Kapitel 18: Enthüllungen
Kirishimas PoV
Langsam stieg ich die Stufen zur Bäckerei hinauf. Es war bereits abends und ich war mir gar nicht sicher, ob Temaro überhaupt noch geöffnet hatte. Doch durch das Mattglasfenster der Tür schien noch ein wenig Licht. Katsuki hielt meine Hand und gab mir damit den Mut, die schwere Tür zu öffnen.
Als wir in die Bäckerei eintraten, hing noch immer der Duft von frischem Gebäck in der Luft, obwohl die Auslage inzwischen leergeräumt und gesäubert worden war. Es schien so, als hätte der Laden tatsächlich schon geschlossen.
„Wir haben gerade dicht gemacht, kommen Sie morgen wieder!", rief Temaro – seine Stimme erkannte ich auch nach all den Jahren – wie zur Bestätigung aus dem Hinterzimmer.
„Ich ... würde ganz gerne mit Ihnen reden!", rief ich zurück. Ich hatte dem Mann sehr viel zu verdanken und ich wollte ihm zumindest in die Augen sehen, wenn ich mich bei ihm für all das bedankte. Würde er sich überhaupt an mich erinnern können? Wie viel hatte ich noch mit dem ausgemergelten Straßenkind gemeinsam, das er damals kannte und das schließlich urplötzlich verschwand?
Man hörte ein Rumpeln, als würde jemand etwas Schweres abstellen und dann schlurfende Schritte. Als Temaro in mein Sichtfeld kam, wurde mein Lächeln breiter. Er sah noch ziemlich genau so aus wie damals. Er hatte dichtes ergrautes kurzes Haar und tiefliegende gutmütige braune Augen. Sein Blick traf erst Katsuki, dann wanderte er zu mir. Ich wollte gerade ansetzen, um zu erklären wer ich war, als die Erkenntnis sein Gesicht erhellte.
„Kirishima! Bist das wirklich?", fragte er erstaunt und ging um den Tresen herum. Ich nickte und er lächelte mich warm an, ehe er mich in die Arme schloss. Überrascht nahm ich die Umarmung entgegen und drückte ihn kurz, weshalb ich Katsukis Hand loslassen musste.
„Als du damals einfach so verschwunden bist, habe ich mir Sorgen um dich gemacht. Ich habe ein wenig recherchiert und herausgefunden, dass ein rothaariger Junge am Markt beim Stehlen erwischt wurde. Schließlich erfuhr ich, was dieses Scheusal von Metzger mit dir angestellt hatte und dass du zum Cyborg geworden bist. Die Spur hatte sich leider verlaufen, da ich nicht herausfand, wer dich gekauft hatte. Ich habe geglaubt, dass ich dich nie wiedersehen würde." Er musterte mich von oben bis unten. „Wie ist es dir ergangen? Du siehst gut aus!"
Verlegen warf ich einen Seitenblick auf Katsuki und wollte gerade antworten, als man es aus dem Hinterzimmer scheppern hörte. Es folgte ein leises Fluchen und Temaros stirnrunzelnder Blick richtete sich zur Tür. „Alles in Ordnung, da hinten?", rief er besorgt.
„Jaja.", kam es zurück. Dann hörte man Schritte, die in unsere Richtung führten. „Aber hast du vielleicht ein Pflaster, ich habe mich ein wenig geschni-" Der schwarzhaarige junge Mann bemerkte uns und erstarrte. „Kirishima? Und ... mein Prinz.", sagte er überrascht und machte dabei eine angedeutete Verbeugung in Katsukis Richtung.
„Arbeitest du nicht am Palast?", fragte Katsuki überrascht und musterte ihn von oben bis unten. Auch ich war vollkommen perplex Sero hier anzutreffen. Er war in Zivilkleidung, trug eine weite Hose und ein schwarzes Mehl-bestäubtes T-Shirt. Seine langen schwarzen Haare klebten ihm an der verschwitzten Stirn und er hielt sich seine rechte Hand an die Brust gedrückt.
„J-ja!", antwortete Sero, als er sich wieder einigermaßen gefasst hatte. „Ich arbeite in der Palastküche. Aber heute habe ich frei. An solche Tagen helfe ich oft hier aus."
Der Prinz runzelte die Stirn. „Bezahlen wir nicht genug, sodass du dir einen zweiten Job suchen musst?", fragte er mit milder Verwirrung.
Seros Blick wanderte langsam zu Temaro und es herrschte einen kurzen Moment angespannte Stille. „Nein.", beantwortete er schließlich seine Frage. „Daran liegt es nicht. Das hier ist freiwillige Arbeit."
Eine tiefe Falte hatte sich zwischen Katsukis blonden Augenbrauen gebildet. Auch ihm war dieser angespannte Moment aufgefallen und es war offensichtlich, dass mehr hinter Seros Antwort steckte. Doch bevor einer von uns nachhaken konnte, meldete sich Temaro zu Wort.
„Wie wäre es, wenn wir alle zusammen nach hinten gehen. Sero verarztet seine Hand und dann reden wir einfach ein bisschen. Wenn das Schicksal vier Menschen auf eine solch zufällige Weise zusammenbringt, wären wir Narren nicht darauf zu hören."
Er ging an uns vorbei zur Hintertür und wir folgten ihm. Ich musste ein Grinsen unterdrücken, als ich Katsuki verstohlen „Tch. Schicksal. Als ob." murmeln hörte.
Gemeinsam gingen wir durch die Backstube, in der uns die Hitze der Öfen entgegenschlug, und folgten dann einer schmalen hölzernen Stiege in ein kleines Hinterzimmer, wo der Privatbereich Temaros anfing. Dort stand ein kleiner abgenutzter dunkler Holztisch. Temaro holte zwei weitere klapprige Stühle aus dem Nachbarzimmer, sodass wir alle vier Platz fanden.
Ein weiterer kurzer Moment angespannte Stille herrschte. Dann war es erneut der alte Bäcker, der sich zu Wort meldete. „Also in was für einem Verhältnis steht ihr beide zueinander?", fragte er interessiert und deutete auf Katsuki und mich.
„Wir sind zusammen.", antwortete Katsuki fest. Ich konnte nicht anders als ihm ein glückliches Lächeln zuzuwerfen und wieder nach seiner Hand zu greifen.
Sowohl Sero als auch Temaro schauten einen Moment auf unsere verschränkten Finger.
„Sag mal Kiri, hast du unserem Prinzen schon die Frage gestellt? Die, um die wir dich gebeten hatten?", fragte Sero und sah mir dabei intensiv in die Augen.
Wieso sprach er ausgerechnet jetzt und hier die Human Hearts Organisation an? Mein Blick schweifte kurz zu Katsuki, der mir einen ausgesprochen verwirrten Seitenblick zuwarf. „Das habe ich. Und wie ich es euch bereits gesagt habe, war seine Antwort ja. Weiht ihr uns jetzt endlich ein?"
„Was für eine Frage?", knurrte der Prinz, offensichtlich gar nicht amüsiert, dass er bei dem Gespräch außen vor gelassen wurde.
Ich hob fragend eine Augenbraue in Seros Richtung. Die Human Hearts Organisation war äußerst darauf bedacht, jegliche Informationen geheim zu halten. Auch ich wusste bis zu diesem Zeitpunkt nicht mehr, als dass es sie gab und dass sie sich für die Cyborg-Rechte einsetzten. Als Beweis für meine Loyalität sollte ich Katsuki die Frage stellen, ob er vorhatte in seiner Amtszeit für unsere Rechte einzutreten. Mir hatte es gar nicht gefallen, ihm überhaupt etwas vorzuenthalten. Dennoch hatte ich ihm diese Frage gestellt. Ich wusste, dass Katsuki eine solche Untergrundorganisation gefallen würde und das war der Weg gewesen hineinzukommen.
Sero seufzte. „Mein Prinz, dann ist es also wahr, dass du etwas gegen die Unterdrückung von Cyborgs unternehmen willst?"
Katsukis Blick schoss zu mir. „Du kannst solche Informationen doch nicht einfach so weitergeben!"
Genervt warf ich die Hände in die Luft. „Wenn alle alles für sich behalten, dann kommen wir nie weiter! Jetzt hör ihm erst einmal zu!" Er starrte mich einen langen Moment an und wandte sich dann langsam wieder Sero zu.
„Wir sind Teil einer Organisation. Temaro hat sie ins Leben gerufen." Überrascht sah ich zu dem alten Bäcker. War das immer noch reiner Zufall? Aber ich beschloss mit meinen Fragen ein wenig zu warten und Sero zuerst ausreden zu lassen. „Es ist eine Untergrundorganisation namens Human Hearts. Wir bestehen aus Cyborgs und Leuten, die der Meinung sind, dass wir keinesfalls minderwertig sind. Daher auch der Name Human Hearts. Menschliche Herzen. Wir sind Menschen und wollen auch als solche behandelt werden. Aber eine Zusammenschluss gleichgesinnter bewirkt nicht besonders viel, wenn wir keine Vertreter in mächtigen politischen Positionen haben. Da die Leute noch immer mit Furcht auf Cyborgs reagieren, obwohl der Krieg so lange her ist, wäre ein Putsch oder etwas in der Art kontraproduktiv." Er zögerte kurz und rieb nervös über das Pflaster, das an seinem Zeigefinger klebte. „Mina hat die Organisation im Palast aufgebaut und dabei immer auf dich gesetzt. Sie hat uns nie erzählt, warum sie davon überzeugt war, dass du auf unserer Seite bist. Doch als du Kiri gerettet hast, gab es ein Umdenken und einige fingen an Mina zu glauben. Daher haben wir Kiri gebeten, es noch einmal zu bestätigen."
Ich beobachtete Katsukis Gesicht, während er Sero zuhörte. Seine Miene war zunächst sehr distanziert, doch dann hatte er sich interessiert vorgelehnt. Schließlich schlich sich ein kämpferisches Funkeln in seine Augen. „Alles klar, ich bin dabei.", sagte er mit einem Grinsen. Ich atmete erleichtert auf. Ich hatte doch gewusst, dass ihm das gefallen würde. „Aber nur unter einer Bedingung: Bis zur meine Ernennung darf nichts – wirklich gar nichts – nach außen gelangen. Es würde meinen Thron gefährden und das darf nicht passieren. Schon allein nicht wegen Eijirou."
Sero runzelte verwirrt die Stirn, nickte aber. Das Personal hatte keinen Einblick in die Familienstreitigkeiten der Bakugous, aber die Intensität von Katsukis Worten ließ keinen Spielraum zu.
Jetzt wandte ich mich an den alten Bäcker. „Temaro, ist es wahr, dass du die Organisation ins Leben gerufen hast? Wie ist es dazu gekommen? Warst du damals schon ein Teil davon?"
Temaro lächelte mich sanft an. „Nein, als du hier auf der Straße gelebt hast, da gab es diese Organisation noch nicht. Ich habe dir doch erzählt, dass ich recherchiert hatte, was mit dir passiert ist. Als ich es erfahren hatte, war ich geschockt. Die Organisation ist in dem Moment entstanden, als ich begriff, was mit dir geschehen war. Kirishima. Du warst der Auslöser für all das."
Geschockt sah ich ihn an. „Ich? Aber ich bin doch nur-", wollte ich protestieren, aber fing Katsukis brennenden Blick auf und verstummte.
„Du bist ein guter Mensch Kirishima. Du hast schon damals mit den Jüngeren geteilt, obwohl du selbst kaum über die Runden kamst. Das ist der Grund, warum ich dir auch damals schon so gerne geholfen habe. Dein Schicksal – das Schicksal eines herzensguten aufrichtigen Jungen – hat mich zutiefst mitgenommen. Ich wollte etwas dagegen tun und verhindern, dass sich solche Tragödien Tag für Tag wiederholen. Niemals hätte ich gedacht, dass ich dich so gesund und munter wiedersehen würde, aber es macht mich ausgesprochen glücklich."
Mir stiegen vor Rührung Tränen in die Augen. Es war auf einmal fast, als hätte meine Vergangenheit einen Sinn erhalten. Ich langte einmal quer über den Tisch, um nach der schwieligen Hand des Bäckers zu greifen und drückte sie kurz und fest.
„Ich würde sagen, das verlangt nach einem Bier!", sagte Sero und lehnte sich grinsend in seinem Stuhl zurück. „Lasst uns darauf anstoßen!"
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