9. Dezember

„Direkt unter unserer Nase ist er verschwunden!“, echauffierte sich Alan, schlug aufs Lenkrad und traf er die Hupe, womit er sich einen bösen Blick seiner Beifahrerin einfing.

„War 'n Versehen“, beteuerte er. Schnaubend rückte sie in ihrem Sitz näher ans Fenster.

„Können wir das noch mal rekapitulieren?“, fragte er. Kylie schüttelte den Kopf. „Solange wir keine neuen Informationen haben, bringt das nichts. Wir haben das schon dreimal gemacht.“
Gedankenversunken trommelte Alan auf dem Lenkrad herum. Er meinte:„Es ist nur so, dass ich das Gefühl nicht loswerde, wir hätten irgendwas übersehen.“

Kopfschüttelnd drehte sich Kylie zum Fenster. Sie wollte diese Konversation nicht schon wieder führen. Alan atmete leise aus, wobei sich seine Schultern ein wenig entspannten. „Finn war schon ziemlich naiv“, lenkte er ein, „vermutlich wurde er deswegen entführt.“ Kylie verzog das Gesicht und sah ihrem Partner in seines. Ihr Blick war skeptisch.
Nach einem kurzen Seitenblick fragte er sie: „Denkst du etwa immernoch, dass er abgehauen sei, weil wir ihn befragt haben?“

Bevor sie antworten konnte, protestierte er: „Er ist erst 15 Stunden später rausgegangen, laut seinem Betreuer. Das ist doch nicht direkt danach, er ist sicher unschuldig!“

Man sah Kylie an, wie sie sich fühlte: als würde sie mit einem Kleinkind diskutieren. Sie erklärte Alan erneut, dass es nur logisch sei, dass der Grund für sein Verschwinden die Angst vor Konsequenzen sei. „Er ist sicher schuldig“, schloss sie.

„Aber der Arme ist doch nur ein Waise ohne Freunde. Kylie, sei doch nicht so hart zu ihm“, bat Alan.

Kylie sagte nichts. Sein Glaube in eine „gute Menschheit“ war auch das, was ihn vor ein paar Jahren beinahe umgebracht hätte. Sie kannte noch keine Details; Alan hatte bisher nur mit seinem Therapeuten, den er seitdem besuchte, darüber gesprochen.

Was sie aber wusste, war dass er und sein damaliger Kollege Joe eine Untergrundorganisation infiltrieren sollten. Joe war zwar neu bei der Polizei, aber Alan mochte ihn von Anfang an. Nur wusste Alan zu der Zeit noch nicht, dass Joe ein Doppelagent der entsprechenden Mafia war. Als der große Tag kam, an dem sie sie auffliegen lassen wollten, kam alles anders als geplant.

Der Plan war es gewesen, dass Verstärkung um Punkt 12 Uhr in die Lagerhalle kommen sollte. Die Lagerhalle war der Platz, wo sie das meiste Zeug gelagert und teilweise auch Drogen hergestellt, verpackt oder an die Dealer abgegeben hatten.

Von dort hatten Alan und Joe zuvor einen Koffer mit 50 Millionen verschwinden lassen und bei ihrem Chef abgegeben. Was Alan zu der Zeit noch nicht wusste, war, dass Joe eigenständig versucht hatte, diesen Koffer zu finden, da er wusste, dass er irgendwo als Beweismittel aufbewahrt wurde. Doch da er noch nicht lange bei der Polizei war, konnte er es nicht rausfinden.

Aber Alan wusste es.
Versehentlich hatte er es mal erwähnt und seitdem hatte es Joe auf die weiche Tour rauszufinden versucht. Doch so naiv Alan auch war, das war nicht so einfach aus ihm rauszukriegen. Er versuchte wirklich alles - von Assoziationsspielen, unauffälligem Ausfragen, Bitten um bessere Inklusion innerhalb der Polizei - er hat ihn sogar versucht, abzufüllen. Aber was Joe auch tat, Alan hielt dicht.

Joe sah nur noch eine Lösung: ihn zu entführen.

An dem Tag rückten sie lange vor dem Einsatz aus, sie sollten alles sichern. Joe bot Alan etwas zu trinken an, was Alan natürlich annahm - er war immerhin sein Kollege, er erwartete nichts Böses. Darin befand sich ein Schlafmittel, so konnte Joe Alan entführen und Verschleppen. Als dann später das Verstärkungsteam kam, war bereits vor ein paar Tagen alles geräumt worden und alle Spuren waren beseitigt.

Alan blieb wochenlang verschwunden, obwohl Kylie und die anderen Polizisten hart daran arbeiteten, ihn zu finden. Erst etwa drei Wochen danach fanden sie ihn und auch einen Teil der Mafia-Anhänger.

Sie wusste nicht, was ihm angetan wurde, um ihn dazu zu bringen, es zu verraten, doch als sie sich wieder sahen, war eines der ersten Dinge, die er seiner Freundin sagte: „Sie wissen wo der Koffer ist.“

Kylie wusste noch genau, wie kritisch er ausgesehen hatte, als sie ihn endlich gefunden hatten: Er trug noch genau die Klamotten, die er am Tag seines Verschwindens getragen hatte, nur standen sie jetzt vor Dreck. Seine Lippen waren aufgesprungen und er war vollkommen ausgemergelt. Er hatte überall kleinere Wunden auf seinem ganzen Körper und seine Handgelenke waren durch die Fesseln völlig verschorft. Um die rechte Schulter spannte sich ein schlecht angelegter, mit Blut durtränkter, unhygienischer Druckverband, der schon lange ausgewechselt hätte werden müssen.

Später im Krankenhaus stellte sich heraus, dass es sich um eine Schusswunde handelte. Anschließend hatte jemand offenbar mit einem Messer oder anderen scharfen Gegenstand versucht, die Kugel rauszufischen, war aber nicht erfolgreich gewesen, weshalb sie immernoch drin steckte und seine Schulter rundherum wie ein Krater aussah. Es schien, als sei ein Meteorit eingeschlagen statt einer Kugel.

Außerdem stank er nach Schweiß und Fäkalien. Offenbar hatte ihn niemand zur Toilette gehen oder sich Duschen lassen.

Kurzum: er war in einem dramatischen Zustand.

Und doch, das erste, was er dem Rettungsteam sagte, war: „Sie wissen, wo der Koffer ist.“

Nicht „Oh Gott sei Dank, ihr seid hier!“, keine Bitte um medizinische Versorgung, Essen, Trinken. Er hatte auch nicht geweint, nicht direkt zumindest.
Nichts.

Nur „Sie wissen, wo der Koffer ist“.

Nach dem Einsatz Alan erstmal lange im Krankenhaus bzw. anschließend zu Hause. Er brauchte eine Weile für sich, in der er nicht arbeitete, denn bereits das Einkaufen überforderte ihn dermaßen, dass er selbst das meistens nicht tat und sich isoliert hielt.
Die Einzige, mit der er den Kontakt aufrecht erhielt, war Kylie.

Etwa einen Monat später kam ein Brief von der Polizei, dass sie Alans Entscheidung, nicht mehr zu kommen, akzeptierten, doch, dass sie ihn dann entsprechend auch nicht mehr bezahlen könnten. Sie rieten ihm zu einer Therapie und versprachen, einen Teil der Kosten zu übernehmen. Dementsprechend musste Alan kündigen, doch ihm wurde versichert, er könne jederzeit wieder bei ihnen anfangen.

Kylie fand die Idee mit der Therapie sehr gut. Es brauchte zwar lange, um ihn davon zu überzeugen, doch letztendlich willigte Alan ein und es half ihm enorm.

Etwa ein halbes Jahr nachdem Alan wieder zuhause war, meinte er, er sei bereit, wieder arbeiten zu gehen.

„Aber ich setze nie wieder einen Fuß in diese Station“, sagte er, „und ich ziehe nie wieder diese Uniform an.“

Kylie sprach oft und lange mit ihm darüber. Alans Traum war es schon immer gewesen, Polizist zu sein und jetzt wollte er aufhören? Vor seiner Entführung hatte er seinen Job so sehr geliebt, dass er nur seine Uniform sehen musste, um wie ein Honigkuchenpferd zu strahlen.

Schon als Kind hatte er dauernd Polizei und Verbrecher oder Sheriffs und Cowboys gespielt. Gerechtigkeit und Verbrechen hatten ihn einfach seit jeher fasziniert.

Dementsprechend war es kein Wunder, dass er in den meisten Jobs nicht lange blieb; es konnte ihn alles einfach nicht glücklich machen.

Irgendwann war er mit Kylie Einkaufen. Er fand ein Sherlock Holmes Buch - genau den Teil, den er als Kind so sehr geliebt hatte. Und da kam ihm die Idee, sich bei einer Privatdetektei zu bewerben.

Mit Kylies Hilfe suchte er eine passende Stelle, bewarb sich und wurde genommen.

Als er am Nachmittag seines ersten Arbeitstages nach Hause kam, lächelte er so breit wie es Kylie bei ihm schon seit etwa zehn Monaten nicht mehr gesehen hatte.

„Worüber denkst du nach, Sternchen?“, meldete sich Alan gerade, während er abbog.

Sie sah ihn an und antwortete lächelnd: „Ach, das ist nicht mehr wichtig.“

Wichtig war es, dass er überlebt hatte.
Wichtig war es, dass er wieder zu leben gelernt hatte.
Wichtig war es, dass er wieder lächelte, lachte, strahlte.
Wichtig war es, dass sie ihn liebte.

Und nicht die Vergangenheit.

Behutsam, um ihn nicht aufzuschrecken, legte sie ihre Hand auf sein Bein, legte sie nur ab.
Alan lächelte. „Ich liebe dich auch“, beantwortete er das Unausgesprochene grinsend.

Sie grinste ebenfalls. „Ich weiß.“

Anschließend wandte sie ihren Blick aus dem Fenster - gerade rechtzeitig, um eine Gestalt wahrzunehmen, die parallel zur Fahrbahn im Wald herumlief.

„Da ist jemand im Wald“, informierte Kylie ihren fahrenden Freund, „fahr' ein Stück zurück und halt' an. Ich möchte mir das genauer ansehen.“

Alan folgte ihrer Aufforderung. Beide stiegen aus, Alan Schloss das Auto ab die Polizisten scannte die Umgebung mit den Augen.

„Dort drüben!“

Sie deutete auf die Gestalt, welche eine beachtliche Strecke zurückgelegt hatte, seit Kylie sie entdeckt hatte.

„Schnell, hinterher!“, oderte sie an.

Zusammen näherten sie sich der Person. Als sie auf 20 m herangekommen waren, schrie Alan: „HEY! Stehen bleiben!“

Die Gestalt gehorchte und drehte sich um. Erst als Kylie das neongrün unter der Kapuze aufblitzen sah, fielen ihr auch die Aufnäher auf der Jacke auf.

Kylie blieb stehen und starrte in seine Richtung. Finn starrte zurück.

Was machte er hier?

Erst zehn Meter von dem Jungen entfernt realisierte Alan, wer der Typ war. 5 m vor ihm blieb er stehen. Dafür setzte sich Kylie wieder in Bewegung.

Als sie in Hörweite war, fragte Finn in normaler Lautstärke: „Was machen Sie hier?“

Alan schüttelte den Kopf. „Die bessere Frage“, widersprach er, „ist, was du hier machst. Ich dachte, du seist entführt worden. Alle dachten das.“
Finns Augen weiteten sich, doch er blieb stumm.
„Du giltst seit...“ Kylie zog ihr Handy aus der Tasche und warf einen Blick darauf. „... ca. 35 Stunden als vermisst.“ Mit zusammengezogenen Brauen fügte sie hinzu: „Wo warst du?“

Finn sah bloß überrascht drein. „Was sagten Sie...? Jemand hat- jemand hat mich vermisst?“ Bei dem Gedanken blieb ihm der Mund offen stehen.„Wer?“

Kylie sah genervt rüber zu Alan, doch dieser fixierte stirnrunzelnd den Jungen vor ihm. Plötzlich lächelte er.
„Natürlich wurdest du vermisst“, ging Alan auf ihn ein, „deshalb solltest du jetzt schleunigst mit uns zurück nach Hause, damit sich keiner mehr sorgt.“

Kylie nahm an, ihr Partner wollte  dem Jugendlichen kurz Zeit geben, sich zu sammeln und ihn, in Silberweiler angekommen, anständig befragen. Wenn es nach Kylie ginge, würden sie Finn zwar hier und jetzt befragen, obwohl es, rein objektiv gesehen, war es schlauer, den Plan ihres Partners zu folgen. Und zwar aus drei Gründen:

1. So konnten sie das Gespräch aufzeichnen;
2. konnten sie seinen Vermisstenstatus direkt aufheben; und
3. schien Finn noch nicht bereit für eine Befragung, denn seine Antworten waren an sich keine, sondern lediglich Gefühlsäußerungen.

Also nahmen sie den Jugendlichen mit. Sie fuhren ihn somit also sbereits zum zweiten Mal nach Hause.

Nur saß Finn dieses Mal nicht so verkrampft da wie das letzte Mal, sondern starrte verträumt lächelnd aus dem Fenster.
Als Kylie ihn so von der Seite ansah, fand sie es plötzlich albern, ihn ihn verdächtigt zu haben. Schon bei ihrer ersten Begegnung hatte sie ihn keine Sekunde aus den Augen gelassen. Vielleicht lag es an seinem Kleidungsstil - so düster mochte es Kylie nicht.

Ironisch, dass gerade sie, die sie ihren Kollegen (und nicht selten auch Alan) immer vorwarf, sie hätten zu viele Vorurteile, Finn verurteilt hatte, ohne ihn zu kennen. Dazu noch der anonyme Hinweis, der vermutlich nur abgegeben worden war, um Finn schlecht dastehen zu lassen. Womöglich war dieser sogar von einem von Finns Peinigern.

Kylie schämte sich etwas, dass sie sich dermaßen hatte mitreißen lassen. Sie durfte sowas nicht noch einmal passieren lassen.

„Das dort ist nur ein Junge. Er ist keine Bedrohung“, wiederholte sie dieselben Worte wie auf der ersten Fahrt nach Silberweiler. Nur glaubte sie es dieses Mal auch.

Sie waren ohne Umwege zum Waisenhaus gefahren - die Befragung konnten sie immernoch später durchführen.

Als sie das Gebäude nun betraten, war es recht laut im Gebäude. Ein Blick auf die Uhr verriet auch, warum: es war zehn nach eins, also waren die meisten Kinder gerade erst nach Hause gekommen.

Finn striff seine Schuhe - Converse mit neongrünen Schnürsenkeln - ab. Vorsichtig legte er sie neben das überquillende Schuhregal und richtete sich wieder auf.

Alan und Kylie zogen sich Jacken und Schuhe aus, stellten sie zu Finns Schuhen. Alan hing seine Jacke auf den Ständer, Kylie legte sich ihre über den Arm. Sie würden ohnehin nicht lange bleiben.

„Würdest du uns bitte zu deinen Betreuern führen? Wir wollen nur sichergehen, dass sie darüber informiert sind“, bat Alan Finn.

Seit sie ihm vor ein paar Minuten im Wald begegnet waren, behandelte er den Jugendlichen wie ein kleines Kind. Finn schien das nicht zu stören, im Gegenteil.

Sympathischer schien es Alan in Finns Augen trotzdem nicht zu machen. Gerade schüttelte der Junge seine Arme so lange, bis seine Jackenärmel über seine Hände rutschten, um die Enden mit den Fingern nach innen zu ziehen. Ein klares Zeichen von Unwohlsein, Nervosität oder Schüchternheit.

Mit seiner hellen, leisen Stimme fragte er: „Was ist, wenn... wenn die Anderen enttäuscht sind, dass ich zurück bin? Was, wenn es ihnen lieber- lieber ist, wenn ich nicht da bin?“ Finn sah besorgt zu Boden.

Warm lächelnd schüttelte Alan den Kopf und legte seine Hand auf Finns Schulter.
Finns Kopf ruckte nach oben. Er spannte sich sichtbar an, vermutlich mochte er keinen Körperkontakt. Und doch gab es ihm scheinbar so etwas wie Trost, denn seine Kummerfalten auf der Stirn glätteten sich etwas.

Unwillkürlich musste Kylie schmunzeln.

Zwei so unterschiedliche Männer, direkt voreinander. Der eine normal, der andere groß; der eine gesprächig, der andere verschlossen; der eine bunt gekleidet, der andere ganz in schwarz; der eine im mittleren Alter, der andere blutjung.

Jemand kam von rechts durch den Flur, sah kurz nach zu ihnen, weg und wieder ruckartig zurück.

„Finn??“

Ein recht großes Mädchen kam mit großen Schritten auf ihn zu.
Alan stellte sich an die Seite seiner Freundin.

Unsicher lächelte Finn. Mit piepsiger Stimme sagte er: „Hi, Zhuri.“

Sie blieb recht nahe vor ihm stehen. Die beiden waren fast gleich groß, ungefähr im selben Alter und hatten ein ähnliches Aussehen, von dem eher asiatischen statt europäischen Einschlag ihrerseits mal abgesehen. Zumindest waren ihre Stile sich ähnlich, beide trugen heute nur schwarz.
Anhand ihrer Körpersprache war es offensichtlich, dass sie sich kannten.

Das Mädchen, welches offenbar Zhuri hieß, sah zu Alan und Kylie.

„Waren das Hashcookies?“, murmelte sie.

„Was?“, fragten Alan und Finn aus einem Munde. Verdutzt sahen sie einander und Kylie Zhuri an.

„Ich habe noch nie Drogen genommen“, erklärte sie, „ich weiß nicht, wie das ist. Also, klar, Alkohol schon, aber nichts Härteres, wissen Sie... Aber jetzt kommt es mir so vor, als hätte ich es. Ich meine- Finn steht plötzlich wieder hier. Das ist unmöglich, er wurde entführt. Das ist doch verrückt. Halluziniere ich? Klar! Vermutlich hat Seppl diese Kekse gebacken, als er in seiner Drogenphase war... das würde auch erklären, warum die so hart waren...“
Während ihres Monologes, sah sie sie nicht an. Scheinbar war sie voll in ihren Gedanken versunken, dass sie vermutlich nicht einmal bewusst redete.

Plötzlich sagte Finn: „Ich wurde nicht entführt.“

Alle Köpfe drehten sich zu ihm. Augenblicklich trat er zwei Schritte zurück, zog den Kopf zwischen die Schultern und senkte diesen. Er murmelte eine Entschuldigung. Wofür genau er sich entschuldigte, war unklar.

„Was- was soll das heißen, du wurdest nicht entführt?“, hakte Zhuri nach.

Finn versuchte, sich noch kleiner zu machen, was nicht möglich war, also schüttelte er seine Haare vor seine Augen.

„Ich, äh- naja“, begann er. „Ich habe mich... habe mich so einsam gefühlt. Weißt du, niemand... ich hatte Geburtstag, aber niemand hat dran gedacht. Und dann auch noch... na ja, in der Nacht drauf wollte ich nur... ich ging spazieren, aber... plötzlich wollte ich einen Freund zu besuchen. Er fragte mich... na ja, er gratulierte mir nachträglich. Bei ihm fühlte ich mich... ich fühlte mich... nicht ganz so ungeliebt, also blieb ich.“
Er sah hinab auf seine Füße. „Ich war mir sicher... ich dachte, es würde mich eh niemand vermissen“, schloss er mit leiser Stimme.

Zhuri stemmte die Arme in die Hüften und fragte: „Du dachtest, dich würde niemand vermissen?!“

Sie schüttelte entrüstet den Kopf.
„Ich und die anderen waren krank vor Sorge!“

Finns Schultern entspannten sich bei diesem Statement, dafür legte sich seine Stirn in Falten.

„Wer denn?“, bohrte er bitter nach.

„Seppl, Nadja, Jona, ich“, schoss sie los. „Und-“
Sie kam ins Straucheln. „Jede Menge Leute halt!“

Finn Lächeln war rückstandslos verschwunden und in seine Augen trat wieder diese Trauer, die bei ihm Standard war.
„Super“, meinte er zynisch, „du, die sich eh um mich kümmern muss, weil es sonst niemand tut und die Leute, die dafür bezahlt werden, sich um mich zu kümmern. Also praktisch nur die für mich Verantwortlichen Leute.“

Er schnaubte bitter. „Und nicht mal alle.“

Zhuri trat von einem Fuß auf den anderen. „Kann schon sein, aber- warte, was machst du?“

Finn hatte sich hingehockt und band sich die Schuhe.
„Die meisten wollen mich hier doch eh nicht. Da kann ich genauso gut dahin gehen, wo ich mich wohl fühle...“

„Meine Güte, was ist denn das hier für ein Radau?“, polterte die Stimme von Elias Hoffmann seinem Körper voran. Als er Finn entdeckte, blieb er ruckartig stehen.

„Na sieh mal einer an“, sagte er und verschränkte die Arme.

„Wo warst du, junger Mann?“

Finn wich dem Blick seines Betreuers noch intensiver aus als dem Kylies und Alans.

„Bei einem Freund.“

Schnaubend meinte Elias: „Lüg' nicht, du hast keine Freunde. Sei ehrlich, wo warst du?“

Finn wiederholte seine Antwort.

Vor Wut wurde Elias' Kopf genauso rot wie seine Haare. „Ich hoffe, du weißt, dass du Hausarrest hast. Besonders, bis ich weiß, wo du warst!“

Finn sah auf; scheinbar wollte er noch etwas sagen, überlegte es sich jedoch anders.

Es wurde still, das musste die Ruhe vor dem Sturm sein. Schlagartig fand das Paar, es sei Zeit zu gehen. Geschwind zogen sie sich Schuhe und Jacke wieder an, unbeachtet von den beiden Waisen und dessen Betreuer. Draußen begann es, zu regnen.

Es war jetzt nur richtig, zu gehen. Sie konnten hier nichts weiter tun.

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