- IV -

Nika fiel beinahe die Kinnlade herunter.

Die Androidin hatte sich aus dem Flugzeugwrack ein dickes, festes Seil geholt und es an einem Baumstamm befestigt. Bereits dann war Nika von ihrer Kraft überrascht gewesen, denn das Seil sah schwer und wenig beweglich aus.

Doch dann hatte sie sich das andere Ende des Seils gegriffen, Anlauf genommen und hatte sich einfach mit einem riesigen Satz über die Schlucht katapultiert.

"Was zur Hölle...?", sagte Theresa. Auch ihr stand wortwörtlich der Mund offen. "Wie macht die das bitte?"

Sie beobachteten, wie die Androidin das Seil festzog, so fest, dass sich der Baum, an dem sie das eine Ende des Seils befestigt hatte, bog.

Nachdem sie auch das zweite Seilende an einem Baum befestigt hatte, bedeutete der eine, eher stumme Android den Geiseln, auf das Seil zu klettern.

Valen deutete wortlos auf sein rechtes Bein. "Du kannst meilenweit laufen, dann kannst du wohl auch über so ein Seil klettern", spottet der nettere Android. "Na los."

Valen trat trotzdem etwas zurück und ließ stattdessen Theresa den Vortritt. Als sie dabei an Nika vorbeiging, zischte Nika: "Theresa, was ist denn bitte mit dir los?"

"Nichts zu verlieren", murmelte Theresa zurück und schwang sich an das kräftige Seil.

Nika trat vorsichtig ein Stück näher an den Abgrund. Theresa hangelte sich bereits langsam, aber in einem gleichmäßigen Rhythmus hinüber zum anderen Ende des Seils - auf die andere Seite der Schlucht.

Mit zitternden Knien trat Nika an das Seil und griff danach. Es befand sich etwa auf Höhe ihrer Stirn. Ihre Hände waren schweißnass und rutschten beinahe ab.

Plötzlich stand Valen neben ihr. "Nika, hab keine Angst. Ich bin direkt hinter dir." Er sah sie an, in seinem Blick lag eine der Situation beinahe schon unangemessenen Ruhe.

In den Händen von unberechenbaren, seltsamen Maschinen, und nun sollten sie über diese Schlucht dort klettern? Woher sollten sie sich sicher sein, die Androiden würden nicht einfach das Seil zertrennen, sobald sie auf dem Weg auf die andere Seite waren?

Nika rieb ihre Hände an der verschmutzten Hose ab und warf Valen einen Blick zu, der eigentlich ihre Wut hatte verdeutlichen sollen, doch sie war kurz davor, in Tränen auszubrechen.

Ihr Bruder ergriff ihre Hand und legte sie an das Seil. "Ich bin direkt hinter dir."

Unsicher blickte Nika zu Theresa. Sie war bereits halb über die Schlucht hinweg. Doch das Seil schwankte hin und her, ihr langes Haar wehte um ihren Kopf herum und erschwerte es ihr sichtlich, ihr anfängliches Tempo beizubehalten.

Nika schwang ihre Beine über das Seil und machte die ersten Griffe. Sie spürte, wie auch Valen sich direkt nach ihr an das Seil hängte. Es schwankte und Nika umklammerte die stählernen Stränge fester.

Vorsichtig schob sich Nika einige Zentimeter in Theresas Richtung. Das Seil schürfte in ihren Kniekehlen. Zögerlich warf Nika einen Blick nach unten.

Sofort bereute sie es. Sie hing jetzt über dem Abgrund. Von weit unten hörte sie das Rauschen des Flusses, der von hier oben ganz anders aussah.

Ihr fielen die spitzen Felsen auf, die überall im Wasser aus der Strömung aufragten. Würde sie auf einen dieser Steine fallen, würde das den sofortigen Tod bedeuten.

Auch am Rand des Flusses bildeten die Felsen Zacken; falls Nika es schaffen sollte, bei einem Fall im Wasser zu landen und das zu überleben, würde die sichtlich starke Strömung sie direkt gegen diese Felsen schleudern. Vielleicht nicht tödlich, aber mit den vermutlich daraus resultierenden Verletzungen würde Nika mit hundertprozentiger Sicherheit ertrinken.

Sie versuchte angestrengt, sich von der Angst vor dem Herunterfallen abzulenken und drehte mühevoll ihren Kopf, sodass sie zu Theresa sehen konnte. Diese bewegte sich noch immer so sicher, als ob sie nie etwas anderes getan hätte, als sich an Seilen entlang über Schluchten zu hangeln.

Augen zu und durch, schoss es Nika durch den Kopf. Nicht nur einmal hatte sie diesen Spruch in ihrer Zuflucht gehört. Tagtäglich standen dort unangenehme Aufgaben an, wie das Entmisten der Tierställe oder das Ausnehmen der Innereien von Fischen. Der Spruch war zu einer Art gemeinschaftlichen Mantra geworden.

Nika entschied sich, es wörtlich zu nehmen. Sie atmete tief durch und schloss die Augen. Der Wind pfiff ihr um die Ohren, als sie langsam eine Hand am Seil entlang schob, bis ihr Arm gestreckt war. Dann die andere Hand. Mit überraschend geringer Anstrengung zog sie ihren Körper nach.

Zu keiner Sekunde lösten sich ihre Hände von dem kalten, rauen Stahlseil. Die einzelnen, dünnen Stränge, die miteinander zu dem dicken Seil verdreht waren, drückten sich tief in ihre Haut. Diese war an einer Stelle so trocken, dass sie blutete, sobald Nika ihren Körper nachgezogen hatte. Sie fühlte, wie die warme Flüssigkeit über ihr Handgelenk und dann in ihren Ärmel tropfte.

Als Nika sich nicht direkt weiterbewegte, berührte Valen sie am Schienbein. "Nikki, alles in Ordnung?", rief er über den Lärm des rauschenden Wassers und des Windes hinweg.

Nika atmete tief ein und zog sich weiter. Ohne auch nur ein einziges Mal die Augen zu öffnen, zog sie sich Stück für Stück weiter. Sie spürte, dass das Seil stärker hin und her schwankte, je weiter sie sich bewegte.

Schwer atmend kämpfte sich Nika weiter. Ihre Arme begannen zu schmerzen und ihre Beine fühlten sich taub an. Als Nika dies bewusst wurde, begann sie, schneller zu werden. Die Angst vor dem Herunterfallen war sofort wieder präsent.

Entschlossen schaltete Nika jeden Gedanken ab und konzentrierte sich einzig und alleine darauf, sich nach vorne zu bewegen.

Mühevoll kämpfte sie sich weiter, spürte, wie die Bewegung des festen Seils endlich wieder weniger wurde, öffnete dennoch die Augen nicht, bis sie plötzlich etwas an der Schulter spürte.

Sie blinzelte und hätte beinahe das Seil losgelassen, als sie in die dunklen Augen der Androidin blickte. Das wäre gar nicht einmal so verheerend gewesen, zumal sie sich jetzt endlich wieder über festem Boden befand.

Erleichtert ließ sich Nika fallen - wortwörtlich. Sie landete unsanft auf dem Rücken und sah nun hinauf zur lachenden Androidin. "Ach du scheiße... Warum sind solche unfähigen Kreaturen bitte genau das, was sie wollen?"

Nika verstand nicht genau, wovon die Androidin da redete, doch sie spürte den starken Drang, ihr eine schallende Ohrfeige zu verpassen. Zum Glück hielt ihr Verstand sie davon ab.

"Komm, steh auf." Theresa stand nun ebenfalls über sie gebeugt und hielt ihr die Hand entgegen. Dankbar ergriff Nika sie und ließ sich auf die Füße ziehen.

Dann warf sie einen Blick zurück. Valen war deutlich langsamer als sie und noch immer recht weit von dieser Seite der Schlucht entfernt. Der Junge hatte sich erneut weigern wollen, doch die beiden Androiden hatten ihn letzten Endes dazu gebracht, ihren Anweisungen zu folgen.

Von der unsanften Landung schmerzte Nika der Rücken. Darauf konzentriert, ruhig und gleichmäßig zu atmen, folgte sie der Androidin, die sie bereits mit einer Geste dazu aufgefordert hatte.

Eigentlich hatte sie erst noch warten wollen, bis auch Valen wieder sicheren Boden unter den Füßen hatte, doch die Ungeduld, die die Androidin an den Tag legte, verdeutlichte, dass dies vermutlich keine gute Idee gewesen wäre. So stakste sie über einiges Geäst, das wohl mal ein Sturm von den Bäumen gerissen hatte, hinweg zu Theresa und der Androidin.

Valen folgte einige Augenblicke später und schließlich auch der Junge und die beiden anderen Androiden. Einer von jenen machte sich kurz am Seil zu schaffen, löste es vom Baum und ließ das lose Ende in die Schlucht hinabfallen. "Damit uns auch ja keiner von euren kleinen Freunden folgt", erklärte er, an niemand bestimmten gerichtet.

Nika fragte sich, wie er auf den Gedanken kam, jemand würde das wirklich tun wollen. Zwar galt in ihrer Gemeinschaft eine gewisse Loyalität und man versicherte immer wieder, wie man niemals einen der anderen an Androiden verraten würde, doch Nika traute niemandem - mit Ausnahme von Valen - zu, dass er ausgerechnet sie retten wollen würde. Denn Theresa hatte nach eigener Aussage niemanden mehr und soweit es Nika bekannt war, hatte der Junge auch keine sonderlich loyale Familie. Wer würde ihnen also helfen wollen?

Schweigend setzte die Gruppe ihren Marsch ohne weitere Unterbrechungen fort. Nika fühlte sich elendig und hätte nichts lieber getan, als sich einfach auf den Boden fallen zu lassen, doch kaum machte sie auch nur einmal die kleinste Andeutung dazu, ließ das schrille Summen ihren Kopf förmlich explodieren.

Die Sonne ging bereits unter und Nika fröstelte, sodass Valen ihr und Theresa schon seine Lederjacke und die Sweatshirtjacke, die er darunter trug, angeboten hatte. Die beiden Mädchen hatten dankbar angenommen.

Als es längst so dunkel wurde, dass Nika nicht mehr erkennen konnte, wohin sie trat, hielten die Androiden sie an. Sie waren die einzigen, die es geschafft hatten, nicht mindestens einmal über eine Baumwurzel oder dergleichen zu stolpern. Wenigstens ein kleines bisschen Unmenschlichkeit.

Erstmals hob Nika den Blick, um sich umzusehen. Der vorher dichte Wald lichtete sich langsam und einige Meter vor ihnen lag eine freie Fläche, überwachen von Gräsern, Blumen und kniehohem Gestrüpp. Die ganze Ebene war in ein seltsames, bläuliches Licht getaucht.

Zuerst dachte Nika, es wäre einfach nur das Mondlicht, welches die Szenerie erleuchtete, und dass die blaue Färbung des Lichts lediglich eine Täuschung ihrer übermüdeten Augen war, doch je länger sie die Wiese anstarrte, desto sicherer wurde sie, dass das Licht wirklich so blau war.

Verwirrt hob sie den Blick noch etwas weiter und sah hinaus in die Ferne. Mehrere hundert Meter auf der Fläche hinaus konnte sie dunkle Schemen ausmachen, die sich kaum vom nachtblauen Himmel abhoben. Sie erinnerten Nika entfernt an ihr Zuhause; an die hohen, sicheren Mauern der Burg.

Es dauerte einige Momente, bis sie begriff, dass diese Ähnlichkeit daran lag, dass es sich wirklich um Mauern handelte. Um meterhohe Betonwände, auf deren Oberseite sich, soweit Nika es aus der Entfernung erkennen konnte, Stacheldraht befand. War dies etwa eine weitere Zuflucht von Überlebenden?

Diese Theorie verwarf sie sofort wieder, als sie endlich die Quelle der blauen Lichter wahrnahm. Hinter den Mauern ragten unendlich viele Gebäude auf, so hoch, dass sie mit dem Himmel zu verschmelzen schienen.

All diese Eindrücke nahm Nika innerhalb weniger Sekunden wahr, in denen die zwei männlichen Androiden sich auf den Boden gekniet hatten. Die Androidin hatte begonnen, ihren Geiseln wieder Fesseln anzulegen. Diese hatten sie zuvor abgenommen, kaum dass sie die Burg verlassen hatten. Dem Junge und Valen hatte sie die Hände bereits vor dem Körper zusammengebunden.

Nervös ließ auch Nika zu, dass die Androidin selbiges mit ihr tat. Warum hielt sie es ausgerechnet jetzt für nötig, ihre Gefangenen wieder zu fesseln?

Kurz darauf hätte sie sich selbst dafür ohrfeigen können, dass ihr die Antwort auf diese Frage nicht direkt  eingefallen war und schob es auf ihr müdes Gehirn.

Natürlich war das dort vorne keine Zuflucht von Überlebenden. Das musste eine Festung von Androiden sein.

Angstvoll drückte sich Nika an Valen. Sämtliche Enttäuschung, die sie ihm gegenüber empfunden hatte, weil er mit den Androiden kooperiert hatte, war vergessen. Valen war immer noch der Einzige, auf den sie sich blind verlassen konnte.

Aus dem Augenwinkel fiel ihr auf, dass Theresa sich an Valens andere Seite gedrückt hatte, was ihr unter anderen Umständen wahrscheinlich missfallen würde, ihr in dieser Situation jedoch gleichgültig war.

Die Androiden hatten inzwischen unter Gras und Erde eine Falltür aus Metall freigelegt, die sie nun mühelos hochhoben. Sie gab den Blick auf einige Stufen frei, im Halbdunkel ohnehin kaum erkennbar, die hinab in tiefste Schwärze führten. Nika hatte das Gefühl, sich vor Angst übergeben zu müssen.

Die Androidin zog aus ihrer Jackentasche ein winziges Gerät, vielleicht so groß wie ein kleiner Finger. Sie drückte einen Knopf und ein blendend heller Lichtkegel breitete sich vor ihre Füßen aus.

Die Taschenlampe auf den Boden gerichtet trat sie an die Falltür und leuchtete ins Dunkel hinab. Von ihrem Standpunkt aus konnte Nika trotzdem nichts erkennen außer weiterer Stufen.

Valen war der Erste, der einen Schritt auf die Falltür zu machte. Seine Schwester erkannte, dass einer der Androiden sich hinter ihn, Theresa und Nika gestellt hatte, und ihn nun von hinten anstieß. Also traten sie zu dritt an die Stufen heran.

Sie waren mit Grünspan bedeckt und reflektierten feucht glänzend das Licht der Taschenlampe. Langsam machte Valen den ersten Schritt hinab in die Dunkelheit. "Sei vorsichtig, die sind wahrscheinlich ziemlich rutschig", riet ihm der nette Android.

"Merke ich", murmelte Valen, auf seine Schritte konzentriert.

Die Androidin bedeutete Nika, ihm zu folgen. Unsicher tat sie das auch. Aus dem Gewölbe unter der Erde wehte ihr ein muffiger, übler Geruch entgegen, als ob dort unten schon monate-, wenn nicht gar jahrelang keine frische Luft mehr hineingelangt war.

Valen bat die Androidin, die Treppen etwas besser zu beleuchten, doch sie seufzte nur genervt und ließ die Taschenlampe fallen. Nika musste sich einige Flüche in Richtung der Androidin verkneifen, doch Valen ging wortlos die letzten Stufen hinab, hob die Lampe vom Boden auf und beleuchtete die nassen, rutschigen Stufen.

Nika beeilte sich, ebenfalls das Ende der Treppe zu erreichen, und hielt sich nahe bei Valen, während auch die anderen folgten. Die Androiden ließen die Falltür über ihnen wieder zufallen.

Sie standen jetzt in einem Tunnel, der, bis auf den Bereich, der von der Taschenlampe beleuchtet wurde, stockdunkel war. Der nette Android kam zu ihnen. "Eigentlich würden wir ja mit dem Flugzeug wieder hineinkommen, aber das ist ja abgestürzt... Wir haben die Stadt von außen gesichert, weil manchmal einige von euch Menschen auf die dämliche Idee gekommen sind, uns anzugreifen. Das hier ist der einzige Weg, um ohne Flugzeug oder so mit euch reinzukommen."

Niemand reagierte auf die Erklärung. Nika starrte mit einem unguten Gefühl in den dunklen Tunnel. Wasser tropfte von der Decke hinab. Unsicher drückte sich Nika an ihren Bruder und bemerkte sogar, wie sich die Härchen auf seinen Armen aufrichteten, sobald die kalte, feuchte Oberfläche der Lederjacke seine Haut berührte.

Es herrschte ein unangenehmes Schweigen. Doch Nika traute sich nicht, es zu brechen. Sie hätte auch nicht gewusst, was sie hätte sagen sollen. Nur ihre Schritte hallten in dem Gang wieder.

Ab und zu war Nika nah dran, auszurutschen oder über einen der gelegentlich auf dem Boden Betonbrocken zu stolpern, fing sich jedoch immer wieder kurz vor dem Fall, indem sie sich an Valen lehnte. Mit den gefesselten Händen wäre sie sonst auch sicher mit dem Gesicht auf dem Boden gelandet.

"Wo sind wir?", fragte Theresa irgendwann rau.

"Die Stadt wurde noch von euch erbaut. Wobei ich sagen muss, dass sie zum Zeitpunkt, als wir sie übernommen haben, echt schrecklich aussah. Aber wir haben sie ja wiederaufgebaut. Es wird euch gefallen, glaubt mir", sagte der nette Android.

Nika zweifelte und versuchte, die Jacke, die ihr von den Schultern rutschte, wieder an ihren Platz zurückzubewegen. Ihr war nicht nur äußerlich kalt.

Sie folgten dem Tunnel, der scheinbar nur gerade verlief, ohne die geringste Kurve oder weitere, verbundene Tunnel. Nika fühlte sich innerlich tot.

Endlich gelangten sie an eine weitere Treppe, die nach oben führte. Die Androidin nahm Valen die Lampe wieder ab und richtete sie nach oben an eine weitere Falltür.

Die Androiden kletterten die Treppe hinauf und machten sich an der Falltür zu schaffen. Mit einem lauten Knarzen öffnete sie sich und kaltes, grelles Licht fiel in den Tunnel.

"Willkommen in Detroit", knurrte die Androidin.

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