✧.* - Kapitel 10
Samstag, 17. Mai
Nach zwei weiteren Wochen hatte sich so etwas wie Routine bei uns eingeschlichen. Vieles war wie früher, einiges hatte sich deutlich verändert, manches so sehr, dass es unverkennbar war, dass wir nicht einfach so an unser Leben anknüpfen konnten, wie wir es wollten.
Meine Mutter hatte uns einmal unangekündigt besucht und Essen mitgebracht, wie sie es eigentlich immer tat, wenn sie vorbeikam. Vielleicht war das so ein Mütter-Ding, dass sie immer dachte, ich würde demnächst den Hungertod sterben, wenn ich nicht regelmäßig mit heimischer Kost versorgt wurde. Es war ein kurzer und sehr anstrengender Besuch, bei dem Mingi sich sehr bemühte, so höflich und still wie immer zu sein, während meine Mutter, wie üblich, so tat als würde sie nicht wissen, dass es hier nur ein Schlafzimmer gab und er mehr als nur mein Mitbewohner war. Das Kuriose war ja, dass sie Mingi unheimlich gerne mochte, das sah man und spürte man in jeder Geste, nur wäre es ihr eben lieber gewesen, wenn meine Gefühle für ihn die ihren nicht überstiegen hätten.
Zum Abschied gab es die Ermahnung an uns beide, dass wir auf uns aufpassen sollten und vielleicht war da was in ihrem Blick, das Bedauern und Sorge doch recht nahe kam. Ich hatte mich oft gefragt, ob wir je offen darüber würden reden können und bis heute keine Antwort darauf gefunden. Meine Mutter war sehr konservativ und zurückhaltend, womöglich war eine offene Aussprache einfach zu viel für sie.
Was meinen Vater betraf, lautete die Antwort darauf eindeutig nein. Auch er wusste es, davon war ich überzeugt, wie ich ebenso sicher war, dass er niemals mit meiner Mutter darüber gesprochen hatte. Das waren Dinge, die er lieber stillschweigend vom Tisch wischte und im besten Fall – so wie bei mir – höflich, aber distanziert ignorierte. Mit ihm telefonierte ich also nur und von meinem kleinen Bruder erhielt ich sporadisch Nachrichten, aber der steckte ja auch in einem amerikanischen Elite-Internat und ich würde ihn wohl erst wieder sehen, wenn er in den nächsten Ferien nach Hause kam.
Wir arbeiteten beide wieder, waren also regelmäßig im Büro und in jeder freien Minute dazwischen hockte Mingi tatsächlich am Schreibtisch und versuchte aufzuholen, was er in der Uni verpasst hatte.
Zum Wochenende fand ich, dass wir uns eine kleine Auszeit verdient hatten und endlich erklärte sich Mingi dazu bereit, unsere Freunde zu treffen. Wir hatten sie so lange vertröstet, dass sie natürlich längst misstrauisch geworden waren, was denn nun passiert sei, dass wir uns so abschotteten. Als ich nun endlich zusagte und einen Abend bei uns zuhause vorschlug, wie wir schon unzählige verbracht hatten, fühlte es sich wirklich normal an.
Davor wollte Mingi, dass ich ihm die Haare färbte, weil der blonde Schopf mittlerweile einen deutlichen dunklen Ansatz hatte und Mingi das schon immer als ungepflegt eingestuft hatte. Ich durfte außerdem nur dann an seine Haare, wenn er sie wieder dunkel, seiner Naturhaarfarbe entsprechend, haben wollte. Zum Abend sah er also wieder aus, wie damals, als ich ihn kennengelernt hatte. Mit dunklen Haaren, die ihn tatsächlich jünger wirken ließen, als er war, ein bisschen wild, ein klein wenig zu lang, aber absolut liebenswert.
Und er wirkte entspannt. Pizza, irgendein lauter Actionfilm, das klang gut, wie er meinte und kurz bevor Wooyoung und San auftauchten, leuchteten seine Augen und er schien sich ehrlich zu freuen.
Dass die beiden dann wie ein Tornado durch die Tür fegten – San vor allem – und ihn fast umrissen, war wieder etwas anders. Sie hatten alles dabei, Bier, Soju, Knabberzeug, ich schüttelte den Kopf.
„Ich dachte wir wollten Pizza und Film gucken?"
„Auch", erklärte San grinsend, setzte sich dann aber mit ernster Miene zu Mingi, der ein wenig verloren auf der Couch kauerte. Ein paar Minuten ließ ich ihm die Fragen, die unweigerlich kamen, durchgehen, dann wollte ich gerade eingreifen, als Wooyoung meinen Blick kreuzte, noch in derselben Sekunde San an der Schulter packte und recht grob nach hinten riss.
„Jetzt hör schon auf, lass ihn wenigstens atmen."
„Ist okay", raunte Mingi, aber man konnte ihm ansehen, dass es eben gar nicht okay war und endlich schien das auch San aufzufallen. Jetzt war er reumütig, entschuldigte sich und sprang auf. Zurück kam er mit der ersten Runde Bier, hielt eine der Flaschen fragend Mingi hin und der griff stumm danach.
Ich versuchte das zu ignorieren.
So wie ich zu ignorieren versuchte, dass er – als wir gerade erst mit der Pizza angefangen hatten – schon bei der zweiten Flasche war und auch nicht nein sagte, als die erste Runde Soju-Gläschen eingeschenkt wurde. Genau genommen hielt er für seine Verhältnisse recht robust mit und das gefiel mir so gar nicht. Oder fiel es tatsächlich nur mir auf, dass er im Grunde weit mehr trank, als jeder einzelne von uns? Was zur Hölle hatte er vor? Wollte er sich abschießen? Warum? Was war los? War ihm das alles zu viel? Dann verstand ich nicht, warum er überhaupt zugestimmt hatte.
Drüben auf dem breiten Sessel kauerten Wooyoung und San zusammen auf den Sitz gequetscht halb aufeinander und ich bekam aus den Augenwinkeln mit, wie sie sich immer wieder berührten, küssten, miteinander tuschelten und jede Menge Zärtlichkeiten austauschten.
War es das?
Mingi lehnte an meiner Seite, hielt die Hand krampfhaft mit meiner verschränkt und starrte so demonstrativ auf den Fernseher, dass er noch nicht mal darauf reagierte, wenn ich mich bewegte.
Fühlte er sich unter Druck gesetzt? War es ihm schlicht unangenehm? Oder weckte es womöglich ganz andere, düstere Empfindungen?
Beim nächsten Kichern vom Sessel her, streckte ich mich und trat in die Rückenlehne. „Ey Leute, ernsthaft, nehmt euch ein Zimmer, okay? Macht das nicht auf meinem Sofa."
San zog kichernd den Kopf ein, Wooyoung ebenfalls, dann schnaufte er leise. „Sorry, wir sind ganz brav. Versprochen."
Noch mehr Kichern.
„Aber San hat..." Er drehte sich halb herum, hing damit fast über die Rückenlehne und grinste uns breit an. „Soll ich euch erzählen, was der Idiot- Au!" Er schlug nach San und der quietschte.
„Dann hör auf!"
„... also. Soll ich euch erzählen, was dieser versaute Drecksack- Auuaaa! Spinnst du?!"
„Wehe du erzählst das!", schnappte San. „Ernsthaft Hase, wenn du nicht sofort die Klappe hältst!"
„Und wenn du mich noch einmal Hase nennst!"
San feixte. „Tu ich doch immer."
„Ja, daheim."
„Im Bett", ergänzte San, duckte sich wohlweislich, denn prompt zog ihm Wooyoung erneut eine über.
Mingis Hand in meiner fühlte sie kalt und feucht an. Das war eindeutig kein gutes Thema.
„Leute!", unterbrach ich die beiden wieder. „Müssen wir nicht wissen – tmi – treibt was immer ihr wollt, aber nicht auf meiner Couch – klar?"
Meine Deeskalationsversuche liefen ins Leere, denn noch während Wooyoung ein „sei nicht so ein Spießer" raushaute, riss sich Mingi von mir los, sprang auf und stürmte aus dem Raum.
Wooyoung und San sahen ihm irritiert nach und drehten sich dann zu mir um.
„Sorry", raunte San reumütig. „Ich wollte nicht..."
Ich winkte ab. „Schon gut. Mingi ist..." Wie sollte ich das verpacken? „Einfach noch ein bisschen gestresst. Die Sache und der ganze Kram mit der Polizei, die Uni und halt jetzt wieder in der Arbeit. Ihr kennt ja seinen Onkel ..."
„Ja, der Arsch", brummelte Wooyoung. „Verstehe sowieso nicht, wie er es immer noch dort aushalten kann." Dann seufzte er. „Hey sorry, wenn das jetzt zu ..." Eine vage Geste beschrieb, dass er ebenso wenig Worte dafür hatte, wie ich.
Glücklicherweise kam in dem Moment Mingi zurück und die beiden rutschten recht schuldbewusst wieder in ihrem Sessel zusammen.
„Will noch jemand was trinken?", riss San das Ruder an sich.
Mingi war der Erste, der antwortete.
„Ja."
Bis San und Wooyoung sich verabschiedeten sah unser Wohnzimmer aus wie ein Partyschlachtfeld und Mingi war auf einem Level, wie ich ihn echt noch nie gesehen hatte. Einfach nur zu sagen, er wäre betrunken gewesen, wäre wohl die Untertreibung schlechthin gewesen, denn er war so absolut breit, dass ich Mühe hatte, zu ihm durchzudringen. Dabei war das desaströse Bündel, das halb im Delirium auf der Couch lag, noch das kleinere Übel.
Irgendwie brachte ich ihn auf die Beine, schleifte ihn ins Schlafzimmer, weil es überhaupt keinen Sinn hatte, ihn für irgendwelche normalen Aktionen, wie womöglich Zähneputzen, ins Bad zu schaffen, und verfrachtete ihn dort ins Bett. Ausziehen wurde zu einer recht sportlichen Trainingseinheit, denn wie sollte man einen Kerl seiner Statur mal eben schnell aus den Klamotten bringen, wenn sich eben jener Kerl ständig herumwälzte, ächzte und stöhnte und unkontrolliert strampelte oder mit den Armen ausholte. Ich fing mir also den ein oder anderen Tritt und Schlag ein, hatte einmal mehr einen guten Blick auf die verblassenden Spuren und versuchte so gut es ging nicht hinzusehen.
Auch jetzt war Mingi mehr oder weniger hilflos und ich verdrängte die Gedanken, wie es in dieser Nacht gewesen sein musste. Warum tat man einem anderen Menschen so etwas an? Was ging in ihren Köpfen vor? Nein, ich wollte es mir gar nicht vorstellen. Sanft strich ich über sein Bein, da rollte sich Mingi seufzend herum und beinahe um mich zusammen.
„Mach Platz", murmelte ich leise. „Lass mich auch noch her."
Ein leises Wimmern antwortete mir.
„Baby?"
„Mir ist schlecht." Seine Stimme war weinerlich und er kroch noch näher heran.
„Ist ja kein Wunder", antwortete ich seufzend, rückte im Sitzen zu ihm und bettete seinen Kopf auf meine Beine. „Musst du dich übergeben?"
Jetzt schnaufte er, schüttelte erst den Kopf, zuckte dann die Schultern und jammerte wieder. „Ich weiß nicht."
Eine halbe Stunde später wussten wir es besser, denn da lag Mingi auf Knien vor der Toilette und würgte sich die Seele aus dem Leib, während ich danebenkauerte, die Spülung betätigte, ihm das Gesicht mit einem feuchten Handtuch säuberte und hernach das zitternde Bündel in meinen Armen hielt, das schwer und völlig kraftlos auf mir hing.
Und er weinte. Nahezu lautlos und so herzzerreißend, dass es mir die Kehle zuschnürte.
„Ich will, dass es aufhört", schluchzte er mittendrin. „Kannst du bitte machen, dass es aufhört?"
Ich hatte keine Ahnung, wovon er sprach.
„Alles ist kaputt", wurde es nun. „Ich, mein Kopf, mein Leben. Alles. Ich will einfach, dass es aufhört."
Er machte mir Angst in diesem Moment und wahrscheinlich wurde meine Umarmung daraufhin noch eine Spur fester, weil meine eigene Angst, ihn auf die ein oder andere Weise verlieren zu können, plötzlich so viel Raum forderte.
Ich konnte nichts tun, ich konnte nur da sein, aber vielleicht reichte das auch in dieser Nacht, denn nachfolgend sprach er zum ersten Mal all das aus, was er bisher verschwiegen hatte. Er stammelte, weinte, flüsterte und ich erfuhr, dass er beinahe jede Nacht Albträume hatte, die ihn aus dem Schlaf rissen, ganz gleich ob er sich an den Inhalt erinnerte oder nicht. Dass er andere Menschen, selbst seine Arbeitskollegen, kaum in seiner Nähe ertragen konnte und von der Angst schier aufgefressen wurde, wenn er in die Archivräume in den Keller geschickt wurde. Dass er manchmal kaum atmen konnte und an anderen Tagen nicht wusste, wie er heimgekommen war, weil alles wie weggewischt war. Dass er sich eklig und dreckig fühlte, selbst nach einer Dusche und manchmal schreien wollte, wenn ihn jemand berührte, auch wenn es vielleicht nur ein Schulterklopfen war. Daraufhin lockerte ich meine Umarmung etwas, weil ich glaubte, dass ich auch dazu beitrug, aber Mingi umklammerte mich fester und rückte noch ein Stückchen heran.
„Nicht", flüsterte er, „lass mich nicht los, bitte. Ich weiß nicht, was mit mir geschieht und ich weiß nicht, wohin ich gerate, wenn du mich auch noch loslässt."
Auch noch?! Sanft kraulte ich in seinen Haaren und küsste ihn auf den Scheitel.
„Aber Äffchen", murmelte ich dabei. „Niemand lässt dich los, am wenigsten ich. Wir wollen dir doch nur helfen. Ich will. Und ich weiß, ich mache alles Mögliche falsch und bin manchmal so ..." Seufzend brach ich ab. „Aber ich gehe nicht weg, okay? Und ich lasse dich auch nicht los."
Langsam strich ich über seinen Rücken, spürte dabei, wie Mingis Finger sich in meine Seite bohrten und schloss die Augen. Ich wünschte mir wirklich, ich könnte irgendetwas tun, um zu helfen, wusste aber nicht was.
„Kannst du dich an irgendwas erinnern?", fragte ich schließlich in die Stille hinein. Zunächst schüttelte Mingi den Kopf, seufzte dabei leise, dann ruckelte er unruhig herum.
„Ich bin nicht sicher. Wenn – manchmal sind da so bestimmte Dinge. Letztes Mal im Büro, jemand hat gelacht, draußen auf dem Flur und irgendwas war an diesem Lachen, das ... Plötzlich wurde mir ganz seltsam und dann hab ich keine Luft mehr gekriegt und ich bin rausgerannt und ..."
In mir schrillten alle Alarmsirenen. „Das war im Büro?" Ich versuchte ruhig zu atmen. „Ich meine, glaubst du etwa ...? Denkst – nein, anders. Hast du das Lachen wiedererkannt, meinst du das? War es jemand, mit dem du an jenem Freitag aus warst?"
„Nein." Mingi schüttelte den Kopf. „Ich sag auch nicht, dass ich das Lachen erkannt habe, nur dass es irgendwas mit mir gemacht hat."
„Okay, vielleicht bedeutet das auch nur, dass deine Erinnerungen doch zurückkommen. Dr. Kim meinte doch, dass das durchaus sein kann, hm? Und – ich meine – jede Einzelheit hilft, oder? Womöglich ist es gut, wenn du-"
„Ich habe Angst", unterbrach mich Mingi leise. „Ich habe Angst davor, mich zu erinnern."
Das konnte ich verstehen, aber bei seinen nächsten Worten wurde mir kalt.
„Was, wenn sich dann rausstellt, dass ich..."
„Was?"
„Nichts." Sein Griff lockerte sich deutlich und er drehte sich ein Stück weg. „Nichts, ich ... weiß nur nicht, ob ich mich überhaupt erinnern will."
„Aber Mingi ..."
Nein, der Augenblick der offenen Worte war offenbar vorbei, denn er wand sich aus meiner Umarmung, richtete sich etwas auf und saß dann mit hängenden Schultern vor mir.
„Das ist so eklig", flüsterte er. „Ich. Wahrscheinlich stinke ich wie eine Mülltonne, es tut mir leid, Babe."
„Muss es nicht. Alles okay." War es nicht. War es auf jede erdenkliche Weise nicht, aber für den Moment mussten all die kleinen, gesammelten Splitter reichen, in denen doch etwas okay war.
Mühsam rappelte ich mich auf, reichte ihm die Hand und zog ihn ebenfalls in die Höhe, bevor ich das Bad verließ, nicht ohne mich zu vergewissern, dass er klarkommen würde. Dazu nickte Mingi, schnappte sich dann seine Zahnbürste und ich schloss die Tür hinter mir.
Wenig später krabbelte er auf seine Bettseite, schlüpfte unter die Decke und robbte an mich heran.
„Kannst du mich halten?"
Natürlich konnte ich, drehte mich schmunzelnd in seine Richtung und zog ihn an mich heran. Ich hörte Mingi leise seufzen. Wahrscheinlich schliefen wir beide noch eine ganze Weile nicht, aber keiner von uns beiden regte sich mehr, noch sprachen wir ein Wort.
Am nächsten Morgen ergab sich aus dieser aufreibenden Nacht zumindest ein wichtiger, kleiner Schritt. Mingi erklärte endlich von sich aus, dass er vielleicht doch Hilfe brauchte und stimmte meinem Vorschlag zu, zusammen nach einem geeigneten Therapeuten zu suchen.
Wie notwendig dieser Schritt war, zeigte sich bereits einige Tage später, als Inspektor Park sich meldete und verkündete, dass Mingis Handy gefunden worden war.
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