✧.* - Kapitel 12
Donnerstag, 05. Juni
Er war noch gar nicht richtig durch die Tür, da stand Yunho schon im Durchgang zum Wohnraum und lächelte ihn an.
„Hey", murmelte er nur, aber das allein zeugte schon davon, wie unruhig Yunho war, wie sehr er auf seine Rückkehr gewartet hatte und vermutlich auch, wie viel Hoffnung er in diese Entscheidung steckte.
Und irgendwie war Mingi bereits dieses eine Wort zu viel.
„Hey", gab er trotzdem zurück, wich seinem Blick aus und beschäftigte sich übertrieben lange mit seinen Schuhen, seiner Jacke, bis Yunho deutlich hörbar seufzte.
„Wenn ich dich nicht fragen soll, sag es einfach."
Da hob Mingi den Kopf, presste kurz die Lippen aufeinander und zuckte dann die Schultern.
„War okay", murmelte er dumpf. Was hätte er auch sagen sollen. Er hatte Glück gehabt, so schnell einen Termin zu bekommen, sicher, und die Therapeutin war nett, jung. Er fühlt sich schon wohl bei ihr. Es war auf alle Fälle besser, als ein Mann, er wollte nicht zu einem Mann. Und was immer er erwartet hatte, es hatte sich anders angefühlt. Nein, er ... eigentlich hatte er nichts erwartet, nicht wirklich. Warum hatte er sich dann überhaupt dazu entschlossen, eine Therapie zu versuchen? Nun, hauptsächlich, weil er Angst hatte, vor dem was gerade mit ihm passierte. Weil er das Gefühl hatte sich selbst zu verlieren und überhaupt keine Möglichkeit sah, das irgendwie zu stoppen.
Und vielleicht auch ein bisschen wegen Yunho. Weil er doch sah, welche Sorgen er sich machte und sich wünschte, er könnte irgendwas dagegen tun. Nun also, deswegen hatte er den Versuch unternommen. Yunho schien auch ein wenig erleichtert zu sein, aber womöglich war seine Erwartungshaltung zu hoch.
„War sie nett?", fragte er jetzt vorsichtig.
Mingi nickte stumm.
Da seufzte Yunho wieder. „Und denkst du ... du gehst nochmal hin?"
Sollte er ehrlich sein? Dann hätte er jetzt womöglich die Schultern gezuckt, dann besann er sich jedoch und nickte erneut, sah auf und fiel Yunho rasch ins Wort, bevor dieser weiter fragen konnte.
„Ich muss das noch ein bisschen sacken lassen, okay? Können wir vielleicht ... einfach nur essen und uns über was anderes unterhalten?"
„Sicher." Nun stieß sich Yunho endgültig vom Türrahmen ab, kam zu ihm und schlang die Arme um seinen Nacken, eine Hand streichelte behutsam in Mingis Haaransatz.
„Ich will dich nicht nerven."
„Ich weiß", murmelte Mingi.
„Und ich will, dass es dir gutgeht."
Wieder antwortete er „ich weiß" und nickte dabei leicht.
„Und ...", Yunhos Blick glitt von seinen Augen kurz über seine Haare und kehrte dann zu diesen zurück. „... ich liebe dich."
Da musste Mingi schmunzeln und sah weg. Er nickte, schwieg aber, weil es ihn gerade seltsam befangen machte. Es war schwer, das einfach so anzunehmen und er fand keine Worte, um zu erklären, warum das so war.
„Okay." Yunho schien ihm seine magere Reaktion nicht übelzunehmen, denn seine Hand berührte liebevoll Mingis Wange und er hauchte ihm einen Kuss auf die Lippen. „Du kannst dich in Ruhe frisch machen, umziehen, was auch immer, ich habe schon angefangen."
„Ich helfe dir", sagte Mingi stattdessen und jetzt wurde Yunhos Lächeln ein bisschen breiter.
Wenig später standen sie zusammen an der Küchenzeile, arbeiteten schweigend Hand in Hand und von Zeit zu Zeit legte Mingi seinen Kopf auf Yunhos Schulter, woraufhin dieser ihn mit kleinen Häppchen fütterte. Etwas, das so alt und vertraut war, dass Mingi schwach lächelte, weil seine Anspannung endlich von ihm abfiel und er sich zum ersten Mal an diesem Tag ein wenig ruhiger fühlte.
Leider hielt das nicht an und nach dem Essen, als sie zusammen auf dem Sofa saßen, er in Yunhos halber Umarmung und körperlich so ausgelaugt, dass er sich gar nicht bewegen wollte, drehten sich in seinem Kopf schon wieder Gedankenspiralen, die ihn grübeln und sich nicht stoppen ließen.
Dabei war er selbst es gewesen, der gemütlich auf der Couch hängen, wie ein altes Ehepaar vorgeschlagen hatte. Zum einen natürlich, weil er sich weniger bedrängt fühlte, ein Gespräch zu führen, wenn der Fernseher lief und zum anderen auch, weil er die unschuldige Nähe zu Yunho genoss. Er wollte in den Arm genommen und beruhigt werden, einfach nur gehalten werden und sich in dieses Gefühl fallen lassen, auch wenn es schwer war.
Aber es funktionierte nicht. Eine Weile schaffte er es, den Grübelkreisen nicht allzu viel Raum zu geben, dann waren sie alles, was noch existierte. Er konnte spüren, wie er von Minute zu Minute unruhiger wurde, bis er es einfach nicht mehr aushielt und aufstand. Fürs erste schlurfte er nur ins Bad, starrte in den Spiegel, wusch sich die Hände, legte die nassen Finger in den Nacken, starrte erneut. Nur konnte er sich natürlich nicht die ganze Zeit im Bad einsperren, weil Yunho dann misstrauisch werden würde.
Auf dem Rückweg blieb er am Kühlschrank stehen, riss diesen auf und starrte hinein.
„Willst du ein Bier?"
„Nein", kam es von Couch her und Mingi verzog unwillig das Gesicht, wenn er sich selbst jetzt eins mitnahm, erntete er ganz sicher wieder diese Blicke, die besagten ‚ich weiß genau, was du tust und ich finde es nicht gut'. Yunho würde nichts sagen, soweit war es noch nicht. Denn Yunho war ein geduldiger Mensch, einer der sich etwas ganz lange ansah und gründlich überlegte, bevor er seine Meinung dazu kundtat, vor allem, wenn sie nicht so nett ausfallen würde.
Also kehrte Mingi ohne Bier zur Couch zurück, setzte sich und schmiegte sich sogar zurück in die wärmende Umarmung, auch wenn gerade alles in ihm unzufrieden vibrierte. Womöglich ruckelte er auch zu viel herum, denn mittendrin strich Yunhos Hand behutsam über seinen Arm.
„Äffchen, was ist los, hm? Alles okay?" Ein Kuss wurde in seine Haare gehaucht und Mingi rutschte seufzend ein Stück tiefer.
„Ja", raunte er schließlich, auch wenn es nicht die Wahrheit war. „Vielleicht sollte ich einfach ..." Er richtete sich wieder auf. „Vielleicht gehe ich einfach ins Bett. Ich bin irgendwie wie erschlagen."
Vor wenigen Wochen hätte Yunho daraufhin belustigt geschnaubt, auf die Uhr gesehen und ihn mit hochgezogenen Augenbrauen angesehen. Jetzt schon? Es ist gerade mal neun. Aber heute nickte er nur, strich ihm durch die Haare und hauchte ihm einen Kuss auf die Schläfe.
„Okay. Gehst du allein? Ist das in Ordnung?"
Wortlos bejahte Mingi, wand sich ein wenig linkisch aus seiner Umarmung und stand auf. Er schlurfte ins Schlafzimmer und fühlte sich schlecht. Er kroch allein unter die Decke und fühlte sich schlecht. Er starrte an die dunklen Wände und fühlte sich schlecht.
Er konnte auch nicht wirklich einschlafen, nickte nur immer wieder kurz ein, bevor der Ansatz eines Traums, ein Geräusch von draußen oder von der Straße, ihn wieder zurückholten. Auch als Yunho ins Bett kam, war er noch wach, rührte sich jedoch nicht und rollte sich weiter ein, als er spürte wie Yunho die Decke über ihnen zurechtzog und so weit an ihn heranrückte, wie er es wohl wagte.
Ja, das hatte sich spürbar verändert und das tat weh. Dass Yunho immer zögerte, immer vorsichtig auszuloten versuchte, wo die Grenze war, die er nicht überschreiten durfte. Im Grunde wusste er auch, dass das keine böse Absicht war, dass er ihm nur Raum geben wollte, aber manchmal war es eben zu viel Raum und dann tat es weh. So wie heute.
Mingi war auch bewusst, dass er selbst es jederzeit hätte beenden können, dass er sich nur zu ihm hätte drehen müssen und Yunho bitten, ihn festzuhalten, aber er konnte nicht. Also lag er still auf seiner Seite, starrte erneut in die Dunkelheit, atmete dabei so ruhig und leise wie möglich, während er darauf lauschte, dass Yunho einschlief.
Das ging überraschend schnell, fand Mingi. Ob er tatsächlich einfach nur so müde war, oder waren es die anderen Dinge, die ihm jede Energie raubten?
So vorsichtig wie möglich drehte sich Mingi um, betrachtet Yunhos Gesicht, das ihm zugewandt war und seufzte innerlich. Was hatte das alles aus ihnen gemacht? Zwei kaputte Typen, die sich kraftlos durch den Tag schleppten und dann in einen halbkomatösen Schlaf fielen - wenn sie schlafen konnten. Und er konnte es nicht, deswegen schälte er sich nahezu lautlos aus der Decke, stand auf und schlich sich aus dem Zimmer. Yunho erwachte nicht.
Er hatte das nicht geplant, wirklich nicht, es war mehr so eine spontane Entscheidung gewesen. Aber dreißig Minuten später stand er in Jeans und Pulli, in Turnschuhen und mit Cap auf der Straße und marschierte einfach los.
Er hatte kein Ziel, noch nicht mal eine Idee und die nächtlichen Straßenzüge wirkten so fremd, dass die Angst sonderbarerweise vollkommen in den Hintergrund rückte. Er fühlte sich, als wäre er ein Reisender, während er wahllos mal links, mal rechts abbog. Fremd in einer namenlosen Stadt, es gab niemanden, der ihn kannte, niemanden, der ihn erwartete, er war ... unsichtbar! Und genau so bewegte er sich auch, sah niemanden an, sprach mit niemanden, lief nur immer weiter, bis ein blinkendes Licht ihn auf einen kleinen geöffneten Store aufmerksam machte. Also ging er hinein, kaufte sich was zu trinken - Alkohol, natürlich - weil es ihm gerade scheißegal war, wie das aussah, wenn er auf die Straße trat und sofort die Flasche öffnete und trank. Weil ihn ohnehin niemand sehen konnte, richtig? Weil er unsichtbar war.
Aber je mehr er trank, desto sichtbarer wurde er! Und es war ein gutes Gefühl, tatsächlich! Er war nicht mehr gespalten, eine leere Hülle und ein gefangener Geist, nein, jetzt war er wieder eins, konnte atmen, konnte die kühle Luft spüren, wenn er die Arme ausbreitete, während er weitertrottete, die Flasche leerte, sie entsorgte und weiterlief. Es gab Leute die ihm auswichen, obwohl er sie breit angrinste - oder weil er sie breit angrinste - und fast hätte Mingi gelacht über ihre angewiderten Blicke. Sie waren dumm, alle dumm, hatten keine Ahnung, dass alles gut war, jetzt endlich. Dass es keinen Grund gab, so dumm zu glotzen oder die Nase zu rümpfen, weil sie diejenigen waren, mit den scheiß-kleinlichen Leben und er ...
Da brach es ein.
Er bog in eine kleine Gasse ein, die schlecht ausgeleuchtet war, machte noch ein paar Schritte und blieb stehen. Es war dunkel, die Umrisse in der Finsternis zu verwaschenen Schemen zerflossen, die sich urplötzlich vor ihm auftürmten, wie drohende Wolkenberge, kurz vor einem Sturm.
...weil er derjenige war, dessen Leben gerade hochgewürgt und ausgekotzt worden war.
Die Tränen kamen ohne Vorwarnung, rissen ihm den Boden unter den Füßen weg und ließen ihn leise schluchzend gegen die Mauer taumeln. Für eine ganze Weile lehnte er genau dort, hatte die Hände vorm Gesicht und weinte stumm, bevor er sich so weit gefangen hatte, dass er seine Umgebung überhaupt wieder wahrnahm.
Dann sah er sich um und jetzt schlug alles gleichzeitig zu. Er wusste nicht wo er war, Schatten bewegten sich am Eingang der Gasse und die Angst summte wie ein wütendes Insekt in seiner Brust. Als einer der Schatten sich in die Gasse und auf ihn zu bewegte, weitete sich das Summen bis in seinen Kopf aus. Aus Angst wurde nackte Panik, die ihn regelrecht lähmte, ihm die Kehle zuschnürte, sodass er hilflos an der Wand lehnte und pfeifend nach Atem rang, während der fremde Schatten sich näherte. Sein Herz wummerte wie verrückt, jeder einzelne Schlag rauschte in seinen Ohren und jetzt prasselten auch alle anderen Eindrücke auf ihn ein. Leise Musik von irgendwoher, schrilles Gelächter, das ganz unwirklich klang. Autohupen, viel zu weit weg. Die Nachtluft roch frisch, hatte aber eine unangenehme säuerlicher Note, die aus einer der Gassen drang. Und die immer schneller werdenden Schritte, die direkt auf ihn zuhielten.
Erst als die Person nah genug war, erkannte Mingi, dass es lediglich eine ältere Frau war, die ihn jetzt misstrauisch beäugte, dann sogar zur Seite auswich und extra schnell an ihm vorbeitippelte. War es nicht ein Hohn, dass sie Angst vor ihm hatte, wo er keine Luft mehr bekam, weil allein ihr Schatten ihn so in Panik versetzt hatte, dass jede Realität wie ausradiert war?
Doch jetzt wo er sie beobachtete, wie sie an ihm vorbeilief, dabei die Schultern hochzog und gleichzeitig ein Mobiltelefon zückte, schaffte er einen stockenden Atemzug, dann noch einen zweiten und schließlich wurde es leichter. Er atmete ein paar Mal tief durch, rutschte dabei an der Mauer entlang zu Boden, während er mit zitternden Fingern sein Handy herausholte und die Kurzwahl betätigte.
Es läutete vier Mal, bevor ein völlig verschlafener Yunho ihm ein raues „Ja?", ins Ohr hauchte, dicht gefolgt von einem bereits deutlich wacherem: „Mingi?!"
Da wollte er am liebsten wieder weinen, schaffte es aber die Tränen hinunterzuschlucken.
„Kannst du mich bitte holen?"
„Was?!", wurde es jetzt. „Mingi? Was ...? Du ... Wo bist du?" Und die restlichen Worte flogen einfach an ihm vorbei. Das Handy rutschte ihm aus den zitternden Fingern in den Schoß und erneut verbarg er das Gesicht in beiden Händen. Nicht weinen, er durfte jetzt nicht wieder weinen, er hatte das Gefühl, er würde nie wieder damit aufhören können, wenn er jetzt nachgab, also atmete er tief durch, raufte sich die Haare und griff dann erneut nach seinem Handy. Die Verbindung war unterbrochen, aber eine Nachricht war aufgeploppt.
Bleib wo du bist. Bin unterwegs.
Krampfhaft umklammerte Mingi das Telefon. So fest, dass er glaubte, es würde jeden Augenblick knackend in seinem Griff zerspringen. Er musste nur noch einen kleinen Moment durchhalten. Ein bisschen noch aushalten, dann wäre es vorbei.
Tatsächlich war Yunho innerhalb kürzester Zeit da, auch wenn es sich für Mingi anfühlte, als hätte er Stunden gewartet. Und wie er aussah! Da hatte Mingi bereits ein schlechtes Gewissen und erneut drängten Tränen nach oben, die er nun energisch wegwischte.
„Ah shit", zischte er außerdem, doch da fasste Yunho bereits nach seinem Handgelenk.
„Alles okay?" Seine Stimme zitterte, etwas, das er nicht verbergen konnte. „Geht's dir gut, ist-"
„Alles gut", nuschelte Mingi, ließ sich auf die Beine ziehen und lehnte sich dann aufatmend in Yunhos Umarmung. „Ich hatte nur plötzlich Panik", raunte er dumpf gegen dessen Schulter. „Ich weiß auch nicht und dann ..."
Womöglich gab es hierfür aber auch keine Erklärung oder es brauchte keine, denn Yunho nickte nur stumm, rieb sanft über seinen Rücken, bis Mingi wieder etwas ruhiger atmete, dann nahm er ihn an der Hand und zog ihn sanft mit sich.
„Komm", hörte er. Sehr ruhig und leise. „Gehen wir nach Hause."
Im Auto fühlte sich Mingi wieder sicher und auch wenn die Fahrt wirklich nur ein paar Minuten dauerte, war er dankbar, dass Yunho mit dem Wagen gekommen war, er wusste nicht, ob er es geschafft hätte, die Strecke zu laufen. Die Fahrt verlief in einvernehmlichem Schweigen, oder womöglich war es auch nur die Ruhe vor dem Sturm, weil Yunho einfach nur heimwollte um diese Zeit. Mingi wusste es nicht und er sprach es auch nicht an, sah nicht hin, gar nichts. Er wollte nach Hause, einfach nur weg, am besten vor sich selbst fliehen.
Doch so einfach war das nicht.
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