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Noch während Nika versuchte, die Eindrücke - hohe Häuser, gleißende Lichter und akkurat gekleidet Menschen, beziehungsweise Androiden, die geschäftig von links nach rechts eilten - zu verarbeiten, zerrten die Androiden sie bereits weiter.

Sie passierten einige der riesigen Häuser und gelangten auf eine andere, viel breitere Straße, auf der sogar Autos fuhren.

Nika hatte noch nie ein fahrendes Auto gesehen. Ein paar alte, ausgeschlachtete Exemplare standen zwar noch in der Nähe ihrer Zuflucht herum, schließlich war diese mal ein Touristenziel gewesen, aber bei denen konnte sich Nika nicht einmal in Träumen ausmalen, wie sie noch fuhren.

Der nette Android hatte ihren Blick auf die Autos bemerkt. "Alles Elektroautos", sagte er mit einem Anflug von Stolz. "Ihr Menschen habt ja echt lange an euren Benzinschleudern festgehalten, besonders wenn man bedenkt, wie fortschrittlich ihr in anderen Bereichen wart..."

Nika nickte und versuchte, zu überspielen, dass sie eigentlich keine Ahnung hatte, wovon der Android redete. Sie war eh schon auf etwas vollkommen anderes konzentriert. Als sie den Kopf ein wenig in den Nackenhaare gelegt hatte, um zu sehen, wie hoch die Häuser waren, waren ihr die bunten Lichter aufgefallen, die rasend schnell von einer Richtung in die andere flogen.

"Flugzeuge", bestätigte Valen ungefragt ihren Verdacht. "Oder so etwas ähnliches zumindest."

Der Android begann zu kichern. "Flugzeuge sind altmodisch. Wir benutzen sie nur noch für Langstreckenflüge und Urlaubsreisen, weil sie bisher die Verlässlichsten sind. Das da oben sind Kolibris."

Nika wusste, dass es unangemessen war, aber trotzdem verdrehte sie die Augen. Was auch immer dort oben flog, sie verabscheute es. Wenn sie es richtig verstanden hatte, hatten die Androiden sie nur entdeckt, weil eines dieser Dinger mehr oder weniger in der Nähe ihrer Zuflucht abgestürzt war.

Ein wenig abseits diskutierten die Androidin und der schweigsame Android. "Sollten wir ihnen nicht erst Zeit geben, sich auszuruhen? Wir waren ziemlich lange unterwegs..."

"Ach sei still, das waren doch nur fünf Tage. Außerdem glauben sie eh, dass es nur einer war. Die werden es nicht wagen, sich zu beschweren."

"Aber sie sind Menschen!", empörte sich der Android, doch Nika merkte deutlich, dass er seine eigene Überzeugungskraft anzweifelte. Kein Wunder, bei dem unerschütterlichen Verhalten der Androidin.

Als sich Nika wieder umwandte, fiel ihr Valens misstrauischer Blick auf. Er schien die Diskussion schon länger verfolgt zu haben. Er bemerkte, dass seine Schwester ihn anstarrte und griff, so gut es eben mit gefesselten Händen ging, nach den ihren.

"Valen?", fragte Nika beunruhigt. "Was ist los?"

Es musste die Atmosphäre in der Stadt sein. Bisher hatten sie sich sicher sein können, dass die Androiden bis auf das schmerzhaft hohe, laute Summen unbewaffnet waren. Zwar hatten sie demonstriert, dass sie auch durchaus in der Lage wären, ihre Geiseln mit bloßen Händen zu töten, jedoch keine Andeutungen gemacht, dies im Sinn zu haben.

Wie sollte man sie aber hier in der Stadt einschätzen? Hier wimmelte es nur so von Androiden, die auf dem Gehweg herumliefen, aus den Fenstern der vorbeifahrenden Autos schauten oder wahrscheinlich auch aus den beleuchteten Fenstern der Hochhäuser. Was würde passieren, wenn einer von den Androiden einfach eine Waffe ziehen würden? Sicher würde keiner versuchen, die Gruppe von Menschen zu schützen.

"Theresa", sagte Valen plötzlich neben Nika. "Komm her." Verwirrt gesellte sich die Dunkelhaarige zu ihnen. "Ihr beide bleibt in meiner Nähe", knurrte Valen.

"Was ist mit ihm?", fragte Theresa und nickte zu dem Jungen hinüber.

"Ich kenne ihn, für ihn gibt es eh keine Hoffnung", entgegnete Valen kalt. Nika fiel seine Anspannung auf, die sich beinahe sofort auch auf sie übertrug. Sie drückte seine Hand fester. Letzten Endes war er immer noch der Einzige, auf den sie sich verlassen konnte.

Ihr fiel ein, was Theresa gesagt hatte. Dass sie es durchaus für möglich hielt, die Androiden würden sich nun dafür rächen wollen, dass Menschen sie damals nur dazu gebaut hatten, um ihnen auf die ein oder andere Weise zu dienen. Nika war nicht sicher, wie genau sie sich das vorstellen sollte, doch sie ergriff eine plötzliche Angst um ihren Bruder.

Würde man sie zu Sklaven machen, wäre Valen mit seinem lahmen Bein und der verletzten Hand nahezu nutzlos. Ob ihm dieser Gedanke auch gekommen war? Oder war es allein die nächtliche Kälte, die seine starke Gänsehaut verursacht hatte?

Mit zitternden Knien setzte Nika einen Fuß vor den anderen und versuchte, sich wieder zu beruhigen. Wäre das Ziel der Androiden, sie zu töten, wäre das vermutlich schon lange geschehen. Es sei denn...

Nika war ein Gedanke gekommen, für den sie sich am liebsten geohrfeigt hätte, wobei sie genau so nah daran war, sich zu übergeben. Was, wenn die Androiden eine öffentliche Hinrichtung planten?

Als eine Art Symbolakt, um zu verdeutlichen, dass die Menschen keine Chance mehr hatten... Vor Nikas innerem Auge entstand das unschöne Bild eines Galgens und wie sie, Valen, Theresa und der Junge, von Androiden bewacht, davor in einer Schlange warteten.

Das erste Mal spürte sie, wie sich Tränen in ihren trockenen Augen sammelten. Ein wenig verschwommen sah sie, wie die Androidin sie anstarrte, also blinzelte sie heftig, um die Tränen loszuwerden.

Ihrem Bruder war dies natürlich aufgefallen. Er hielt Nika an und legte, soweit es ging, die Arme um sie. "Bitte Nika... Nikki... Hab keine Angst", flüsterte er. Es war beinahe, als würden nun Wasserfälle über Nikas Wangen laufen.

"Ich habe Angst!", gab sie das erste Mal offen zu. "Ich will weg von hier!" Wie ein Kind weinte und schrie sie. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass die drei Androiden stehengeblieben waren und zu ihnen sahen.

Das Summen war wieder da, doch nicht so stark wie die Male zuvor. Mit zusammengekniffenen Augen drückte sich Nika an Valens Schulter und schrie, schrie, um all den Schmerz, körperlich sowohl als auch seelisch, herauszulassen.

Das Summen wurde nun doch wieder stärker. Nika ging, noch immer an ihren Bruder geklammert, in die Knie und drückte das Gesicht in Valens Shirt. Seine Arme schlossen sich fest um ihre Schultern und Nika wünschte sich nicht sehnlicher, als das Vertrauen zurückzubekommen, dass er ihr durch sein Anfreunden mit den Androiden genommen hatte.

Das Summen ließ langsam nach, doch Valens Umarmung lockerte sich nicht. Worüber Nika ganz froh war.

Eine Hand strich unbeholfen über ihren Kopf. Mit verheulten Augen blickte Nika nach oben und sah in Theresas Gesicht. Mit einem milden Lächeln ließ diese ihre Hand ein letztes Mal über Nikas Haar streichen.

Nika war unsicher. Was sollte sie jetzt von Theresas Geste halten? Ihr war klar, dass sie es nur gut gemeint hatte und sie hatte trösten wollen, doch irgendwie missfiel Nika das.

Valen war alles, was Nika noch hatte. Und auf keinen Fall wollte sie, dass jemand ihr dies auch noch nahm; den letzten Rest ihrer Familie.

Mit weichen Knien versuchte Nika, sich an Valen hochzuziehen. Wie kam sie überhaupt auf den Gedanken, dass es ihr schadete, nur noch Valen zu haben? Ihres Wissens nach hätte ihr Vater auch ein Massenmörder gewesen sein können und ihre Mutter eine Komplizin der Androiden.

Valen redete nie über ihre Eltern, auch wenn er sie gut gekannt haben musste, schließlich musste er bei ihrem Tod mindestens dreizehn Jahre alt gewesen sein. Mindestens.

Nika wusste nicht einmal, ob ihre Eltern wirklich tot waren. Sie hatte schon mehrmals versucht, eine Antwort auf diese Frage von Valen zu bekommen, doch wenn sie ihn direkt darauf angesprochen hatte, hatte er nur gesagt, dass ihre Eltern weg seien. Keine Spezifikationen.

Valen ergriff, so gut es mit den gefesselten Händen ging, ihren Oberarm. Theresa tat dasselbe auf Nikas anderer Seite und die beiden zogen sie wieder auf die Füße. Noch etwas schwankend zwang sich Nika zu einem Lächeln in Theresas Richtung. Theresa konnte nichts für ihre wirren Gefühle und wollte nur helfen. Außerdem war sie zurzeit eine der wenigen, denen Nika glaubte, vertrauen zu können. Schließlich war auch sie ein Mensch und bloß ungewolltes Opfer der Androiden.

Letztere warteten noch immer darauf, dass sich ihre drei Geiseln endlich wieder in Bewegung setzten. Besonders für die Androidin wirkte dies geduldig.

Langsam machte Nika die ersten Schritte. Ihre Augen waren noch immer mit Tränen gefüllt, die ihr die Sicht etwas erschwerten, und sie zitterte am ganzen Körper.

"Könnt ihr nicht wenigstens Nika die Fesseln abnehmen? Bitte?", wandte sich Valen an die Androiden. Mit fragendem Blick sah der Nette zu der Androidin. Sie verdrehte die Augen, nickte dann aber.

Der Android kam zu Nika herüber und zertrennte die Fesseln. Valen dankte ihm lächelnd, doch Nika war dazu nicht mehr in der Lage. In ihrem Kopf drehte sich alles und ihr Körper schien von Sekunde zu Sekunde schwächer zu werden.

Sie blickte zu der Androidin hinüber. Täuschte sie sich oder grinste der Roboter sie wirklich so boshaft an? Löste sie etwa diese Kopfschmerzen aus? Nach Nikas Vorstellung würde dies durchaus im Bereich des Möglichen liegen.

Valen ging etwas in die Knie und bedeutete seiner kleinen Schwester, einen Arm über seine Schultern zu legen. Den anderen legte sie um Theresa. Auf die beiden gestützt, humpelte sie hinter den Androiden und dem Jungen her.

Die Androiden führten sie zu einer in den Boden hinab führenden Treppe. Sie erinnerte Nika an den Tunnel, durch den sie in die Stadt gelangt waren, jedoch leuchtete ihnen aus dem umzäunten Loch im Boden ein kaltes Licht entgegen.

Ganz plötzlich misstrauisch geworden ließ die Androidin das Dreiergespann vor sich in den Tunnel hinabsteigen.

Nika spürte, wie ihre Übelkeit mit jedem Schritt in die Tiefe nachließ, bis es schließlich nur noch ein leichtes Stechen in der rechten Schläfe war. Trotzdem war sie dankbar, sich noch immer auf Valen und Theresa stützen zu können.

Über ihnen dröhnten die Motoren der Autos und Nika begriff, dass der Tunnel unter der großen, breiten Straße hindurch führen musste.

"Sollten Elektroautos nicht sehr leise sein?", heuchelte Valen den Androiden ein weiteres Mal Interesse vor. Jedenfalls hoffte Nika, dass sein Interesse nur Heuchelei war.

"Waren sie auch, aber das war mit der hohen Geschwindigkeit zusammen einfach zu gefährlich. Wir hatten viele Unfälle, weil man die Autos im Voraus einfach kaum hören konnte. Also machen sie jetzt künstliche Motorengeräusche."

Valen nickte und wartete, bis sich der Android wieder abgewandt hatte. "Nika. Bitte nimm das nicht so schwer. Du musst mir jetzt einfach vertrauen", wisperte er dann in ihre Richtung.

Nika fragte sich gerade eher, warum die Androiden so fehlbar schienen. Ständige Unfälle, nur weil man die Autos nicht hören konnte? Warum waren die Androiden bloß den Menschen so ähnlich? Nika kannte sich nicht wirklich mit Androiden aus, doch es müsste ihnen doch eigentlich möglich sein, perfekt zu sein...

Sie hatten das andere Ende des Tunnels erreicht und stiegen die Treppe hinauf, wobei Nikas Kopfschmerzen mit jeder Stufe schlimmer wurden. Auf Hälfte der Treppen waren sie so schlimm, dass Sternchen vor ihren Augen tanzten und sie sich nur dank ihrem Bruder und Theresa aufrecht halten konnte.

"Nika, was ist los mit dir?" Zu Nikas eigener Überraschung kam diese Frage nicht von Valen, sondern von Theresa. "Bitte, nehmt uns die Fesseln ab, wir müssen ihr helfen!"

Plötzlich war die Stütze auf Nikas linker Seite verschwunden. Schwankend schloss sie den Arm eng um Valens Nacken, damit sie nicht fiel. Jedenfalls kam es ihr so vor, als ob die sich festhalten würde. Trotzdem lag sie Sekunden später auf den Treppen, nicht nur mit Schmerzen im Kopf, sonder auch im Rücken und besonders der Seite.

Keuchend nahm sie mehrere tiefe Atemzüge, von denen sich jeder anfühlte, als würde sie Feuer inhalieren. Theresa ging neben ihr auf die Knie und schob die Arme unter Nikas Oberkörper.

Eigentlich wollte Nika ihr helfen, sich aus eigener Kraft aufrichten, doch was sich für sie anfühlte, als würde sie ein ganzes Pferd stemmen, waren in Wirklichkeit nur ein paar lasche Armbewegungen. Geschlagen musste sie sich auf Theresas Hilfe verlassen.

Während diese verzweifelt versuchte, Nika aufzuhelfen und dabei nach Valen rief, fielen ihre langen Haare Nika ins Gesicht. Jedes kleinste kitzeln der Haarspitzen fühlte sich auf ihrer Haut an wie eine winzige Nadel, die sie stach.

"Was ist mit ihr los?", hörte Nika Valen brüllen, bevor auch er neben ihr saß. "Nika, kannst du mich hören?"

Nika rang sich zu einem Nicken durch. Am liebsten hätte sie einfach das Bewusstsein verloren, und wäre erst wieder aufgewacht, sobald sie wieder zuhause in ihrer Zuflucht war. Doch trotz aller Schmerzen blieb ihr dies vergönnt.

Valen hob sie hoch. Obwohl Nikas Orientierungssinn mittlerweile zu wünschen übrig ließ, merkte sie doch, wie er ebenfalls schwankte, jedoch lag es bei ihm vermutlich an seinem Bein.

Ein zweites Gesicht tauchte über ihr auf, das eines Androiden. "Ich will nur helfen", sagte er beruhigend. Widerwillig ließ Valen ihn seine kleine Schwester tragen, entfernte sich jedoch kaum einige Dezimeter von dem Androiden.

"Hey, Valen, ist ja gut!", rief Theresa. Valen hatte sie am Handgelenk ergriffen und zog sie mit sich.

"Du wirst dich keinen Millimeter von mir weg bewegen. Nicht einmal für 'ne Sekunde, nicht bevor es Nika wieder gut geht", herrschte er sie an.

Nika war bewusst, dass dies ein echt unpassender Moment war, doch trotzdem meldete sich ihre Eifersucht. Warum beschützte Valen Theresa jetzt so sehr?

Sie versuchte, sich dies trotz ihrer Lage rational zu erklären.

Theresa und der Junge - an dem Valen nach wie vor kein Interesse zeigte - waren von den beiden Geschwistern abgesehen die einzigen Menschen hier und somit auch die Einzigen, denen man wirklich vertrauen konnte. So nett der eine Android auch war, ihm konnte man nicht vertrauen. Dann war es doch eigentlich klar, dass Valen seine Verbündeten genau so sehr wie seine Schwester schützen wollte.

Nika erhaschte einen kurzen Blick auf Valen. Dieser sah aus, als würde er den Androiden mit seinen bloßen Händen erledigen, sobald dieser Nika auch nur ein Haar krümmen würde.

Ein wenig beruhigt ließ Nika den Kopf wieder in den Nacken sinken. Valen war immer noch bereit, für sie über Leichen zu gehen. Sie fühlte sich ein wenig schlecht, da sie vor wenigen Stunden noch an seiner Treue gezweifelt hatte, die er jetzt gerade an den Tag legte.

Die Kulisse über ihr wechselte von Tunnel zu Nachthimmel und Wolkenkratzern. Das Licht aus den Fenstern der Häuser blendete Nika so sehr, dass sie nicht einmal die Sterne am Himmel erkennen konnte. Nur die Lichter der hin und her sausenden Flugzeuge und... Kolibris.

Die frische Luft hier draußen tat gut. Nika konnte wieder einigermaßen normal atmen. Zwar fiel ihr es noch immer sehr schwer, zu reden, doch sie nuschelte: "Valen... Mir geht's gut."

Valen lachte bitter. "Oh bitte, das glaubst du doch wohl selber nicht. Bleib ganz ruhig, dir wird es bald wieder besser gehen. Nicht?", fauchte er den Androiden an.

Dieser blieb gelassen und antwortete nur mit einem Nicken. "Will ich auch hoffen", knurrte Valen noch, bevor er den Blick wieder nach vorne richten musste. Die Androidin war vor einem Gebäude stehen geblieben und hielt nun die hohe Glastür auf.

Der eine Android und der Junge waren bereits drinnen, es folgte Theresa. Als sich Valen und der zweite Android mit Nika auf dem Arm näherten, hätte Nika schwören können, dass die Androidin sie schleimig angrinste.

Ein Schwall warmer Luft kam ihnen entgegen und plötzlich wurde Nika endlich von der Bewusstlosigkeit übermannt.

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