- XI -

"Der Besuch im Museum gestern sollte so eine Art kleine Einführung in das hier sein", erklärte Eva, die zusammen mit den beiden Mädchen am Tisch im Wohnzimmer saß.

Sie hatte Nika bereits früh am Morgen geweckt, zusammen mit den Mädchen gefrühstückt und die beiden dann mit ein paar Büchern an den Tisch gesetzt. Ava hatte Nika noch nicht gesehen. Verwirrt blickte Nika Theresa an, die ebenfalls nur mit den Schultern zucken konnte.

"Bitte schlagt Seite fünfzehn auf. Die Bücher sind eigentlich für Zehnjährige, aber ich denke, wir fangen lieber damit an als mit Dingen, die ihr noch gar nicht verstehen könnt."

Leicht amüsiert beobachtete Nika, wie Theresa die Augenbrauen hob und sich auf die Unterlippe biss. Sie erinnerte sich noch genau daran, dass Theresa auch früher, als sie noch zusammen fangen gespielt hätten, schon schnell in ihrem Stolz verletzt gewesen war. Jetzt blätterte sie also eine Seite des Buches nach der anderen um und zählte besonders betont: "Eins... Zwei... Drei..."

Eigentlich hatte Nika schon beinahe angefangen, zu lachen, doch da schoss ein stechender Schmerz durch ihren Schädel. "Mädchen!", schalt Eva. "Hört auf mit dem Blödsinn! Seite fünfzehn, bitte."

Mit zitternden Händen schlug Nika die Seite auf, die laut ihren Zählungen die Fünfzehnte war, und sah zu Eva auf.

Ein paar Sekunden lang herrschte absolute Totenstille. Dann schien der ganze Raum erfüllt von einem hohen Summen, das sich wie tausende winzige Nadeln in Nikas Ohren bohrte.

Es konnten nicht mehr als ein paar Sekunden sein, die sich jedoch anfühlten wie eine Ewigkeit. Der Schmerz ließ dann auch nur langsam nach, und Nika hockte trotzdem für einige längere Momente auf dem Boden, die Hände seitlich an den Kopf gepresst. Theresa lag neben ihr, zusammengekauert so sehr wie es nur menschlich möglich war.

"Theresa, Nika, bitte steht wieder auf."

Keine der beiden verschwendete auch nur einen winzigen Gedanken daran, ihr Widerstand zu leisten. In Nikas Kopf drehte sich noch immer alles. Ohne nachzudenken griff sie nach Theresas Hand und drückte sie fest. Theresa erwiderte es.

"Es tut mir leid, ihr beiden, aber wir können nicht immer nur herumspielen und Spaß haben. Ab und zu muss man auch einmal ein bisschen Disziplin haben. Und jetzt schlägt bitte endlich Seite fünfzehn auf, ich möchte anfangen."

"Aber das ist doch Seite fünfzehn", murmelte Theresa und umklammerte Nikas Hand noch fester. Eva funkelte sie wütend an und Nika fragte sich kurz, ob es nicht doch Ava war, die gerade vor ihr saß. Oder konnten die Androiden auch einmal einen schlechten Tag haben?

"Das ist Seite dreißig, Theresa. Steht doch da unten." Sie wies auf die untere Ecke der Buchseite.

"Ich kann aber nicht lesen", gab Theresa schüchtern zu.

"Ich auch nicht!", sagte Nika schnell, bevor Eva auch auf sie wütend werden würde. Theresa und sie umklammerten einander an den Händen, als ob ihre Leben davon abhängen.

Eva war wie ausgewechselt. Anstelle des außergewöhnlich wütenden Blicks schlich sich ein sanftes Lächeln auf ihre Züge und sie schüttelte den Kopf. "Ach... Das hättet ihr mir doch sagen müssen! Ihr könnt wirklich beide nicht lesen? Kein bisschen?" Kopfschütteln. "Wieso denn nicht?"

"Wozu sollten wir?" Endlich löste Theresa ihren Griff um Nikas Hand. "Wir haben nichts, was wir lesen könnten, wenn es uns jemand beigebracht hätte. Und was würde uns das helfen? Mit Lesen kann man sich nicht ernähren, erst recht nicht sich und eine ganze Familie."

"Aber... Ihr habt doch damals selbst die Schrift erfunden!", sagte Eva, sanft, aber hörbar überrascht.

"Ich nicht..."

"Ist ja auch egal, auf jeden Fall sollten wir dann ganz am Anfang anfangen. Wir machen das eigentlich kaum... Wir haben fast keine Kinder in Detroit, die so etwas noch lernen. Eigentlich schicken wir sie nach New York, dort haben sie die besten Schulen und Lehrer für kleine Kinder."

Theresa rümpfte bereits die Nase, doch zum Glück beachtete Eva sie gar nicht, sondern stand auf und ging zur Tür. "Ich bin sofort wieder da. Macht bitte keinen Blödsinn!"

"Ach du scheiße...", murmelte Theresa. "Mein Kopf tut so weh..."

"Meiner auch. Will die jetzt ernsthaft, dass wir Lesen lernen?" Nika wusste erfahrungsgemäß, dass es nicht so wichtig sein konnte. Valen hatte auch nach einigen Versuchen aufgegeben. Und der ließ sich nie von etwas abbringen, wenn es ihm wichtig war. Er hatte Nika auch so lange im Fischen unterrichtet, bis sie es geschafft hatte, einen Fisch zu fangen und nicht zu weinen, als sie ihn später ausgenommen hatte.

Was das Lesen anging... Unten in der Burg gab es eine kleine Bibliothek, damals noch voll mit Büchern. Valen hatte Nika einige Male dorthin gebracht und ihr vorgelesen, damit sie nachvollziehen konnte, welche Wörter was bedeuteten, doch sie hatte nie die Geduld dazu gehabt. Für sie waren es bloß schwarze Tintenkleckse auf weißem Papier.

Nach einigen Malen hatte Valen nachgegeben und ein paar Jahre später, als der Winter besonders kalt gewesen war, waren die meisten der Bücher verbrannt worden.

Die beiden Mädchen hatten sich gerade wieder vernünftig auf ihre Plätze gesetzt, da kam Eva schon wieder, einen weiteren Stapel von Büchern und Zetteln auf dem Arm.

"Also, meine Lieben, dann werden wir uns eben ein wenig ranhalten müssen, wenn es noch so viel gibt, dass ihr noch nicht könnt. Zählen ist aber kein Problem, oder?"

Überrumpelt von Evas Enthusiasmus nickte Nika. Sie wusste nicht einmal genau, wann oder wie sie gelernt hatte zu zählen. Mit der Zeit war das einfach so gekommen, hier waren sieben Pferde im Stall, dort stand ein Turm mit elf Fenstern und dahinter eine Burgmauer mit sechsundzwanzig Zinnen.

"Dumme Frage", wisperte Theresa, nickte aber ebenfalls. Nika fragte sich, woher der scheinbare Drang von Theresa kam, jedem Wort von Eva mit einem genervten Kommentar entgegenzukommen.

"Gut. Könnt ihr auch Zahlen lesen und schreiben?"

"Klar."

Den stechenden Sarkasmus in der Stimme des Mädchens ignorierend schob Eva einen Zettel und einen schmalen Gegenstand zu sowohl Theresa als auch Nika hinüber. "Sieben", sagte sie.

Nachdem Nika erst Theresa dabei beobachtet hatte, wie sie auf das eine Ende des länglichen Gegenstands drückte und daraufhin mit der Spitze, die nun aus dem anderen Ende ragte, über das Papier fuhr, tat sie es ihr gleich. Sieben hatte Eva gesagt - vier senkrechte Striche also, dann einen quer hindurch, danach zwei weitere senkrechte Striche.

Eva begann plötzlich zu kichern. Verwirrt sah Nika zu ihr hinauf. Es schien an dem zu liegen, was die Mädchen aufgeschrieben hatten. Doch was war daran so lustig? Dass die Linien krumm und schief waren? Der seltsame Stift war nun einmal schwer und unhandlich und Nika mangelte es ohnehin an der zum Schreiben nötigen Feinmotorik.

"Also das ist aber eine sehr primitive Art. Habt ihr noch nie... richtige Zahlen gesehen?" Die Androidin griff nach Nikas Blatt und zog drei Striche darauf. Eine kurze, waagerechte Linie, an deren rechten Ende eine weitere begann, die schräg nach links unten verlief. Die Kürzeste verlief parallel zur oberen und durchkreuzte dabei die Diagonale. "Das ist, was ich mit Zahlen schreiben meine."

"Nie gesehen", erklärte Theresa, ziemlich wagemutig dafür, dass sie vor einigen Minuten noch auf dem Boden gehockt und sich die Ohren zugehalten hatte.

Kurz wünschte sich Nika, Valen hätte sich auch so rebellisch verhalten, als die Androiden sie gewissermaßen entführt hatten. Er hätte vielleicht sogar eine reelle Chance gehabt, ihnen zur Flucht zu verhelfen.

Am liebsten hätte Nika bei diesem ungebetenen Gedanken den Kopf auf die Tischplatte geschlagen, um ihre Zweifel an ihrem Bruder ein für alle Mal zu vertreiben. Lag das Alles vielleicht jetzt an Roseberg?

Mit dem Schluss, dass Androiden auf jeden Fall die Schuld daran hatten, dass sie ihrem eigenen Bruder nicht mehr vertrauen konnte, beendete Nika ihr inneres Streitgespräch. Gerade rechtzeitig, um Eva dabei zusehen zu können, wie sie auf einem neuen Blatt Papier herumkritzelte, dieses Mal viel langsamer.

Zuerst eine waagerechte Linie, von links nach rechts. Dann knickte jene Linie ab und führte schräg von oben rechts nach unten links. Als letztes noch der kleine Querstrich. Wieder eine Sieben also. Nika fiel auf, wie elegant es wirkte, wenn die Androidin den Stift bewegte. Großartig, selbst eine Blechdose war mit besserer Feinmotorik ausgestattet als sie selbst.

"Also, das habt ihr gesehen, oder? Dann versucht das doch einmal selbst."

Innerlich verdrehte Nika die Augen, sie fühlte sich wieder in die Zeit zurückversetzt, als Valen genau dies versucht hatte. Wozu brauchte man überhaupt Schrift? Nika war sich sicher, dass sie nur entstanden war, weil Menschen vor einigen Jahrtausenden zu viel freie Zeit und zu wenige Probleme hatten.

Wenn Dinge wirklich wichtig waren, dann würden sie mündlich weitergegeben werden - so zum Beispiel die beste Art, einen Fisch auszunehmen, wie man die Innereien noch verwerten konnte und auch, wie lange man das Fleisch dann über dem Feuer garen lassen musste.

Unwichtige Dinge würden vergessen werden, und das aus einem Grund. Niemand brauchte sie, also hielt sie auch niemand in Erinnerung. Warum sollte man die Lebzeit unwichtigen Wissens also künstlich verlängern, indem man sie auf Papier festhielt? Nur damit Jahrhunderte später an diese Zeit erinnert werden konnte? Wo war der Sinn dahinter?

Diese Gedanken schienen Eva noch nie gekommen zu sein, denn begeistert ließ sie die Mädchen zählen und zeigte ihnen dann, wie die Zahlen auf Papier auszusehen hatten. Dabei legte sie eine solche Freude und Geduld an den Tag, dass sich Nika ernsthaft fragte, ob hinter ihrem Verlust der Selbstkontrolle früher am Morgen wirklich ein Maschinenfehler steckte.

Oder war anfangs Ava damit beauftragt gewesen, sie zu unterrichten, und nach dem Ausraster war Eva hereingekommen?

Entnervt kritzelte Nika auf dem Blatt Papier vor sich auf dem Tisch herum. "Eine Fünfzehn ist eigentlich nur eine Eins und eine Fünf nebeneinander, und dann bei der Sechzehn ist es genau das Gleiche: Erst eine Eins, aber dann statt eine Fünf eine Sechs daneben..."

Am liebsten hätte sie Eva den Stift an den Kopf geworfen, doch ein leises Summen in ihrem Hinterkopf hielt sie davon ab. Eva schien genau zu wissen, was in Nikas Kopf vor sich ging. "Nika!", schalt die Androidin sie in einem unpassend sanften Ton. "Das kennen wir ja sonst nur so von Theresa! Bitte konzentriere dich wieder."

Genau so musste sich auch Theresa die ganze Zeit fühlen. Nika hätte gerne einfach angefangen, zu schreien und um sich zu schlagen. Komisch war jedoch, dass sie selbst nicht einmal wirklich wusste, was genau ihre Wut ausgelöst hatte. Diese schien jedoch den größten Teil der Angst vor Androiden verdrängt zu haben.

Bevor Nika jedoch komplett die Geduld verlor, kam Ava ins Wohnzimmer. "Eva?", fragte sie kühl. "Seid ihr bald fertig? Wir müssen gleich zu Redmond, und eigentlich sollten wir die beiden vorher noch füttern."

Als ob Theresa und Nika bloß Haustiere wären, die auf Dauer lastig geworden waren!

"Ava! Sie sind doch keine Hunde!", rief Eva, brach aber gleich danach in einen Lachanfall aus. Dann wandte sie sich an Theresa und Nika. "Also, Ava und ich werden jetzt Mittagessen machen. Ihr könnt euch solange frei beschäftigen."

"Wie gnädig", murrte Theresa und schob Stift und Papier von sich. Gerne hätte Nika ihr laut zugestimmt, doch trotz aller Wut hielt sie sich zurück. Noch mehr Kopfschmerzen konnte sie nicht gebrauchen.

Unschlüssig, was sie tun sollte, rutschte sie vom Stuhl und ging zur Fensterfront hinüber. Heute schien die Sonne nicht, was die triste Atmosphäre der Stadt nur noch verstärkte. Aber den Androiden konnte das egal sein, schließlich waren sie nicht mehr als eine billige Kopie der menschlichen Spezies. Nika war sich todsicher, dass sie keine Gefühle haben konnten und nicht mehr als Schauspieler waren.

Allerdings... Für wen spielten sie dann? Für wen erhielten sie diese Fassade aufrecht?

Theresa erlöste Nika von diesem erneuten Chaos in ihren Gedanken. Sie legte einen Arm um Nikas Schultern und kam mit ihrem Gesicht ungewohnt nah an das von Nika. Ihren Atem auf der Wange zu spüren, verursachte ein leichtes Kribbeln unter Nikas Haut.

"Ich hatte so Angst...", wisperte Theresa plötzlich.

"Was?", fragte Nika, um einiges lauter als Theresa. Sie war verwirrt, einerseits, weil Theresa scheinbar komplett aus dem Zusammenhang begonnen hatte, zu sprechen, andererseits, weil ihre Wut auf die Androiden plötzlich verschwunden war.

"Ich hatte so Angst um dich, als du einfach bewusstlos geworden bist... Und als du dann weg warst... Ich hatte keine Ahnung, wie es dir ging... Ich bin so froh, dass es dir gut geht. Und ich verspreche dir, wir kommen hier wieder raus." Sie ließ ihren Kopf an Nikas Schulter senken und schmiegte sich an sie.

Nika fühlte sich, als wäre sie eine vollkommen andere Person als zuvor. Beinahe, als würde sie unter Strom stehen, wie die Androiden. Ihre ganze Haut kribbelte, wo Theresa sie berührte.

Es war, als wäre sie kurz darauf vom Balkon im Schlafzimmer gefallen: Kaum hatte Theresa sie losgelassen, schien es, als würde die Schwerkraft plötzlich wieder auf sie wirken und sie zu Boden ziehen.

Dies verstärkte die allgemeine Angst und Verwirrung, die sich nun seit einiger Zeit in Nika ausgebreitet hatte. Was war das gerade für ein Hochgefühl gewesen? Hatten die Androiden ihr etwa unbemerkt eine Droge verabreicht?

Mit einer Gänsehaut auf den Armen ging Nika zurück zum Tisch und ließ sich auf ihren Stuhl sinken. Ihre eigenen Stimmungsschwankungen machten ihr Angst, da sie einfach keine Erklärung für sie hatte.

Theresa schien das Ganze anders wahrzunehmen. Grinsend setzte sie sich zu Nika. "Du bist so süß, wenn du rot wirst", kicherte sie. Doch nur wenige Sekunden später schien ihr bewusst zu werden, dass Nika mit ihren Reaktionen nicht übertrieben hatte, sondern wirklich keine Ahnung mehr hatte, was ihr geschah.

"Hey. Tut mir leid, Nika, ich wollte dir keine Angst machen. Alles ist gut", sagte sie beruhigend, als auch schon Ava wieder in den Raum kam, ein Tablett mit Geschirr in den Händen. Eva folgte ihr mit einigen Flaschen.

"Das Wetter ist so schön, wir wollen draußen essen!" erklärte sie freudig.

Missmutig folgte Nika den beiden Androidinnen mit dem Blick. Sie wunderte sich nicht einmal mehr darüber, dass die Balkontür sich einfach so öffnete, ohne dass Ava auch nur die Hand ausstrecken musste. Die Fliesen des Balkons waren so hell, dass es beinahe in den Augen wehtat, sie nur anzusehen.

"Wir haben mal eine alte Werbung noch aus euren Zeiten gefunden, da habt ihr auch noch draußen gekocht. Also, ihr habt es 'grillen' genannt."

"Wir?", spottete Theresa, woraufhin Ava, die nicht einmal angesprochen worden waren, die Augen verdrehte.

"Das hatten wir schon mal, Mädchen", sagte sie genervt, als sie wieder ins Wohnzimmer trat. "Wir reden nicht über euch beide, wir reden über Menschen an sich."

Bevor die beiden ihr Streitgespräch weiter fortsetzen konnten, griff Eva nach Avas Arm und eilte mit ihr in die Küche. Die Tür flog zu und man konnte nicht genau verstehen, was Eva Ava an den Kopf warf, doch aus ihrem Tonfall ging deutlich hervor, dass es nichts Nettes war.

"Eva ist eigentlich gar nicht so schlimm", bemerkte Theresa. "Wenn Ava nicht wäre, wäre das hier glaube ich gar nicht so schlecht."

Ohne wirklich darüber nachdenken zu müssen, kam Redmond Roseberg in Nikas Gedanken. Mit einem genervten Schnauben schüttelte sie den Kopf. "Schwachsinn. Das hier ist schrecklich."

Theresas Blick wurde leer. "Weiß ich. Das war auch nicht ernst gemeint."

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