Am Grab meines Bruders ✟

Mit drückendem Herzen betrete ich den Friedhof. Heut ist zwar noch nicht sein Jahrestag, doch nächste Woche kann ich nicht herkommen, da ich auf Dienstreise muss. Mein Chef meint, der Todestag meines Bruders wäre kein Grund, die zu verschieben. Aber der hat seine Geschwister ja noch und kann sie, im Gegensatz zu mir, allesamt nicht leiden. Er versteht das also überhaupt nicht.

Ich pflege mit Hingabe das Grab, wechsle vierteljährlich die Bepflanzung und komme regelmäßig vorbei zum gießen und gedenken.

Seinem Mörder werde ich nie vergeben.

Völlig grundlos wurde er erschossen. Das Motiv konnte nie aufgedeckt werden, der Schuldige hat nie etwas gesagt. Der Polizei nicht, vor Gericht nicht, selbst seinem Pflichtverteidiger nicht. Als hätte der Mann ein Schweigegelübde abgelegt. Gerüchten zufolge spricht er auch hinter Gittern kein einziges Wort.

Doch seinen kalten, leeren Blick bei der Anhörung werde ich nie vergessen, auch nach zehn Jahren nicht.

Hwang Inho. Dieses Arschloch.

Mit gefüllter Gießkanne biege ich hinter dem Brunnen zwischen die Tannen ab. Dahinter ist der Bereich, wo die Urne meines Bruders bestattet wurde.

Heute bin ich nicht allein hier, was für eine Überraschung!

Vor seinem Grab steht eine andere Person, der lange Mantel und die dunklen Haare wehen in der sachten Brise, davon abgesehen steht der Mann mit gesenktem Blick still da.

Ich bin mir unschlüssig, was ich jetzt machen soll. Er steht eindeutig direkt vorm Grab meines Bruders. Ich will aber nicht den ganzen Tag warten und fühle mich irgendwie mehr im Recht hier zu sein als irgendein Fremder, also nähere ich mich langsamen Schrittes.

Als er mich bemerkt und den Kopf zu mir dreht, dämmert es mir. Mit dumpfem Klang fällt die Gießkanne zu Boden.

Sein Gesicht habe ich nur einziges Mal im Leben gesehen, doch es hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt.

Am liebsten würde ich ihn anschreien oder ihm an die Gurgel gehen, doch ich stehe nur stocksteif da. Ich spüre nicht einmal diese unbändige Wut von damals, ich bin einfach nur... geschockt.

Er hingegen wirft mir ein kleines, entschuldigendes Lächeln zu, bei dem nur seine Mundwinkel leicht zucken. Seine traurigen Augen erreicht es nicht.

Die Jahre sind nicht spurlos an ihm vorbeigegangen, er ist gealtert so wie ich, doch er ist es unverkennbar, und er hat sogar den Mumm, mich anzusprechen.

"Hyunuk, richtig?" Seine Stimme klingt heiser und rau, als hätte er sie noch nie benutzt. Sollte er auch nicht, nicht mir gegenüber.

Dieser Mann sollte es nicht wagen dürfen, meinen Namen in den Mund zu nehmen.

"Sie sind draußen", stelle ich fassungslos fest.

"Nur heute", erwidert er und wendet den Blick auf den Grabstein. Mit einem Nicken in dessen Richtung fragt er: "Du kümmerst dich gut darum, oder?"

Ich antworte nicht darauf. Immer noch sehe ich ihn nur erschüttert an. "Wie können Sie es überhaupt wagen?", entfährt es mir vorwurfsvoll und er dreht seelenruhig seinen Kopf zurück zu mir.

"Ihr habt euch viel bedeutet, nicht wahr? Tut mir leid für deinen Verlust." Es klingt aufrichtig niedergeschlagen. Ich traue meinen Ohren kaum.

"Sie- Sie haben ihn ermordet!"

Wieder lächelt er schwach, wobei sein Blick noch trauriger wird. "Glaub mir - es tat mir noch mehr weh als dir."

Mir klappt nur der Mund auf und zu. Er starrt an mir vorbei ins Leere. "Er hat mich gezwungen ihm beim Sterben zuzusehen. Ich habe ihn so sehr dafür gehasst... all die Jahre..."

In seinen Augen bilden sich Tränen und in meinem Magen ein Knoten. Er ist überhaupt nicht so, wie ich ihn mir vorgestellt hatte. So klingt doch kein kaltblütiger Mörder.

"Es tut mir leid. Ich muss gehen", flüstert er. Hwang Inho wirft einen letzten Blick zum Grab und will sich dann abwenden, doch ich stürze nach vorn und halte ihn am Jackenärmel fest.

"Sie...", hauche ich, "Sie sind es gar nicht... der... der es getan hat... Oder...?"

Mit diesem viel zu traurigen Lächeln streift er meine Hand von seinem Ärmel, wobei seine kühlen Finger meine berühren. Viel zu sanft für einen Mörder. All der Hass in mir verpufft bei der Erkenntnis, dass er nicht gerechtfertigt war. Zurück bleibt Bitterkeit und Bedauern und ein schlechtes Gewissen ihm gegenüber.

"Ich hab ihm versprochen, niemals jemanden zu erzählen, was damals passiert ist, schon gar nicht seiner Familie. Finde dich bitte damit ab, dass du es nie erfahren wirst." Mit diesen Worten lässt er mich hier stehen. Erst jetzt fällt mir der Beamte auf, der in Sichtweite steht und Hwang Inho abführt.

Ein Jahrzehnt lang habe ich ihn für den grausamen Schuldigen gehalten, so wie alle anderen auch. Ein Jahrzehnt lang hat er für meinen Bruder eingesessen.

Ich glaube, er war es gar nicht.

Ich glaube eher... er hat ihn noch mehr geliebt als ich.



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Ungläubig starrt der Gefängniswärter auf den Bescheid, den der junge Mann ihm vorlegt hat. Sein Kollege tritt mit fragendem Blick an ihn heran.

"Hol...", der Wärter mit dem Zettel räuspert sich, "hol Hwang Inho aus seiner Zelle."

"Hwang... Inho?", macht der andere verständnislos.

"Du weißt schon. Der Stumme", raunt er ihm zu.

"Der hat doch jahrelang keinen Besuch mehr gekriegt? Nichtmal mehr seine Mutter", raunt der andere kopfschüttelnd, macht sich aber auf den Weg.

"Kommen Sie bitte mit zur Besucherkontrolle, Herr-", der Uniformierte schaut auf dem genehmigten Besucherantrag nach, "Herr Han Hyunuk."

Der Angesprochene nickt und folgt ihm nach nebenan, wo er seine Jacke, Wertgegenstände und Gürtel ablegen muss, und dann abgetastet wird. Seine Sachen werden indessen gescannt.

Dann wird er in den Raum geführt, in dem er dem Inhaftierten unter Aufsicht gegenüber treten wird.

"Nur, dass Sie es wissen, Herr Han. Hwang redet nicht. Gar nicht. Sagt nie ein Wort."

Der Angesprochene wirft ihm ein Lächeln zu. Er weiß Bescheid.

Ungläubige Überraschung spiegelt sich in Hwang Inhos Blick, als er eintritt und sieht, wer für ihn hergekommen ist. Sein Lächeln lässt den Raum trotz des kalten Neonlichts sogleich etwas wärmer erscheinen.

Sein Besucher kann sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass dieser Mann derjenige sein soll, der seinen Bruder auf dem Gewissen hat.

Der Gefangene wippt auf seinen Füßen auf und ab. Er kann es gar nicht glauben, dass auf dieser Welt noch irgendjemand etwas von seiner Existenz wissen will. "Du bist hier!", krächzt er.

Der Aufsichthabende traut seinem Ohren kaum. Es ist das allererste Mal, dass er die Stimmes dieses Insassen hört - und es wird auch das letzte Mal sein.

Zwar redet Hwang Inho nun häufiger, doch zu hören bekommt es nur einer. Dank guter Führung und eines psychologischen Gutachtens wird er vorzeitig entlassen und ist endlich frei - und gar nicht so allein und auf sich gestellt wie er dachte.

Was damals geschehen ist, wird Hyunuk trotzdem nie erfahren.

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Well... That's it.
The End

Wie findet ihr es?

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