an ihm riss. Dennoch kam er wieder auf die Beine, womöglich nur mit Glück. Dann rannte er. Er rannte, bis seine Lungen brannten, bis er keine Luft mehr bekam, weil ihn dieses irre Lachen von innen heraus erschütterte.

Keuchend und lachend blieb er stehen, kippte halb vornüber und wurde im selben Moment hart angerempelt.

„Bist du eigentlich total irre!", keifte ihn Yeosang an. Man konnte ihm ansehen, dass er wohl am liebsten nach ihm geschlagen hätte und es sich gerade noch eben so verkniff.

„Ja total", giggelte Mingi. Er konnte einfach nicht aufhören zu lachen.

Und mittendrin lachte Yeosang ebenfalls, stupste ihn nochmal halb beleidigt an, ohne den nötigen Ernst aufzubringen.

„Alter – ich hab mir fast in die Hosen gemacht! Du bist so im Arsch."

„Ich weiß."

Sie kicherten beide dumm, womöglich ohne zu wissen warum eigentlich. Kurz darauf schlossen Ice und der Rest der Gang zu ihnen auf.

„Du bist irre, mein Freund", sagte der schweratmend und legte einen Arm um Mingis Schultern. „Absolut irre." Er wühlte in seinen Haaren und atmete tief ein. Jeder war angespannt, das konnte man sehen, aber jetzt löste sich das allmählich und befreites Gelächter breitete sich aus.

„Wir sollten machen, dass wir hier wegkommen", erklärte Ice außerdem, zog Mingi einfach mit sich und sah sich nach Yeosang um. „Wo bleibt eigentlich Hong?"

„Ah, kommt später." Yeosang sah auf die Uhr und schnalzte unzufrieden mit der Zunge. „Gehen wir was essen, ich sag ihm, er soll nachkommen." Damit tippte er in Windeseile eine Nachricht, wohl an Hongjoong, und schon waren sie alle unterwegs zum nächstbesten Straßenimbiss. Dort saßen sie im warmen Innenraum, stopften sich mit gedämpften Knödeln voll und schnatterten wie Schulkinder über die Aufregungen der letzten Stunden, bis Hongjoong endlich zu ihnen stieß.

Der bekam nun einen Kurzbericht über ihr Treiben und am Ende landete sein Blick auf Mingi, zusammen mit einem schiefen Grinsen. „Bruder, du bist total kaputt. Ist dir klar, oder?"

Mingi nickte und zog eine Grimasse. Ja, war ihm klar. Er war so kaputt, da gab es nichts mehr zu reparieren. Was blieb also noch?

*

„Du kannst da nicht rüberspringen."

Seit geschlagenen zehn Minuten standen Ice und Yeosang vorne an der Dachkante und diskutierten darüber, ob man die Häuserschlucht überspringen konnte oder nicht. Wie viel waren das, zwei Meter? Vielleicht eher drei. Zu riskant, meinte Yeosang, weil die Häuser auch noch annähernd gleich hoch waren. Ice blieb unschlüssig, man konnte ihm ansehen, dass es ihn in den Fingern juckte, es zu versuchen. Er war immer auf der Suche nach neuen Herausforderungen, aber solchen hier stellte er sich für gewöhnlich erst, wenn er sicher war, dass es auch funktionieren würde. Er war nicht darauf aus, sein Leben zu verlieren, sondern es zu bereichern, wie er sagte.

„Wie weit ist es?"

„Das sind sicher fast drei Meter", begann Yeosang erneut. „Ice – du kannst da nicht rüberspringen. Bitte! Selbst wenn du den Absprungpunkt richtig erwischst. Wir waren doch drüben, du hast gesehen, dass an der Kante kaum-"

Mingi wandte sich ab und hörte nicht mehr zu. Ihm war kalt, weil über das Dach ein unangenehm frischer Wind strich und er hatte Kopfschmerzen, schon seit heute Morgen. Da war außerdem dieses seltsame Kribbeln in seinen Armen und Beinen, dass ihn vor Unruhe fast durchdrehen ließ und dafür sorgte, dass er es kaum aushielt, länger als ein paar Minuten still zu verharren. Ein paar von den anderen hockten im Windschatten eines kleinen Aufbaus, rauchten und tranken, lachten, während Yeosang und Ice weiter diskutierten.

Mingi atmete tief ein und sehr langsam wieder aus. Half auch nicht. Unbehaglich bewegte er die Schultern, lief ein paar Schritte von den anderen weg und atmete erneut tief durch. Die Luft war frisch, fraß sich spürbar kalt in seine Lungen, schien sie aber ebenfalls nicht ausfüllen zu können. Alles streifte ihn nur noch, nichts konnte ihn mehr richtig durchdringen. Er hasste das Gefühl.

Jetzt war er am seitlichen Dachrand angekommen und sah hinab. Wie hoch war das? Hoch genug, um zu sterben, wenn man abrutschte? Oder würde man sich nur das Rückgrat brechen und für immer im Rollstuhl sitzen, zur Reglosigkeit verdammt, darauf angewiesen, dass jemand anderes entschied, wie jeder einzelne Tag des restlichen Lebens verlief?

Vielleicht musste man dazu auch-

„Mingi!", schallte es von der hinteren Seite herüber und er hob den Kopf, sah Yeosang wie wild gestikulieren und winken. Also hob er kurz die Hand, um ihm zu signalisieren, dass er verstanden hatte. Ice hatte es wohl endlich aufgegeben.

Langsam trottete er zur Truppe zurück, schloss dabei für einen Moment die Augen und atmete erneut tief ein, aber die beißende Kälte erreichte ihn nicht und er atmete enttäuscht wieder aus. Blinzelnd öffnete er die Augen und rannte los.

Er rannte – rannte – sein Fuß setzte so knapp an der Kante auf, dass er spüren konnte, wie seine Schuhspitze darüber und nach vorn kippte.

Rennen. Springen. Fliegen.

Jemand schrie. Vielstimmig. Schrill und kreischend. Wie Vögel.

Aber er war selbst ein Vogel. Flog. Ruderte mit den Armen und wusste genau in diesem Augenblick, dass es nicht reichen würde. Da riss es ihn aus seiner pelzigen Wattewelt. Sekundenbruchteile dehnten sich zu endlosen Minuten.

Wild schlug sein Herz. Wie eine Urwaldtrommel. Hämmerte so hoch in seinem Brustkorb, dass es sich anfühlte, als wäre es in seinem Hals steckengeblieben. Seine Füße traten ins Nichts, seine Arme ruderten. Flügel ohne Federn. Dann kam der Aufprall, gegen den rauen Stein.

Zu kurz, zu kurz. Er packte zu, fand Halt und für Sekunden klammerten sich seine Finger an einen zentimeterbreiten Vorsprung.

Yeosang hatte Recht gehabt, dachte er noch. Es war zu weit.

„Mingi!", kreischte es wieder hinter ihm. „Großer Gott! MINGI!"

„Halt dich fest! Halt dich ... Oh Gott! MINGI!"

Seine Finger rutschen ab und er fiel. Der Schrei stürzte mit ihm hinab. Erstarb ebenso schnell wie der Fall gestoppt wurde. Abrupt. Etwas schlug ihm ins Gesicht. Dann kam der schmerzhafte Ruck, der in der Mitte seines Körpers explodierte und sich wie eine Druckwelle ausbreitete. Alle Luft wurde ihm aus der Lunge gepresst und sein Hinterkopf schlug auf Beton.

Er konnte nicht atmen. Es ging einfach nicht. Und da war Schmerz. Aufwühlender, peinigender, alles durchdringender Schmerz. Mingi lächelte.

Später, im Krankenhaus, hatte ihn der Schmerz mit allen Facetten erreicht, die er zu bieten hatte und sein Lächeln war erstorben. Er hatte sich – wie durch ein Wunder – nicht schwerer verletzt, noch nicht mal einen einzigen Knochen gebrochen. Etwas hatte seinen Fall gebremst, vielleicht eine vorstehende Markise oder etwas ähnliches. Er selbst wusste es nicht und konnte sich auch nicht erinnern. In seinem Kopf war nur der Moment gespeichert, als der Schleier zerrissen war. Das trommelnde Wüten seines Herzens.

Alles weitere konzentrierte sich um das Geschehen im Krankenhaus. Infusionen, Untersuchungen, Stabilisatoren im Rücken, um die Brust, eine Halsmanschette, Röntgen, bis klar war, dass er bis auf die Abschürfungen, Schrammen und blauen Flecken, sowie einer fetten Beule an seinem Hinterkopf tatsächlich nichts abbekommen hatte.

Trotzdem stachen sie Nadeln in seinen Arm, zwangen ihn in ein Bett, nahmen Blut ab, stellten ihn ruhig. Mingi ließ es über sich ergehen. Er fragte sich, ob sie das mit den Medikamenten herausfinden würden und wie er es erklären sollte. Ihm war auch klar, was sie denken würden.

Er war nicht bereit, darüber zu reden. Sie würde ohnehin nicht verstehen.

Niemand würde das.

Also verharrte er still, ließ sie machen, wehrte sich nicht. Ärzte und Schwestern kamen und gingen. Er zeigte sich kooperativ, soweit das eben möglich war und wartete darauf, dass man ihm sagte, er könne wieder gehen.

Es war doch ohnehin alles egal geworden.

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