✧.* - Kapitel 26
Mittwoch, 8. Oktober
Es ist schwer zu beschreiben, was nach dieser Nacht mit uns geschah. Einerseits schien Mingi durchaus meine Nähe zu suchen, andererseits wehrte er jeden weiteren Versuch meinerseits, ihm irgendwie näher zu kommen, rigoros ab. Intimität war fürs erste gestrichen. Küssen war okay, wenn es nicht zu intensiv wurde, kuscheln, aber alles darüber hinaus, war nicht mehr relevant. Nackte Haut wurde wieder versteckt, als schäme er sich plötzlich erneut vor mir. Ich hatte versucht mit ihm darüber zu reden, aber er wehrte auch das ab, notfalls mit dem Totschlagargument: bitte dränge mich nicht.
Was sollte ich darauf erwidern? Wollte ich der unsensible Partner sein, der keine Rücksicht nimmt? Nein. Also hielt ich mich bedeckt und schwieg, immer in der Hoffnung, dass er selbst auf mich zukommen würde, wenn er so weit war.
Ich versuchte da zu sein, wenn er mich brauchte, aber mein bis dato ungebrochener Wille, ihm zu helfen, bekam erste Risse, als ich mehr und mehr zu begreifen begann, was vor meinen Augen geschah. Zu Beginn waren es ja nur einzelne Momente, die mich aufbrachten, die mich an den Rand der Beherrschung trieben und damit sofort wieder mein schlechtes Gewissen schürten, aber je länger ich darüber nachdachte – und in der Folgezeit gab mir Mingi mehr als reichlich Gelegenheit dazu – desto mehr verwoben und verdichteten sich die negativen Eindrücke.
Zum ersten Mal nahm ich bewusst wahr, wie wenig er tatsächlich aß. Sicher war mir vorher schon aufgefallen, dass er oft appetitlos war, aber jetzt, wo ich darauf achtete, fand ich es alarmierend. Er ließ zu viele Mahlzeiten ganz ausfallen, redete sich mit vagen Ausflüchten raus und wenn er sich doch zum Essen hinsetzte, konnte man an einer Hand abzählen, wie viele Bissen er wirklich nahm, während er den Rest einfach nur über den Teller schob.
Die Frage, ob ich wirklich so unaufmerksam gewesen war, oder schlicht mit Blindheit geschlagen, weil mein Fokus auf allem Möglichen lag, nur nicht auf all den Dingen die nicht gut waren, machte mir zu schaffen. Immerhin war es gut möglich, dass ich mich so auf die schrittweisen Verbesserungen konzentrierte hatte, dass ich den schäbigen Rest einfach ausblendete.
Oder hatte ich es nur nicht sehen wollen, weil ich mich krampfhaft auf der hellen Seite festhalten wollte? Nun, so oder so, jetzt holte mich die Dunkelheit ein und sie tat es mit voller Wucht. Der schäbige Rest, wie ich so schön dachte, türmte sich zu einer gewaltigen Masse auf und walzte mitten durch mein Leben.
Da war zum einen das Essen, oder eher das Nicht-Essen, der fast schon gewissenlose Alkoholkonsum und auch äußerlich gab es mehr und mehr Anzeichen, dass er sich einfach gehen ließ. Die Haare wurden immer länger und erreichten bald einen Punkt, der für die Kanzlei und sicher auch für seinen Onkel auf keinen Fall tragbar war. Wenn ich ihn darauf ansprach, winkte er ab. Wenn er morgens in die Kanzlei ging, sah er oftmals aus wie andere, die nach einem 12-Stunden-Tag heimkamen. Die Krawatte saß nicht richtig, das Hemd war zerknittert, die ganze Aufmachung war ... schlampig, anders konnte man es nicht ausdrücken. Meine Versuche, dabei zu retten, was zu retten war, in dem ich ihn Tag für Tag zurückpfiff und an ihm herumzupfte, brachten mir dabei nur genervtes Augenrollen und hin und wieder einen fiesen Spruch, also stellte ich auch das irgendwann ein. Ging er zur Uni fehlten mir oft die Worte, denn dann trat er teilweise wie ein Penner auf und das kannte ich so gar nicht von ihm.
Die Klamotten wurden immer schlabbriger und weiter, vielleicht auch, um zu verbergen, was darunter war, nämlich mittlerweile eine deutlich zu dürre Gestalt, die Haare sahen aus, als stände er mit jedem Kamm in seiner Nähe auf Kriegsfuß.
Aber das war jetzt nur die eine Seite. Die andere betraf seinen Medikamentenkonsum. Seit dieser Nacht, in der er noch mehr Tabletten genommen hatte, obwohl er mir gesagt hatte, dass er die negativen Auswirkungen spürte, schrie mich auch das an wie eine Reklametafel in Neonfarben. Jedes Mal, wenn er an die Schublade ging, jedes Mal, wenn er, den Rücken mir zugewandt, irgendwas einwarf, dort an der Küchenzeile stehend, das Wasserglas in der Hand. Wobei, das Wasser schien Nebensache. Offenbar war er schon so daran gewöhnt, mehrmals am Tag Medikamente zu schlucken, dass er es manchmal wie nebenbei machte, ganz ohne Wasser. Schublade auf, das Klappern der Medikamentenröhrchen – zack – geschluckt.
Und dann kamen die Fluchtmomente dazu. Es begann plötzlich, wie aus heiterem Himmel.
„Ich muss nochmal weg", sagte er dann, sprang auf, zog sich an und ging. Die ersten Male hatte er mich damit so überrascht, dass ich ihm durch die Wohnung nachgestiefelt war, ihn beim Anziehen beobachtet hatte und ausfragen wollte. Wohin? Warum jetzt so plötzlich? Soll ich dich fahren? Brauchst du den Wagen?
Allerdings wurde mir dieser Zahn rasch gezogen. Die Antworten, die er gab – wenn er welche gab – waren so offensichtliche Ausflüchte, dass ich mich zum Teil nur schnaubend abwandte. Uni. Es war immer für die Uni, mit diesem oder jenem Treffen, nochmal in die Bibliothek, Gruppenarbeit. Ich hätte ihm nachlaufen und ihn überwachen müssen, um zu beweisen, dass er mich anlog, aber ich wusste auch so, dass er irgendwas vor mir verbarg.
Nur was?
Es widerstrebte mir, ihn auszuspionieren, aber nicht zu wissen, wo er sich herumtrieb oder mit wem er sich traf, zermürbte mich ebenfalls. Und ich war mir ganz sicher, dass er sich mit jemanden traf, denn manchmal, wenn er zurückkam, war er wie ausgewechselt. Seine Laune, die Art, wie er sprach, sein ganzes Benehmen. Dann war ihm vieles plötzlich scheißegal, er ging am nächsten Tag nicht zur Arbeit und meldete sich krank. Dass das auf Dauer auch nur Ärger bedeuten konnte, war vorauszusehen, aber Mingi wollte auch darüber nicht mit mir reden.
Mir war klar, dass ich keinen alleinigen Anspruch auf ihn hatte, so wie er auch nicht auf mich. Wir hatten einen gemeinsamen Freundeskreis, aber auch Bekannte und Kollegen, die wir nicht als Paar kannten und trafen. Dass er sich also mit jemandem traf, den ich nicht kannte, war nicht das Problem. Dass er mich nicht mehr an seinem Leben teilhaben ließ, verletzte mich.
An einem dieser Tage, wo er einfach urplötzlich ohne Vorwarnung abhaute, war ich so wütend, dass ich wie wild in der Wohnung herumzuräumen begann. Es war nicht beabsichtigt, aber im Zuge dieser Aktion, war ich auch irgendwann an der Schublade mit den Medikamenten angelangt und griff mir genervt ein paar der Röhrchen, die darin lagen. Zwei davon hatten dasselbe Etikett nur das Datum war anders und was auch immer mich dazu bewog, die Röhrchen zu öffnen, es sorgte auch dafür, dass ich stirnrunzelnd ein paar der Kapseln auf den Tresen kippte.
Unterschiedliche.
Das war nicht, wie auf der Verpackung angegeben, das gleiche Medikament. Irritiert nahm ich die Kapseln in die Hand, drehte sie in den Fingern, aber es war kein Aufdruck darauf, der mir weitere Auskünfte gegeben hätte, also packte ich sie zurück und verschloss die Röhrchen wieder, bevor ich selbige zurück in die Schublade legte. Ein ungutes Gefühl setzte sich in mir fest.
*
Bis Mingi nach Hause kam, war es reichlich spät und meine Laune definitiv im Keller. Damit passte sie hervorragend zu seiner, denn auch Mingi war wenig gesprächig, sein ganzes Verhalten, von der Begrüßung bis zu der Art, wie er sich in den Sessel fallen ließ, seltsam dumpf und ausgelaugt.
„Was ist los?", versuchte ich es zunächst ruhig, aber er sah mich gar nicht an, legte einen Arm über die Augen und rutschte tiefer in den Sitz.
„Was soll los sein? Nichts. Alles okay."
Sah aber nicht so aus.
„Wo warst du?" Die Worte waren schneller heraus als ich denken konnte und ich wollte am liebsten über mich selbst genervt die Augen rollen. Natürlich kam das völlig falsch rüber und ich bekam auch prompt die Rechnung dafür. Augenblicklich richtete sich Mingi auf und fixierte mich düster.
„Unterwegs. Was soll das? Muss ich neuerdings Rechenschaft vor dir ablegen? Bist du eifersüchtig? Habe ich dir dafür je einen Grund gegeben?"
„Darum geht's doch gar nicht!", brauste ich auf. Auch wenn ich ihn da in gewisser Weise verstehen konnte. „Und so war es auch gar nicht gemeint", schloss ich etwas ruhiger. „Es ist nur ... - ach egal."
Ich machte mir Sorgen, aber das wollte er ja nicht hören.
Antwort bekam ich allerdings auch keine und das dumpf brütende Schweigen zwischen uns nahm zu. Da reicht es mir.
„Ist das die Art und Weise, wie wir zukünftig miteinander umgehen wollen? Wir schweigen uns an und erzählen uns nichts mehr?"
„Muss ich dir regelmäßig mein Herz ausschütten, um es dir recht zu machen?", schoss Mingi zurück, aber mir war auch klar, was er damit bezweckte. Er wich meiner Frage aus, also bemühte ich mich darum, mich von seinen Worten nicht provozieren zu lassen.
„Das war keine Antwort auf meine Frage", erklärte ich ruhig.
Mingi schnaubte leise und sah weg. „Ich werde darauf auch nicht antworten", schnappte er dann und schüttelte dabei den Kopf. Er murmelte etwas, das ich nicht verstand und das machte mich sauer genug, um mich einen Schritt tun zu lassen, den ich sofort bereute.
„Weißt du, du denkst vielleicht, ich kriege das nicht mit, aber da täuschst du dich. Du bist nicht ehrlich zu mir, du schließt mich aus, sagst mir nicht die Wahrheit ..." Als er daraufhin empört nach Luft schnappte, polterte es einfach aus mir heraus: „Was ist mit deinen Medikamenten? Was nimmst du alles?"
Urplötzlich richtete sich Mingi etwas auf, presste die Lippen aufeinander und fixierte mich misstrauisch. „Was ist denn das für eine Frage? Soll ich dir einen Einnahmeplan schreiben? Möchtest du einen Termin bei meiner Therapeutin, vielleicht kann sie dir genau erklären, was ich wofür nehme."
Er wich wieder aus.
„Es sind unterschiedliche Medikamente in den Röhrchen mit identischer Beschriftung."
Fuck. In dem Moment wo ich sah, wie seine Augenbrauen überrascht nach oben ruckten, wusste ich auch, dass ich zu weit gegangen war. Jetzt war ich genau das, was er mir vorgeworfen hatte.
„Was soll der Scheiß, Yunho? Warum wühlst du in meinen Sachen? Aber wenn du es unbedingt wissen musst. Es ist das gleiche Medikament, von einem anderen Hersteller."
„Das ist doch nicht wahr, es ist das gleiche Etikett mit an-"
„Herrgottnochmal!", fuhr er auf. „Das gleiche Medikament, anderer Hersteller, andere Verpackung, ich habe sie umgefüllt, weil es so praktischer ist! WAS willst du noch wissen?! Verdammte Scheiße, ehrlich!" Seine Miene verdüsterte sich. „Ich glaube ich will gar nicht darüber nachdenken, was genau du mir gerade vorwirfst!"
„Mingi ...", versuchte ich einzulenken.
„Nein!" Er sah weg, schüttelte den Kopf, doch nur Sekunden später schäumte er über. „Wie ich es leid bin, ständig von dir überwacht zu werden!"
Wow. Leidlich überrascht sah ich ihn an. Es mochte sein, ich war nicht ganz fair gewesen, aber das war ein Tiefschlag und das wusste er auch.
„Ständig, mhm", murmelte ich nur.
„Etwa nicht?" Seine Stimme wurde wieder lauter und auch etwas schriller. Ein Angriff zur Verteidigung. „Ständig versuchst du mich auszuhorchen, fragst du mich. Wo kommst du her, wo gehst du hin, was machst du, was denkst du, was nimmst du – Wie würdest du dich fühlen, wenn ich den Spieß umdrehe?"
Beachtet.
Ich schluckte die sarkastische Bemerkung hinunter und schwieg stattdessen. Mingi war ohnehin noch in Fahrt.
„Das ist so anstrengend! Ich bin kein kleines Kind mehr und du nicht meine Mutter. Ich fühle mich wie in einem K-Drama, gefangen mit einer zickigen Frau. Ich weiß nicht, was der Scheiß soll. Wir sind doch nicht verheiratet!"
„Aber Partner! Oder nicht?!", fauchte ich ihn an, weil mir nun ebenfalls der Kragen platzte. „Spielt es eine Rolle? Ist das jetzt nichts mehr wert?"
„Siehst du", knurrte er nur. „Und jetzt flippst du wieder aus."
„Ich flippe gar nicht aus!", gab ich schroff zurück, wissend, dass ich gerade sehr wohl explodierte, aber ich konnte auch nicht mehr zu allem nichts sagen. „Aber ich habe den Eindruck, dass du gar nicht mehr mitbekommst, was mit uns passiert, oder kriegst du es mit und ist es dir egal? Denn wenn es so ist, sag es einfach!"
„Das muss ich mir nicht geben", schnauzte Mingi, stand auf und wollte einfach gehen, was für mich das Fass zum Überlaufen brachte. Wir hatten nicht oft gestritten – davor – aber wir hatten gestritten, weil das zu einer gesunden Beziehung eben auch dazu gehörte. Allerdings war Mingi nie jemand gewesen, der aus der Situation flüchtete. Dass er mich jetzt mit meiner Wut einfach alleinlassen wollte, raubte mir fast den Atem vor überkochendem Zorn.
„Warum lässt du mich jetzt einfach so stehen?!", rief ich ihm nach, sprang schließlich auf und lief ihm dann sogar hinterher, weil er schlicht abwinkte, ohne sich umzudrehen, und bekam ihn gerade noch an der Schulter zu fassen, bevor er im Badezimmer untertauchen konnte. „Hey!"
Kaum berührte ich ihn, wirbelte er auf dem Absatz herum, stieß mir mit einer Hand so schmerzhaft hart vor die Brust, dass ich mit einem überraschten Keuchen einen Schritt rückwärts taumelte. Womöglich hatte es Mingi aber auch selbst überrumpelt, seine Miene sprach dafür. Denn innerhalb von Sekunden wechselte der Ausdruck in seinem Gesicht von Panik, zu Erstaunen und schließlich zu Reue, bevor er sich abrupt herumdrehte, durch die Tür schlüpfte, selbige zudrosch und verriegelte.
Ich stand völlig perplex im Flur und rieb mir die schmerzende Stelle.
Was um alles in der Welt war das gewesen?
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