-~4~- Ich will nicht sterben

,,Die wahre Unsterblichkeit hat mit ewig währendem Leben nichts gemein. Viel mehr geht es darum, die Zeit, die einem gegeben ist, mit Sinn zu füllen."

~André M. Hünseler

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Vex starrte die kleine grüne Pflanze auf seinem Schreibtisch an.
,,Soll ich es ihr sagen?", fragte er sie leise.

,,Kann ich ihnen helfen, Professor?", durchdrang die warme Stimme des Laborandroiden den Raum.
Vex drehte sich verwundert zu ihm um und sah zu der Maschine hinauf, die ein Paket in den Armen trug. Man hätte meinen können, dass ein Mensch vor ihm gestanden hätte, wäre nicht der tiefschwarze Schriftzug der Seriennummer auf seinem Unterarm zu sehen gewesen.
,,Ah, Nummer Neun, du bist zurück. Nein, ich glaube, dass du mir bei dieser Angelegenheit nicht helfen kannst", erwiderte Vex und deutete dann auf das Paket. ,,Hast du alles bekommen, was ich haben wollte?"
Der Android verfolgte aufmerksam Vex Bewegung und schüttelte dann leicht den Kopf.
,,Leider war ein Bauteil noch nicht verfügbar. Es wird in den nächsten zwei Tagen an der Abholstation ankommen", antwortete er dann mechanisch.

Vex seufzte und sah dann zurück zu dem Bauplan auf seinem Schreibtisch. Neben der Blaupause waren etliche Notizen und Skizzen verteilt. Vex hatte schon immer Papier über die digitalen Notizblöcke bevorzugt, die besonders im letzten Jahr eine besondere Beliebtheit in der Bevölkerung gefunden hatten.
»Schnell, praktisch, digital«, so lautete damals der Werbespruch von CyberTech, der das Produkt durch die Decke gehen ließ. Dass dabei jedes gewöhnliche Handy eine Notizfunktion hatte, wurde in der Indoktrination des Konsumentenverhaltens geschickt unter den Teppich gekehrt.
Vex hatte das aber nicht wirklich tangiert. Er wusste, dass es nur wieder einer von vielen Trends war, der früher oder später wieder in Vergessenheit geraten würde.
Er blieb doch lieber bei seinen toten Bäumen aus kontrolliert ökologischem Anbau.

Das Bäumchen auf seinem Schreibtisch ließ nun die Blätter noch weiter hängen als am Vortag, und Vex fand in sich doch ein kleines bisschen Erbarmen. Er erhob sich von seinem Schreibtisch, ging Gedankenverloren an dem Androiden vorbei, der immer noch anweisungslos im Raum herum stand, und füllte eines der ausgewaschenen Reagenzgläsern in der Spüle mit etwas Wasser. Er kehrte zu Elon zurück und gab ihm das kühle Nass, um das er seit Tagen gefleht hatte.

Vex schwor sich, niemals ein Haustier zu haben.

,,Weißt du was, Neun? Ich glaube, du kannst mir doch helfen", sagte er lächelnd und der Android hob aufmerksam den Kopf.
,,Was kann ich für Sie tun, Professor?" Sein Gesichtsausdruck wirkte fragend und er neigte seinen Kopf leicht zur Seite.
Vex musterte ihn kurz, seine kurzen, dunkelblonde Haare, die Arbeitsuniform und seine steife Statur. Er nahm ihm das Paket aus den Händen uns stellte es hinter sich auf den Schreibtisch, an den er sich schließlich lehnte und die Arme verschränkte.
,,Ich muss eine Entscheidung treffen. Eine wichtige Entscheidung. Ich will, dass du sie für mich triffst."
Der Android zögerte kurz, als müsste er das gerade gesagte erst verarbeiten.
,,Leider ist das nicht Teil meiner Programmierung, Professor. Ich kann keine komplizierten emotionale Umstände rekonstruieren, um eine Angemessene Entscheidung treffen zu können. Ich empfehle, dass sie sich an einen Haushaltsandroiden mit angepassten sozialen Fähigkeiten wenden-"
Vex seufzte kurz auf und hob dann die Hand, um Neun vom Reden abzuhalten. ,,Jaja, schon gut Siri. Ich möchte, dass die Entscheidung zufällig ist. Nenne mir einfach irgendeine Zahl."
Der Android öffnete kurz den Mund und schloss ihn sofort wieder.
Vex mochte es, ihn an die Grenzen seiner Programmierung zu führen und er konnte der Maschine fast ansehen, dass sie mit den vielen Anweisungen überfordert war.
,,Warum nennen Sie mich wie einen intelligenten persönlichen Assistenten aus den frühen 2010er Jahren?"

Vex lachte kurz auf. Er hatte nicht erwartet, dass sich Neun für diese Frage entscheiden würde. Er schüttelte mit dem Kopf. ,,Vergiss es. Nenne mir einfach die Zahl."
,,162.432.589", antwortete Neun promt. Das war eine seiner leichtesten Aufgaben.
Vex atmete scharf ein und nickte dann. ,,In Ordnung. Ich werde es ihr sagen."
Der Android zog seine Mundwinkel systematisch nach oben. ,,Ich bin froh, dass ich Ihnen helfen konnte, Professor."
Mit diesen Worten drehte er sich auf der Stelle um und ging in Richtung der Ladestation an der Wand, in die er sich selbstständig einhing und sofort nicht mehr responsiv war.

Vex schüttelte noch einmal den Kopf. Deswegen arbeitete er lieber mit Menschen zusammen. Menschen hinterfragten, Menschen wollten eine Antwort haben und sie waren skeptisch. Was war nur in ihnen, das sie von Maschinen unterschied?

Er dachte über die Zahl nach, die ihm Neun genannt hatte: 162 Millionen... und irgendwas mit 89 am Ende.
Eine ungerade Zahl, bei der sich Vex versprochen hatte, Emily über seine Entdeckung zu berichten. Trotzdem stieg bei diesem Gedanken Unbehagen in ihm auf und er wünschte sich, der Android hätte lieber eine gerade Zahl genannt, bei der er seine Theorie für sich behalten hätte können. Doch nun würde er sich nicht mehr umentscheiden.

,,Pix? Du weißt, was zutun ist."
Die KI reagierte sofort, trotz dem Umstand, dass sie sich seit Stunden nicht zu Wort gemeldet hatte: ,,Natürlich, Professor. Alle ihre Daten wurden gespeichert. Ich verschließe das Labor, sobald sie gegangen sind."

Er nahm seine Schlüssel, den Blumenstrauß und die Flasche Eierlikör von seinem Schreibtisch und verließ das Labor, um sich auf den Weg zum Krankenhaus zu machen.

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Vex klopfte vorsichtig an die hellgraue Krankenzimmertür, bevor er eintrat. Im Raum war es dunkel, da die Gardinen vor die Fenster gezogen worden waren. Trotzdem wurden die Wände, die Maschinen und die Möbel hellblau bestrahlt. Es erinnerte Vex an den Sternenprojektor, den er als Kind geschenkt bekommen hatte. Stundenlang hatte er damals an seine Decke gestarrt und den Sternbildern dabei zugesehen, wie sie über den künstlichen Nachthimmel gewandert waren.

Der stechende Geruch von Desinfektionsmittel holte ihn aus seiner Erinnerung zurück und er sah sich weiter im Raum um.
Emily lag auf dem Rücken in dem Krankenbett, den Kopf von Vex abgewendet. Sie wirkte schwach und verloren unter der dicken, weißen Decke, die ihre Gestalt fast vollständig verschluckte. Ihre Arme lagen beide auf dem Federbett. Blau leuchtende Linien führten von ihren Handgelenken bis hinauf zu ihren Schultern, bevor sie mit ihrem Körper unter der Decke verschwanden. Die Linien sahen malerisch schmückend aus und Vex hätte sie als wunderschön beschrieben, hätte er nicht gewusst, dass sie Vorboten des Todes waren.

Emily drehte ihren Kopf langsam zu ihm um. Sie war blass, ihre hellen Haare waren wild durcheinander und ihre ursprünglich blauen Augen wirkten leblos und grau. Sie verzog ihre schwachen Gesichtszüge zu einem leichten Lächeln, als sie ihren Freund und Mentor in der Tür stehen sah und versteckte ihre Arme unter der Decke. Sofort wurde der Raum dunkler. Die einzige Lichtquelle war nun nur noch das Flurlicht, das durch die offene Tür hinein schien.

,,Hallo Vex, tut mir leid wegen der Dunkelheit, aber das Sonnenlicht blendet mich heute sehr", sagte sie leise, fast flüsternd.
,,Hallo Emily", erwiderte Vex warm, ,,wie geht es dir?" Vorsichtig schloss er die Zimmertür hinter sich und seine Augen brauchten eine Weile, bis sie sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten.
,,Besser als gestern. Das Fieber ist verschwunden", erwiderte sie.
Auch wenn er sie nicht sehen konnte, hörte Vex an dem Klang ihrer Stimme, dass mit Emily trotzdem etwas nicht stimmte. Mehr als sonst.
,,Aber...?", fragte er deshalb.

Emily zögerte. Sie war schon immer eine schlechte Lügnerin gewesen. ,,Meine Schmerzmitteldosierung wurde seit gestern erhöht aber... ich habe trotzdem noch höllische Kopfschmerzen."
Vex neigte seinen Kopf etwas zur Seite und wenn Emily ihn hätte sehen können, hätte sie sicherlich wieder darüber schmunzeln müssen. Wenn Vex über etwas nachdachte, hielt er seinen Kopf schief, und das schon seit einigen Jahren. Er hatte es sich irgendwann angewöhnt und war es nie wieder losgeworden.

,,Schade, dann kann ich dir wohl doch nicht Jessicas Eierlikör anbieten. Das ist trotzdem noch nicht, was du eigentlich sagen wolltest", stellte er fest und runzelte die Stirn.
,,Nein", erwiderte Emily ertappt. ,,Es geht um Gray..."

Vex atmete tief ein. Neben dem Bett konnte er den Umriss eines Stuhls erkennen, dem er sich mit vorsichtigen Schritten, langsam tastend näherte. Als seine ausgestreckte Handfläche die Rückenlehne zu spüren bekam, zog er den Stuhl leicht zurück und ließ sich darauf sinken. Dabei stieß er mit dem Oberschenkel an einen harten Gegenstand, den er nach einer gezielten Handbewegung als Tisch identifizierte. Er legte die Blumen und die Likörflasche darauf ab.

Man würde meinen, dass Vex sich inzwischen mit geschlossenen Augen in diesem Raum auskennen müsste, jedoch war das ganz und gar nicht der Fall. Immer wenn er Emily besuchte, drehte sich alles um sie und das Krankenzimmer war vergessen. Einmal hatte Vex sogar eine Krankenschwester übersehen, die gerade dabei war, im Raum zu staubsaugen. Sie war ein Android und hatte sich bei Vex' Betreten des Raumes nicht bemerkbar gemacht, aber das laute Geräusch des Staubsaugers hätte ihm vielleicht auffallen müssen. Stattdessen war er in seinen Gedanken verloren gewesen und hatte fast einen zweiten Herzinfarkt erlitten, als der Android sich von ihnen verabschiedet hatte.

,,Sier ist zur Zeit sehr aufgewühlt", sagte Vex und Emily summte bestätigend.
,,Sier hat Angst, dass wenn sier von sierem Auftrag zurück kommt, ich nicht mehr da sein werde und ich... Ich befürchte, dass sier recht haben könnte", erklärte sie dann. Ihre Stimme brach am Ende des Satzes und sie begann zu schluchzen.

Vex schwieg wissend. Was konnte es Schlimmeres für ein junges, liebendes Paar geben, als täglich im Angesicht des Todes zu stehen?

,,Könntest... könntest du dich bitte um Gray kümmern, wenn ich... wenn ich..." Sie verstummte allmählich und im Raum waren nur noch ihre zitternden Atemzüge zu hören.
Vex legte eine Hand beruhigend auf die Bettdecke und neigte seinen Kopf mitfühlend zur Seite.
,,Ich bin immer für euch da. Für euch beide. Und daran wird sich nichts ändern", versprach er.

,,Ich würde gerne meine Katzen noch ein letztes Mal sehen", sagte Emily leise. Ihre Stimme zitterte nicht mehr so sehr und sie schien sich etwas beruhigt zu haben. ,,Ich wollte Gray nicht fragen, weil ich sier keine lange Autofahrt mit ihnen antun wollte. Sier ist so allergisch gegen Katzenhaare, aber weigert sich, sie wegzugeben." Emily lachte leise als sie sich an Grays Sturheit erinnerte. Der Abend an dem sie sier ihre Katzen zum ersten Mal vorgestellt hatte, war im Krankenhaus geendet. Und trotz des schlimmen allergischen Schocks hatte Gray von Anfang an abgelehnt, Emilys fellige Begleiter wegzugeben. Es war der Abend, an dem Emily wusste, dass sie Gray heiraten würde.

Sie seufzte bedrückt. Stille Tränen bahnten sich geschützt von der Dunkelheit den Weg über ihre Wangen.
,,Das ist kein Problem. Ich werde mit einer Krankenschwester reden und deine Katzen am Montag mitbringen", sagte Vex ruhig.
Emily nickte heftig, obwohl sie wusste, dass Vex sie nicht oder nur schemenhaft sehen konnte. ,,Danke. Ich entschuldige mich im Vorraus für die einstündige Einfangaktion, die dir bevorsteht."
Vex schnaubte amüsiert und schüttelte den Kopf. ,,Ich werde das schon hinkriegen."

Due beiden schwiegen eine Weile, bevor Emily einen Arm unter der Bettdecke hervor nahm, um sich ihre Tränen mit ihrem Handrücken weg zu wischen. Sofort wurde der Raum wieder hellblau beleuchtet und Vex schloss kurz die Augen, nur um einen tiefen Atemzug zu machen. Er wollte all die negativen Gedanken vertereiben, die zeitgleich dem blauen Licht den Raum fluteten. Das blaue Licht machte es schwer, zu vergessen.

,,Ich will nicht sterben."

Der Satz hing schwer im Raum. Seine Bedeutung nahm das Zimmer wie eine negagive Aura ein. Emilys Stimme war rau und verzweifelt.

Vex biss die Zähne zusammen und starrte auf den Boden. ,,Vielleicht musst du das nicht..." Seine Stimme war so leise gewesen, dass er sich fast sicher war, dass Emily ihn nicht gehört hatte und so erschreckte er sich, als sie ihm antwortete: ,,Was hast du entdeckt, Vex?"

Sie kannte ihn gut. Sie wusste, dass es kein Anflug plötzlichem Optimismus war, der ihren Mentor kurz vor ihrem Ende heimgesucht hatte. Sie wusste auch, dass es kein Wunschdenken war, das Vex äußerte. Vex war ein renommierter Wissenschaftler. Er äußerte sich nur zu etwas, wenn er sich fast vollständig sicher war, wenn er Fakten in der Hand hatte.

Das blaue Licht malte seine scharfen Gesichtszüge nach, als er seinen Blick hob und mit seinen grauen Augen direkt in Emilys Seele zu starren schien.

,,Ich weiß, wie man dich retten kann."

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Wir haben es geschafft! Das war die Vorstellung aller Hauptcharaktere. Jetzt kann es mit der Story richtig losgehen. Denkt aber nicht, dass das alle Personen waren, die vorkommen werden. Es wird noch eine ganz besondere Nebenfigur erscheinen, die mir persönlich sehr am Herzen liegt ;)
Sie wird den Namen tragen, der in allen meinen Geschichten mindestens einmal vorkommt und Morias Vater sein. Mehr verrate ich aber noch nicht!

Stattdessen gibt es eine neue Frage an euch: Wie sollen Emilys und Grays Katzen heißen und aussehen? [beantwortet ✅]

PS: Sorry für die Infinity War Referenz :')

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