- I -
Das erste Anzeichen waren blaue Lichter jenseits der Schlucht.
Die Sonne war längst untergegangen und der Wald war von der Nacht in tiefstes Schwarz gehüllt. Unten im Hof waren sämtliche Fackeln und Kerzen erloschen und nur ein Hund streunte über das unregelmäßige Pflaster.
Nika löste den Blick von dem umherschleichenden Tier und richtete ihn wieder auf die blauen Lichter, die sie gerade eben erspäht hatte. Es waren zwei, so klein, dass sie kaum noch zu erkennen waren. Sie waren so weit entfernt, dass Nika nicht genau sagen konnte, ob sie sich bewegten oder nicht.
Hinter sich hörte sie schlurfende Schritte die Treppe hinaufkommen und kurz darauf die Stimme ihres großen Bruders: "Hey Nika... Warum schläfst du denn noch nicht? Es ist spät..."
"Kann nicht", entgegnete Nika, ohne Valen auch nur eines Blickes zu würdigen. Erst nachdem sie sich vergewissert hatte, dass die Lichter nicht plötzlich verschwanden, drehte sie sich um.
Valen lehnte mit geschlossenen Augen im Türrahmen, die Arme vor der Brust verschränkt. Sein Haar war eine einzige, verfilzte Matte, seine Haut war von einer Staubschicht bedeckt und sein linkes Handgelenk war bandagiert. "Geh schlafen", murmelte er.
"Ja gleich. Kannst du dir das bitte mal angucken?" Sie deutete nach draußen, zur anderen Seite der Schlucht.
Valen öffnete die Augen wieder und schleppte sich zum Fenster hinüber. "Was ist denn?" Er folgte Nikas Finger mit dem Blick. "Und... Was soll da jetzt sein?"
"Da! Die Lichter!", beharrte sie. Mittlerweile war sie sich relativ sicher, dass die beiden Lichter sich bewegt hatten - flussaufwärts, also nach Norden.
Valen kniff die Augen zusammen und starrte in die Dunkelheit hinaus. "Oh." Er reckte sich und rollte die Schultern, dass seine Gelenke knackten. Plötzlich wirkte er, trotz der tiefen Augenringe, hellwach. "Komm da weg. Ab ins Bett mit dir."
Verunsichert durch seine jähe Alarmbereitschaft trat Nika ein paar Schritte zurück. Sie leistete keinen Widerstand, als Valen sie hinüber zu der auf dem Boden liegenden Matratze schob.
"Valen?!", fragte Nika, deren Verunsicherung mittlerweile zu Panik und Verwirrung wurde, die ihr Bauchschmerzen bereitete. Es war nicht das erste Mal, dass auf der anderen Seite der Schlucht Lichter auftauchten. So weit sich Nika erinnern konnte, war es heute das vierte Mal.
Die anderen drei Male hatte Valen mit nicht mehr reagiert als einem Schulterzucken. "Mach dir keine Sorgen", hatte er gesagt. "Solange sie auf der anderen Seite der Schlucht bleiben, können sie uns nicht schaden."
Und wenn Nika Angst geäußert hatte, sie könnten tatsächlich auf die andere Seite der Schlucht kommen, hatte er bloß den Kopf geschüttelt. "Hier gibt's keine nennenswerten Ressourcen. Und wenn sie uns nicht bemerken, haben sie keinen Grund, hierher zu kommen."
Dies war das erste Mal, dass seine Reaktion keineswegs ruhig und gelassen wirkte, was die leichte Angst, die Nika jedes Mal empfunden hatte, nur verstärkte.
"Ich muss gleich noch wieder nach unten", sagte Valen, so leise und gehetzt, dass Nika ihn kaum verstehen konnte. Das rechte Bein nachziehend ging er zurück zur Tür und sah Nika mit einem starren Gesichtsausdruck an.
Sie senkte den Blick und legte sich seufzend auf die Matratze. Die Gesichtszüge ihres Bruders glätteten sich wieder und er kam zurück zu ihr. "Hey", sagte er reuevoll. "Mach dir keine Gedanken. Ich will nur, dass du in Sicherheit bist, weißt du? Hier oben", er deutete um sich herum, "könnten sie uns sofort sehen."
Der Knoten in Nikas Magen wuchs. Die Gefahr, die Valen sonst kleinredete, schien ihm diesmal wirkliche Sorgen zu bereiten. Unruhig wandte sie den Blick zum Fenster, doch von ihrer Matratze aus sah sie bloß den dunklen Nachthimmel, übersät von tausenden von Sternen.
"Nikki." Mühevoll kniete sich Valen neben die Matratze und verzog dabei vor Schmerz das Gesicht. Nika tat es in der Seele weh, ihn so zu sehen. Tag für Tag gab er alles dafür, dass die Gemeinschaft hier sicher leben konnte. Auch wenn es ihn seinen Schlaf kostete. Zwar war sie stolz auf ihren großen Bruder, wünschte sich aber manchmal dennoch, er würde einfach sein wie die meisten anderen auch. Und mehr Zeit für sie haben.
"Nikki, alles ist gut. Sie werden nicht hierher kommen." Vorsichtig streckte er die Hände nach ihr aus und umarmte sie. "Alles ist gut...", wiederholte er und drückte Nika fester an sich.
Sie legte den Kopf an seine Schulter und schloss die Augen. Zwar roch er unangenehm nach Schweiß und Dreck, in diesem Moment war ihr dies jedoch egal. Obwohl sie ihn jeden Tag sah, vermisste sie ihn irgendwie.
Viel zu schnell schob Valen sie wieder von sich. "Schlaf gut, Schwesterchen. Bis morgen." Er erhob sich, humpelte wieder zur Tür und verschwand im Treppenhaus - dieses Mal ohne sich noch einmal umzusehen.
Während seine schlurfenden Schritte langsam leiser wurden, krabbelte die verängstigte Nika wieder von der Matratze herunter und schlich ans Fenster. Hier oben könnten sie uns sofort sehen, hallten Valens Worte in ihrem Kopf wider.
Vorsichtig zog sie sich an der Fensterbank hoch und spähte darüber hinweg. Im Dunkeln wirkte die tiefe Schlucht mit ihren gezackten Rändern wie der Schlund eines Riesen, immer geöffnet, hungrig, nur darauf wartend, das nächste Opfer zu verschlingen.
Ein Schauer lief Nika über den Rücken und sie suchte schnell mit den Augen nach den zwei blauen Lichtern. Sie hatten sich ganz sicher nach Norden bewegt und waren damit ihrem Lager näher gekommen. Näher als je zuvor.
Kopfschüttelnd ließ sich Nika zurück auf den Boden sinken. Sie mochten näher gekommen sein, doch das war nahezu unbedeutend - schließlich trennte sie noch immer die Schlucht voneinander. Gab es keinen Grund, sie zu überqueren, würden sie es auch nicht tun.
Nika wollte ihnen auch keinesfalls einen Grund dazu geben, also kroch sie zurück zur Matratze und zog die abgenutzte Decke über sich. Ein eiskalter Wind zog durch das brüchige Gemäuer und sie fror. Hoffentlich würde das Wetter bald besser werden...
Mit geschlossenen Augen versuchte Nika, sich selbst Mut zuzusprechen. Sie stellte sich vor, wie die blauen Lichter erst orientierungslos an der Schlucht herumirren würden und bald darauf wieder in den Tiefen des Waldes verschwinden würden.
Niemand hatte es je geschafft, die Schlucht zu überqueren. Zwar war sie nicht allzu breit, vielleicht zwanzig oder fünfundzwanzig Meter, doch das war immer noch zu breit, als dass man auf die andere Seite hätte gelangen können.
Mehrere Gruppen hatten bereits versucht, ans Ende der Schlucht zu gehen, sowohl in Richtung Süden als auch Norden. Sie waren tagelang, manchmal sogar wochenlang, von der Siedlung weg gewesen und erst wieder zurückgekehrt, wenn ihnen die Vorräte ausgegangen waren. Niemals hatten sie jedoch das Ende der Schlucht erreicht.
Aller Logik zu Trotz beruhigten diese Gedanken Nika kein bisschen. Einziger Grund dafür war Valens Verhalten.
Seine Reaktion auf die blauen Lichter ließ ihr einfach keine Ruhe, egal, wie oft sie sich von einer Seite auf die andere warf und ob sie sich nun unter ihrer Decke zusammenrollte wie eine Katze oder sich streckte, bis ihre Füße über die Matratze hinaus ragten.
Hinter ihren geschlossenen Lidern spielte ihre Fantasie verrückt. Sie sah blitzende, grellweiße Lichter, vor denen dunkle Silhouetten sich bedrohlich aufbauten. Dann einen pechschwarzen Hintergrund, vor dem dürre, blau leuchtende Gestalten hin und her huschten, die ihr ab und zu Blicke aus leeren, schwarzen Augenhöhlen zuzuwerfen schienen.
Frustriert riss Nika ihre Augen wieder auf. Nach ein paar Sekunden, als sie in der nächtlichen Dunkelheit wieder klar sehen konnte, fuhr sie nervös mit der Fingerspitze zwischen den Steinen entlang.
Sie starrte abwechselnd auf den Boden und durchs Fenster zum Sternenhimmel. Ihre Augenlider wurden schwer, ihr ganzer Körper fühlte sich schlapp an und sie versuchte wieder, einfach die Augen zu schließen und zu schlafen, doch es war zwecklos.
Nika gab auf. Sie konnte einfach nicht schlafen, solange sie keine Ahnung hatte, warum Valen heute so reagiert hatte und was er gerade tat. Die naheliegende Vermutung war, dass er den Ältestenrat versammelt hatte.
Die Mitglieder des Ältestenrats waren so etwas wie die Anführer dieser Siedlung. Früher, also bei der Gründung dieser Gemeinschaft, hatte dieser Rat wirklich aus den Ältesten bestanden, die sich diesem Lager angeschlossen hatten. Schließlich hatten sie den Krieg miterlebt und kannten den Feind besser als die anderen. Deshalb hatte dieser Zusammenschluss auch die Bezeichnung Ältestenrat bekommen.
Über die Zeit war jedoch klar geworden, dass die Ältesten einfach zu alt waren, um eine Siedlung mit so vielen Menschen vernünftig anzuführen und zu schützen. So wählten die Bewohner diejenigen, die diese Aufgaben übernehmen sollten.
Valen war vor vier Jahren in den Ältestenrat gewählt worden. Er hatte seitdem einen Großteil seiner Zeit, die er sonst mit seiner Schwester verbracht hatte, seiner Arbeit im Rat gewidmet. Viel zu viel Zeit, wenn es nach Nika ging, doch sie hatte keine Ahnung, wie sie Valen davon abhalten könnte, so oft in den Rat zu gehen.
Unten im Treppenhaus hörte sie endlich wieder seine schweren, schlurfenden Schritte. Sie zählte mit. Beim vierundzwanzigsten Schritt verharrte er und Nika wusste genau, dass er wieder im Türrahmen stand.
"Nika, warum schläfst du immer noch nicht?"
Nika rollte sich auf die andere Seite und sah zu ihm hinüber. Er sah noch erschöpfter aus als zuvor, falls das denn überhaupt möglich war.
"Komm her", sagte Valen und streckte die Hand aus. Nika schob die Decke von sich, erhob sich und griff nach seiner Hand. Sie war müde. Es war anstrengend, überhaupt auf ihren Füßen zu stehen.
Vorsichtig zog Valen sie zum Fenster hinüber. "Da. Da ist nichts mehr. Sie sind weg, Nikki."
Draußen, jenseits der Schlucht, war es stockdunkel. Keine Spur mehr von den zwei blauen Lichtern. Es war einfach nur dunkel.
Nika lehnte sich aus dem Fenster, um besser nach Norden und Süden an der Schlucht entlang sehen zu können. Auch dort war kein einziges Licht zu sehen, weder blau noch sonst eine Farbe. "Dann können wir ja jetzt schlafen gehen. Beide."
Wie ein gefällter Baum ließ sich Valen auf seine Matratze auf der anderen Seite des Raumes fallen. "Ab ins Bett, Nikki", murmelte er gedämpft.
Nika drehte sich wieder vom Fenster weg. Eigentlich müsste sie die Tatsache, dass die Lichter verschwunden waren, ja beruhigen, schließlich waren sie auch der Grund gewesen, dass sie Angst bekommen hatte. Zu ihrer eigenen Verwirrung war dies jedoch nicht der Fall, jedenfalls nicht im erwarteten Maße.
Zwar hatte sie nicht mehr so große Angst wie zuvor, doch stattdessen breitete sich Nervosität in ihr aus. Es hatte ihr ein merkwürdiges Gefühl der Sicherheit gegeben, zu wissen, wo sich die Lichter befanden. Diese Sicherheit war verloren, nun, da sie keine Ahnung hatte, wo die Lichter waren.
"Ist noch was?", tönte es von Valens Matratze herüber. "Sie sind wieder weg, du kannst mir vertrauen. Wir haben sogar mit dem Fernglas geguckt. Keine Spur mehr. Geh endlich ins Bett." Er richtete sich mühevoll auf und streckte stumm die Arme nach ihr aus.
Dankbar stürzte Nika zu ihm hinüber und schlang die Arme um ihn. Tränen brannten in ihren Augen und es kostete sie unglaubliche Mühen, nicht einfach loszuflennen und vor Angst zu schreien. Sie kam sich bereits vor wie ein kleines Kind, denn ihrem Alter war dieses Verhalten keineswegs angemessen.
Sie war immer noch viel zu sehr von ihrem großen Bruder abhängig. Keines der anderen Mädchen in ihrem Alter rannte noch zu großen Geschwistern, um sich trösten zu lassen. Keines der anderen Mädchen machte sich Sorgen wegen solcher Nichtigkeiten wie Lichter, die viel zu weit entfernt waren, als dass sie Gefahr bedeuten konnten.
Frustriert drückte Nika ihr Gesicht an Valens Schulter. Dieser sagte nichts außer ihren Spitznamen, den er immer und immer wieder vor sich hin murmelte.
Nach einer gefühlten Ewigkeit ließ er sie wieder los. "Schlaf gut. Ich hab dich lieb, Nikki."
"Ich dich auch... Gute Nacht", wisperte Nika und rutschte von seinem Schoß. Während sich Valen sofort zusammenrollte und die Augen schloss, ging Nika unschlüssig am Fenster vorbei um noch einen letzten Blick nach draußen zu werfen und dann endlich ins Bett zu gehen.
Das zweite Anzeichen war ein leises, sehr hohes Summen.
Kaum hatte sich Nika wieder einmal hingelegt und den Kopf auf die Matratze sinken lassen, nahm sie ein merkwürdiges Geräusch wahr. Ein Summen, wie von einer herumschwirrenden Fliege, nur sehr viel höher.
Nika versuchte, es loszuwerden, indem sie die Hände auf die Ohren presste, doch das machte keinen Unterschied. Es schien durch ihre Hände in ihren Kopf zu dringen, oder direkt in jenem zu entstehen. Genervt drückte sie die Hände fester an ihren Schädel.
"Valen?", wisperte sie, als nach mehreren Minuten bereits ihr Kopf begann, von dem Gesumme wehzutun. Sie hätte sich dafür verfluchen können, sich wieder einmal wie ein Kind zu benehmen, doch nach Valen zu rufen war schon so etwas wie ein Reflex geworden. Sie hatte schon immer nur Valen gehabt. Egal, was gewesen war, immer war es ihr großer Bruder gewesen, der sie beruhigt, sie getröstet oder ihr geholfen hatte. Die Gewohnheit, wegen jeder einzelnen Sache um seine Hilfe oder um seinen Rat zu bitten, hatte Nika bis heute nicht abgelegt.
Auf der anderen Seite des Raumes regte sich nichts. Valen war, erschöpft, wie er nun einmal war, innerhalb von Minuten in einen tiefen Schlaf gefallen. Nika konnte bloß seine schemenhaften Umrisse erkennen und seine tiefen, gleichmäßigen Atemzüge hören.
Es fühlte sich beinahe an, als ob jemand ihr Nadeln von innen gegen die Schädeldecke stechen würde. Und es schien auch keineswegs leiser zu werden oder gar ganz verstummen: eher das Gegenteil, denn mit jeder Sekunde wurde es lauter und penetranter.
Der körperliche Schmerz wuchs und wuchs, nicht nur aufgrund des ätzenden Geräusches an sich, sondern auch, weil Nika verzweifelt begonnen hatte, ihre Augen zu reiben und sich in die Ohrläppchen zu kneifen.
Plötzlich war es vorbei.
Zuerst fiel es Nika gar nicht auf, denn unbewusst hatte sie die ganze Zeit vor Schmerz vor sich hin gewimmert und geweint. Doch nach ein paar Momenten fiel ihr auf, dass ihr eigenes Geheule alles war, was sie hören konnte. Sie biss sich auf die Lippe und tat ihr Bestes, sich wieder zu beruhigen.
Natürlich hatte sie versehentlich Valen geweckt. Beinahe schon routinemäßig erkundigte sich jener, was los sei. Zwar konnte Nika seine Gesichtszüge in der Dunkelheit nicht erkennen, aber alleine seine Tonlage ließ darauf schließen, dass er mittlerweile keine Nerven mehr für die Probleme seiner kleinen Schwester hatte.
"Hast du das nicht gehört?", fragte Nika mit belegter Stimme.
"Was gehört? Nein, vermutlich nicht."
"Dieses... Dieses Summen. So wie 'ne Fliege oder Mücke."
Ein erschöpftes Seufzen. "Und deswegen machst du so einen Alarm? Wie alt bist du noch gleich? Nika... Bitte, ich will doch nur schlafen!" Er hatte sie bei ihrem richtigen Namen genannt. Nicht nur bei ihrem Spitznamen.
Es fühlte sich an wie eine weitere kleine Nadel, dieses Mal in ihrem Brustkorb. Sie atmete ein paar Mal zitternd durch und drehte sich wieder mit dem Rücken zu Valen. "Gute Nacht", sagte sie bitter. Sie hatte Valen noch nie so erlebt wie in dieser Nacht.
Trotz ihrer inneren Unruhe schloss Nika noch einmal die Augen um zu schlafen. Heute würde sie ihren großen Bruder nicht noch einmal stören.
Das dritte Anzeichen war eine weiße Stiefelspitze, die gegen Nikas Wange stieß.
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