✧.* - Kapitel 20


Dienstag/Mittwoch, 22./23. Juli

„Yunho!", stieß Wooyoung überrascht hervor und strich sich dabei verlegen über das zerknautschte T-Shirt, das er trug. „Mit dir habe ich ja gar nicht gerechnet, warum hast du mich nicht kurz angefunkt?"

Ja, dass er mit keinem Besuch gerechnet hatte, konnte man problemlos auf den ersten Blick erkennen, denn in diesem Allerwelts-Schmuddellook sah man ihn selten, um nicht zu sagen nie. Sein T-Shirt sah aus, als hätte er darin geschlafen und passend dazu trug er Sweatshirtjacke, ausgebeulte Jogginghosen und Sportsocken. Außerdem standen seine Haare wüst vom Kopf ab, wie bei einem verwirrten Professor und er trug seine Brille, was wirklich eine Seltenheit war. Wooyoung tat für gewöhnlich keinen Schritt vor die Tür, ohne Kontaktlinsen, weil er sich mit Brille hässlich fand und manchmal konnte man vergessen, dass der arme Kerl ohne Sehhilfe fast einen Blindenhund brauchte. Jetzt schob er sich die Brille gerade wieder auf die Nase, eine weiße Socke rieb über die andere und er blinzelte mich leidlich verlegen und mit einem vagen Lächeln an.

„Kann ich reinkommen?", murmelte ich nur. Es war mir ein wenig peinlich, dass ich jetzt einfach so bei ihm aufgetaucht war. Andererseits schien es mir geradezu verlockend, meine Begegnung mit Mingi noch ein wenig hinauszuzögern.

„Oh!" Rasch trat er zurück, nickte, winkte gleichzeitig ungestüm und strich sich dann unruhig über die Haare. „Sicher, entschuldige. Ich bin ... tut mir leid, ich ... egal, komm rein."

Schnell schlüpfte ich an ihm vorbei, trat mir die Schuhe von den Füßen und sah auf. Es war ungewöhnlich still in der Wohnung und nur eine schwache Lichtquelle war auszumachen.

„Hab ich dich bei irgendwas gestört?", fragte ich vorsichtig.

„Ach was", gab Wooyoung zurück und grinste schief. „Arbeit, was sonst – und danke, dass du mich da rausgeholt hast."

Tatsächlich brannte im Wohnzimmer nur die kleine Lampe, die auf dem Schreibtisch stand, der Rechner lief, auf dem Bildschirm war irgendein Schriftstück zu sehen und neben der Tastatur sah es in etwa so aus wie bei mir. Kaffeetassen, Wasserflasche, dreckiges Geschirr.

Jetzt machte Wooyoung das Licht an, räumte das Geschirr mit einem entschuldigenden Lächeln an mich rasch weg und stand dann wieder etwas zappelig mitten im Raum.

„Ist San gar nicht da?"

„Fortbildung", gab er zurück. „Kommt erst morgen Abend wieder und bitte, tut mir einen Gefallen, erzähle ihm nicht, dass du mich in dieser Penneraufmachung gesehen hast. Er hasst es, wenn ich total verkomme, wie er es nennt."

„Schon gut", ich musste schmunzeln, aber womöglich geriet das etwas schief, denn jetzt trat ein neuer, alarmierter Ausdruck auf Wooyoungs Miene.

„Sorry", sagte er leise. „Ich hinke mir selbst wohl noch ein bisschen hinterher, du ... Willst du was trinken? Ist alles okay bei dir?"

So unvorbereitet und plötzlich wie diese Frage nun kam, noch dazu eingebettet in eher harmlose Worte, erwischte sie mich eiskalt. Es war wie ein Nackenschlag, oder ein Tritt in die Kniekehlen, der mir plötzlich den nötigen Halt nahm.

„Ich ... brauchte nur mal ein wenig ... Gesellschaft", rettete ich mich gerade noch so, aber meine Stimme war hörbar heiser, nichts, was ich vor Wooyoung hätte verstecken können. Der wiederum sah mich sekundenlang einfach nur an, dann nickte er stumm und machte auf dem Absatz kehrt. Zurück kam er mit zwei Dosen Bier, von welchen er mir eine in die Hand drückte, bevor er mich ebenso schweigend und nur mit einer vagen Geste auf das Sofa beorderte.

Wir setzten uns, öffneten die Dosen, tranken und während ich noch die Getränkedose in den Händen drehte, hakte Wooyoung behutsam nach.

„Was ist los, Yunho? Was ist passiert?"

Durch meinen Kopf fegte ein Sturm. Das hier war niemals geplant gewesen. Ich war gefahren, ohne darüber nachzudenken und nun war ich hier gelandet, doch was brachte das? Ich konnte ihm nicht erzählen, was mich quälte, so sehr ich es mir auch gewünscht hätte. Trotzdem brannten tausende Worte wie Säure in meiner Kehle, aber das einzige, das am Ende aus mir hervorbrach war:

„Mingi."

Für einen endlos langen und schmerzhaften Moment hüllte uns eine Stille ein, die einfach alles verschluckte. Erst als ich erneut trank, dann mein Bier auf dem Tisch abstellte und einen Blick zu Wooyoung warf, wurde mir bewusst, dass nur ich in diesem Strudel der Stille feststeckte. Wooyoung wartete einfach nur darauf, dass ich eine weitere Erklärung geben würde.

„Wir ... haben gestritten", flüsterte ich tonlos.

Ein vorsichtiges Lächeln traf mich. „Kommt in den besten Familien vor, hm?"

„Ja ..." Ich nickte, denn er hatte natürlich recht, gleichzeitig knetete ich unruhig meine Hände und starrte verbissen auf meine Finger. „Ich ... Keine Ahnung. Bin wohl in keiner guten Verfassung."

Wieder wartete Wooyoung offenbar, ob ich weiterreden würde, doch als klar war, dass das nicht passieren würde, nickte er schwach und trank selbst von seinem Bier. „Ich nenne das Tagesform-abhängig", sagte er schlicht und stellte die Bierdose ebenfalls auf den Tisch. „Wir händeln dieselben Dinge nicht immer gleich. Und ... Die Sache ..." Man konnte förmlich hören, wie er versuchte, auszuloten, wie stark vermint das Terrain wirklich war. „Ich bin sicher, das wirkt noch nach."

Ich nickte heftig, sagte kein Wort, weil ich damit zu tun hatte, die Fassung zu wahren. Ob Wooyoung ahnte wie nah er an der Wahrheit war?

„Ich ... komme einfach nicht mehr an ihn ran", wich ich vorsichtig aus. Meine Stimme war heiser und irgendwie dünn. „Seitdem."

„Sei nicht so streng mit dir", wandte Wooyoung ein. „Jeder geht damit anders um."

Wooyoung konnte ja nicht ahnen, in welchem Wespennest er herumstocherte und ich wiederum konnte nichts sagen. Darum nickte ich auch nur, atmete tief durch und sah dabei weg. Meine Augen brannten, aber ich wusste, wenn ich dem jetzt nachgab, würde ich womöglich komplett einbrechen. Das durfte ich nicht!

„Ich will nicht mit ihm streiten", flüsterte ich und schüttelte dabei nachdrücklich den Kopf. „Das ist das letzte, was ich will. Ich will für ihn da sein. Aber dann stößt er mich wieder weg und ... Ich weiß nicht, was ich tun soll. Das macht mich fertig."

Wooyoung beugte sich vor, seine Hand berührte mein Knie. „Ganz ehrlich, Yunho. Ich will nicht so tun, als würde ich verstehen, was gerade bei euch los ist, aber ... Ich werde dich auch nicht ausfragen, wenn du es nicht erzählen willst, okay?"

Ich nickte, schniefte leise und hauchte „danke."

„Aber du kannst dich trotzdem bei mir auskotzen – über was immer du willst", fuhr er fort und tätschelte dabei leicht mein Knie. Unsere Blicke trafen sich und ich bemühte mich um ein Lächeln. Ich war ihm dankbar! Vor allem dafür, dass er nicht bohrte und fragte, trotzdem war seine Fürsorge, das schlichte Zuhören, gerade zu viel für mich. Ansatzlos brach ich in Tränen aus, vergrub das Gesicht in beiden Händen und rollte mich zusammen. Ich schämte mich für diesen Ausbruch, auch, weil ich wusste, dass ich Wooyoung damit in eine fürchterlich unangenehme Situation brachte. Was sollte er denn jetzt mit dem jämmerlichen Haufen anfangen, der ich geworden war?

Für einen kurzen Moment war es vollkommen still geworden, allein mein Schluchzen und Weinen war zu hören, dann rückte Wooyoung an mich heran und umarmte mich vorsichtig.

„Oh nein! Yunho ... komm her", murmelte er, strich über meinen Arm, tätschelte meine Schulter und drückte mich sanft. „Ist okay, hm?"

Aber nein! Gar nichts, war mehr okay. Mein Leben war zu einem beschissenen Albtraum mutiert und ich konnte rein gar nichts dagegen tun. Ich konnte nicht mal darüber reden!

„Was es auch ist, was dich gerade so aus der Bahn wirft, es kommt auch wieder ins Lot, okay? Yunho? Ich kann verstehen, dass es Momente gibt, die ..." Dann brach er ab, umarmte mich noch ein wenig fester und knurrte ein leises: „Ach, hör mir gar nicht zu. Ich rede nur dummes Zeug. Wenn es scheiße ist, ist es eben scheiße, und wenn weinen hilft ..."

Er plapperte wirklich dummes Zeug, zumindest reichte es, um mich kurzzeitig zum Lachen zu bringen. Jetzt heulte ich, lachte ich, schniefte ich, was für eine Mischung. Aber ich war dankbar für die Nähe, die er mir bot und nahm sie auch an. Vielleicht wurde mir in dem Moment erst so richtig bewusst, dass mir auch das gefehlt hatte. Jemand der mich in den Arm nahm, der mir zeigte, dass er sich um mich sorgte. Aber der Gedanke selbst schürte noch mehr Tränen, weil ich mir jetzt fürchterlich egoistisch vorkam.

Nach endlosen Minuten, in denen ich einfach nur geweint hatte, wie ein Kind, ließ der Druck auf meine Brust endlich etwas nach und ich beruhigte mich wieder. Etwas umständlich wollte ich mich aus Wooyoungs Zugriff befreien, was mir nur bedingt gelang. Zwar konnte ich den Kopf heben, aber noch hatte er mich im Griff, grinste jetzt schief, küsste meinen Scheitel bevor er stirnrunzelnd versuchte, die Tränenspuren von meinen Wangen zu wischen.

„Nicht", grummelte ich und fuhr mir erst mit der Hand, dann mit dem ganzen Ärmel durchs Gesicht, wohl auch so, wie Kinder es machten. Bestimmt war ich total verrotzt und eigentlich wollte ich nicht, dass er mich so sah, doch dafür war es jetzt definitiv zu spät.

Derweilen stand Wooyoung ohnehin auf und kam praktischerweise gleich mit einer ganzen Kleenexbox zurück. Ich bedankte mich, rupfte gleich mehrere Tücher aus der Kartonbox, um mein Gesicht zu säubern, bevor mir klar wurde, welche Box er mir gebracht hatte. Die im Bad war nämlich schwarz und glitzerte, wie das komplette Set an Badezimmer Accessoires bei ihnen.

Leidlich verlegen richtete ich mich auf, sah weg. Das war echt das Letzte, mit dem ich gerade konfrontiert werden wollte, aber Wooyoung schien mein Unbehagen anders zu bewerten. Schweigend stand er noch einmal auf, brachte die Kleenexbox wieder weg und ich sah ihm verkniffen nach, wie er sie ins Schlafzimmer trug, bevor er zurückkam und wieder neben mir Platz nahm. Am liebsten hätte ich jetzt gleich wieder geheult. Denn auch das war ein Punkt, den ich mir nur schwer eingestehen konnte und der mein schlechtes Gewissen schürte. Dass ich alles Vertraute und Intime zwischen Mingi und mir verloren hatte und keine Ahnung hatte, wie wir das wieder zurückbekommen sollten. Es spielte keine Rolle, was ich vermisste, der Gedanke, dass ich schäbig und selbstsüchtig war, zerstörte einfach alles.

Schließlich konnte ich endlich wieder normal atmen, richtete mich auf und griff nach meinem Bier. „Entschuldige", murmelte ich dabei. „Du musst dir keine Sorgen machen. Ich war einfach nur gerade etwas ..." eine vage Geste beendete den Satz für den ich keine Worte fand.

Emotional? Das reichte wohl kaum.

„Schon gut." Wooyoung wiegelte ab und rollte mit den Augen. „Glaubst du, ich habe noch nie geheult? Wegen mir, wegen San, manchmal ohne genau zu wissen warum eigentlich." Er schnaubte und wies dann auf mein Bier. „Willst du lieber was Stärkeres?"

Das lehnte ich ab. „Muss noch fahren."

„Du kannst auch eine Nacht hier pennen, wenn es hilft", meinte er und ich sah erschrocken auf. Jetzt erst wurde mir klar, in welche Richtung seine Gedanken tendierten. Aber so schlimm war es doch gar nicht, oder? Außerdem – ich konnte Mingi doch unmöglich allein lassen, ich musste ...!

„Nein, schon gut", rettete ich mich in ein dünnes und schiefes Lächeln. „Ich fahre nach Hause. Ich brauchte nur-"

„Das war keine Aufforderung zu gehen!", fuhr mir Wooyoung jetzt in die Parade. „Ich bin nur ein bisschen hin- und hergerissen, was ich mit dir tun soll. Ich ... würde so gerne helfen, aber ich glaube nicht, dass ich gerade sehr hilfreich bin."

„Doch, hier zu sitzen und mit dir zu reden ist schon hilfreich", versuchte ich zu erklären und nötigte mir ein weiteres Lächeln ab. „Erzähl mir einfach irgendwas. Was treibt San, was ist das für eine Fortbildung?"

Wooyoung lächelte, zog ein Bein auf die Couch und machte es sich bequem. „Okay", sagte er nur, schnappte sich sein Bier und begann dann zu erzählen. Wir quatschten also ein wenig über San, dann über Wooyoungs Arbeit, über meine und allmählich fühlte es sich wieder an wie früher. Wir alberten ein bisschen herum, lästerten über unliebsame Kollegen und frotzelten über unsere Chefs. Ich trank mein Bier aus und irgendwann stellte ich fest, dass ich mich richtig gut fühlte, gelöst irgendwie – und dass ich bestimmt zehn Minuten oder noch länger nicht an Mingi und unsere Probleme gedacht hatte.

Schmunzelnd sah ich zu Wooyoung. „Ich denke ich mache mich jetzt auf den Weg", sagte ich leise. Wooyoung nickte und grinste ebenfalls.

„Okay. Und wenn was ist, wenn du reden willst, wenn du noch ein Bier brauchst ..."

„Danke."

Er begleitete mich zur Tür, nochmal wurde ich gedrückt, dann machte ich mich endlich auf den Heimweg.

*

Ich trat durch die Tür und hörte leise Musik. Im ersten Moment war ich überrascht, dann folgte ich dem Geräusch und stand ein wenig verwundert im verwaisten Wohnzimmer. Auf dem Fernseher liefen Musikclips, eine angebrochene Chipstüte lag auf dem Tisch, daneben stand ein leeres Glas. Die Fernbedienung lag auf der Couch, gleich neben einer zerwühlten Kuscheldecke. Es sah aus, als wäre gerade noch jemand hier gewesen, doch von Mingi war keine Spur. Ich machte kehrt. Die Badezimmertür war angelehnt und kein Licht dahinter. Daraufhin schob ich vorsichtig die Schlafzimmertür auf und fand Mingi im Bett schlafend. Einen Augenblick stand ich in der halboffenen Tür, betrachtete ihn und versuchte meine Gefühle zu sortieren. Es mochte schon sein, dass ich in letzter Zeit oft genug wütend auf ihn gewesen war, dann wieder verunsichert und bedrückt. Gerade aber flutete mich ein unheimlich zärtliches Gefühl, wenn ich ihn dort so liegen sah. Eingerollt, die langen Beine angezogen, die Decke bis zu den Ohren, sodass nur noch ein strubbeliger dunkler Haarschopf oben herauslugte.

Leise schloss ich die Tür wieder, machte abermals kehrt und betrat das Wohnzimmer. Ich stellte den Fernseher aus, räumte den Müll und das Geschirr weg, löschte das Licht, bevor ich ins Bad trat. Ich ließ mir Zeit mit duschen und Zähneputzen, saß anschließend noch eine Weile in Schlafklamotten im dunklen Wohnzimmer und spielte mit meinem Handy, bevor ich doch entschied, ins Bett zu gehen.

So wie es aussah, hatte sich Mingi in der Zwischenzeit kein Stück bewegt und ich versuchte auszublenden, welche Möglichkeiten es dafür gab. Ich wollte mir nicht ständig Sorgen darüber machen, wie viel er trank oder ob er zu viele Tabletten nahm. Ich wollte ... nur ein Stückchen Normalität zurück.

Heute sollte ich sie bekommen, denn während ich so behutsam wie möglich unter die Decke kroch, wälzte sich Mingi mit einem leisen Ächzen herum, tastete verschlafen nach mir und schob dabei die Hand unter mein Shirt. Die plötzliche Berührung ließ mich fast versteinern, doch war es vermutlich nur ein Reflex, denn gleich darauf verrieten seine ruhigen Atemzüge, dass er wieder tief und fest schlief. Seine weichen Haare kitzelten mich am Kinn, seine Körperwärme übertrug sich auf mich und beides war so schön, so vertraut, dass wohl nicht viel gefehlt hätte, um mich erneut weinen zu lassen. Allerdings war ich selbst gerade zu müde, sodass mich das wohlige Gefühl hinüber in den Schlaf zog.

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