How to... Plot/Handlung - Erzählperspektive

ERZÄHLPERSPEKTIVE
POV = "Point of View" (dt. Standpunkt, Perspektive, Sichtweise)

ALLWISSENDER ERZÄHLER
wird auch auktorialer Erzähler genannt

- Ich, Er/Sie oder Du
- weiß über alles und jeden Bescheid
- kann mitunter in Geschwafel (Tell = Erzählen) über Hintergrundinformationen/Worldbuilding verfallen, was Spannung rausnimmt und von den Charakteren distanziert, denen man eigentlich folgen soll/möchte
- Sichtwechsel jederzeit möglich, kann von Kopf zu Kopf springen, was jedoch schnell unübersichtlich wirken kann und nicht empfehlenswert ist, wenn man eine starke Verbindung zu vereinzelten Charakteren aufbauen möchte
- nur empfehlenswert, wenn man eine gute Mischung aus Exposition bzw. Erzählen und tatsächlicher Handlung (die Charakere sprechen miteinander, treffen Entscheidungen und werden generell aktiv) findet, wobei weniger erzählen natürlich mehr ist (das gilt für alle Erzähler)

Beispiel aus "Die Therapie" von Sebastian Fitzek (Seite 12-13)

[...] "Dr. Larenz?"
Marias Worte katapultierten Larenz in die Realität zurück, und er registrierte, dass er die Sprechstundenhilfe die ganze Zeit mit offenem Mund angestarrt haben musste.
"Was haben Sie mit ihr angestellt?" Er hatte die Stimme wiedergefunden, und nun wurde sie mit jedem Wort lauter.
"Wie meinen Sie das?"
"Josy. Was haben Sie mit ihr gemacht?"
Larenz brüllte jetzt, und die Gespräche der wartenden Patienten verstummten schlagartig. Man sah es Maria an, dass sie nicht die leiseste Ahnung hatte, wie sie mit dieser Situation umgehen sollte. Natürlich war sie als Sprechstundenhilfe bei Dr. Grohlke außergewöhnliches Verhalten von Patienten gewohnt. Schließlich war das hier keine Privatpraxis, und die Uhlandstraße zählte schon lange nicht mehr zu den vornehmsten Adressen Berlins. Immer wieder schwemmte die nahe gelegene Lietzenburger Straße Prostituierte und Junkies in die Warteräume. Und niemand wunderte sich, wenn beispielsweise ein abgemagerter Stricher auf Entzug die Sprechstundenhilfe anschrie, weil er sich nicht wegen seiner Ekzeme behandeln lassen wollte, sondern eine Arznei brauchte, die seine Schmerzen lindern konnte.
Nur lag heute der Fall etwas anders. Denn Dr. Viktor Larenz trug keinen dreckigen Trainingsanzug und kein durchlöchertes T-Shirt. Er hatte keine ausgelatschten Turnschuhe an, und sein Gesicht war keine Sammelstelle für aufgeplatzte, eiternde Pickel. Im Gegenteil. Er sah aus, als sei der Begriff "distinguiert" extra für ihn erfunden worden: schlanke Figur, gerade Körperhaltung, breite Schultern, eine hohe Stirn und ein markantes Kinn. Obwohl er in Berlin geboren und aufgewachsen war, hielten ihn die meisten für einen Hanseaten. Nur die grau melierten Schläfen und die klassische Nase fehlten ihm. Selbst seine teakholzbraunen lockigen Haare, die er in letzter Zeit etwas länger trug, und seine schiefe Nase - schmerzhafte Erinnerung an einen Segelunfall - taten dem weltmännischen Gesamteindruck keinen Abbruch. [...]

Was hier typischerweise passiert: kurze aktive Passagen, wie der Dialog am Anfang, werden mit längeren Passagen im Tell abgewechselt. Dabei weiß Dr. Larenz (der Protagonist) nicht, dass die Sprechstundenhilfe "außergewöhnliches Verhalten von Patienten gewohnt" ist. Und die Sprechstundenhilfe weiß nicht, dass Larenz "in Berlin geboren und aufgewachsen war" und die meisten ihn wegen seines wahrscheinlich nicht vorhandenen berliner Dialekts für einen "Hanseaten" halten. Sie weiß auch nicht, dass seine schiefe Nase eine "schmerzhafte Erinnerung an einen Segelunfall" ist. Das ist klassisches "Head-hopping", also von Kopf-zu-Kopf-Springen. Das wissen nur die Figuren selbst bzw. der allwissende Erzähler, der hier beide Ansichten vermischt.

Ich für meinen Teil empfinde das als sehr anstrengend. Tatsächlich betreibt der Autor damit (sehr schlechtes) Worldbuilding, wenn auch nicht in dem gigantischen Ausmaß, wie es jetzt z.B. ein Fantasy Autor machen würde. Als ich das Buch zum ersten Mal gelesen habe, ist mir das nicht aufgefallen. Im Herbst 2023, kurz bevor die Serie zum Buch (bei Amazon Prime Video) erschienen ist, ist es mir dann aber aufgefallen, als ich das Buch nach über vier Jahren ein zweites Mal gelesen habe.

Diese längeren Tell-Passagen nehmen nicht nur die Spannung raus, es ist, als würde der Autor nach dem Satz "Man sah es Maria an, dass sie nicht die leiseste Ahnung hatte, wie sie mit dieser Situation umgehen sollte" auf den Pause-Knopf drücken und ausholen, um dem Leser das zu vermitteln, wovon er denkt, das es wichtig ist. Der Leser wird also von Vornherein nicht als denkendes Wesen ernst genommen, sondern muss sich durch Geschwafel quälen, das überhaupt nicht relevant für die Handlung ist. Nur der Dialog und die Reaktionen von Dr. Larenz und der Sprechstundenhilfe sind wichtig. Alles andere kann getrost gestrichen werden. Das Geschwafel dient in diesem Moment nämlich nur einem Zweck: die Beschreibung des Protagonisten in all ihrer Ausführlichkeit. Nur damit das schon mal von der Checkliste abgehakt ist. So fühlt es sich für mich jedenfalls an.

Figurenbeschreibungen (=Charakterisierung) bzw. Beschreibungen allgemein (=Worldbuilding) sollten häppchenweise und natürlich (wenn es handlungsrelevant ist) über die gesamte Handlung verteilt eingestreut werden. Also nicht auf den Pause-Knopf drücken und Punkt für Punkt Fakten herunterrattern, die man vorher in einem Steckbrief festgehalten hat. Vielmehr sollte die Beschreibung mit dem Verhalten bzw. der Wahrnehmung des Charakters verwoben werden. Der Leser sollte im besten Fall gar nicht mitbekommen, dass diese Info nur für ihn ist, damit er sich den Charakter und die Umgebung besser vorstellen kann. Das mag hart klingen, aber wenn ich das Buch ("Die Therapie") jetzt zum ersten Mal lesen würde, wäre ich nie über die 13. Seite hinausgekommen. Ich hätte es an dieser Stelle abgebrochen.

Im Verlauf des Buches wird es besser und man bekommt den allwissenden Erzähler nicht mehr so stark zu spüren wie am Anfang. Und man muss auch bedenken, dass dieses Buch das Debüt des Autors ist, und er es damals noch nicht besser wusste. (Mehr dazu am Ende des Kapitels.) Dennoch nervt mich sowas, weil es einfach nicht sein muss. Ich kann an dieser Stelle nur empfehlen, nicht wie in diesem Beispiel ins Schwafeln zu kommen, sondern immer so nah wie möglich an den handlungsrelevanten Dingen zu bleiben.

- der allwissende Erzähler kann auch als "neutraler" Erzähler fungieren, der scheinbar objektiv ist, nur beobachtet und nicht wertet (keine Vermutungen über Motive, Hintergründe, etc.)
- Er/Sie
- hauptsächlich sehend und hörend (wie eine Kamera)

Eine Kamera ist nie neutral: Sie zeigt immer nur einen sorgfältig ausgewählten Ausschnitt – und wir wissen nie, was alles aus dem Bild ausgelassen wurde.
(Quelle: https://die-schreibtechnikerin.de/literaturwissenschaft-definitionen-modelle/erzaehltheorie/neutraler-erzaehler-unzuverlaessiger-erzaehler)

- Gedanken und Gefühle müssen allein durch Mimik, Gestik, Handlung und Dialog deutlich werden (kein innerer Monolog möglich)
- empfehlenswert bei vereinzelten Szenen und natürlich in einem Drehbuch
- auf Dauer stellt sich bei diesem Erzählstil ("neutral") allerdings kein richtiges Leseerlebnis ein, was vor allem durch Nähe (Einblick in Gedanken- und Gefühlswelt) zu den Charakteren erzeugt wird

PERSONALER ERZÄHLER
3. Person (Er/Sie), 1. Person (Ich), 2. Person (Du)

3. Person (Er/Sie)

- weiß nur über den jeweiligen POV-Charakter Bescheid (kann bei anderen Figuren nur Vermutungen durch Beobachten und Fragen anstellen)
- schaut ihm über die Schulter und kennt dabei auch seine Gedanken und Gefühle
- Sichtwechsel bevorzugt bei neuer Szene/Kapitel
- empfehlenswert bei mehreren Hauptcharakteren/Handlungssträngen und wenn man eine relativ starke Verbindung zu ihnen aufbauen möchte

Beispiel aus "Night School - Du darfst keinem trauen" von C.J. Daugherty (Seite 10)

[...] Die Fahrt verlief schweigsam. Zu Hause stieg er (Allies Vater) ohne ein Wort aus. Allie schlurfte hinter ihm her, während das ungute Gefühl in der Magengrube anwuchs.
Er wirkte nicht böse. Er wirkte ... leer.
Allie ging die Treppe hoch und den Flur entlang, vorbei am verwaisten Zimmer ihres Bruders. In der Sicherheit ihres eigenen Zimmers betrachtete sie sich eingehend im Spiegel. Ihr schulterlanges, hennarotes Haar war strähnig, schwarze Farbe klebte an einer Schläfe, und die Wimperntusche unter den Augen war verschmiert. Sie roch nach altem Schweiß und Angst.
"Na", sagte sie zu ihrem Spiegelbild, "das hätte auch schlimmer ausgehen können."
[...]

Hier benutzt die Autorin zwar eine klassische Spiegel-Szene, um ihre Protagonistin zu beschreiben, aber im Vergleich zum allwissenden Erzähler bleibt die Beschreibung kurz und vor allem handlungsrelevant. Es ist nur logisch, dass Allie so fertig aussieht, nachdem sie im ersten Kapitel mitten in der Nacht in ihre Schule eingebrochen ist, um herumzusprayen, und dann in einem von innen verschlossenen Abstellraum eine Panikattacke hatte. Dennoch fühlt es sich für mich als Leser nicht wie ein unnötiger Fakt an, weil sich die Beschreibung natürlich in die Handlung einfügt. Die Beschreibung bleibt aktiv (es wird kein Pause-Knopf gedrückt) und schweift nicht ab.

Außerdem betreibt die Autorin in dieser kurzen Szene ein hervorragendes Beispiel für gutes Foreshadowing (dt. "Vorausdeutung") in dem Nebensatz: "... vorbei am verwaisten Zimmer ihres Bruders". Der Leser weiß es noch nicht, aber diese scheinbar unbedeutende Info ist für den späteren Verlauf der Handlung wichtig. Dabei steht die Info auch einfach nur da und wird erstmal nicht lang und breit erklärt. Warum? Weil es zu diesem Zeitpunkt in der Handlung noch nicht wichtig ist. Es ist nur wichtig, dass der Leser die Info erhält, dass Allie einen Bruder hat bzw. hatte in Bezug auf "verwaist". Denn das bedeutet wahrscheinlich, dass er nicht mehr da ist. Das Warum erfährt der Leser erst, wenn er weiterliest und an der Stelle angelangt ist, in der es eben wichtig für die Handlung ist.

Ich für meinen Teil finde diese Art des personalen Erzählers, wie er in "Night School" zu finden ist, mehr als gelungen, weil er immer nah an den Charakteren ist und dennoch Raum für Spekulationen lässt. Er nimmt einen als Leser ernst, erklärt einem nur das, was wirklich wichtig ist und beschränkt sich ansonsten darauf, den Rest durch das Verhalten der Charaktere zu zeigen.

1. Person (Ich)

- innere Stimme des Ich-Erzählers
- weiß nur über die eigene Gefühlswelt Bescheid (kann bei anderen Figuren nur Vermutungen durch Beobachten und Fragen anstellen)
- auch hier Sichtwechsel möglich, bevorzugt bei neuer Szene/Kapitel
- Sichtwechsel: typisch bei Young oder New Adult Romance, wenn sich die Sichtweisen des weiblichen und männlichen (oder gleichgeschlechtlichen) Hauptcharakters abwechseln
- Achtung: Erzählweise, Gedanken und persönliche Wahrnehmung MÜSSEN sich voneinander unterscheiden lassen können, damit sich nicht jeder Ich-Erzähler gleich anhört/liest, und weil jeder Charakter individuell spricht, denkt und seine Umgebung wahrnimmt
- empfehlenswert bei wenigen Hauptcharakteren/Handlungssträngen oder einem Protagonisten und wenn man eine besonders starke Verbindung zu den Charakteren aufbauen möchte

Negatives Beispiel aus "Ghostman" von Roger Hobbs (Seite 23-24)

[...] Mein Computer machte noch einmal "Pling".
Ich lebe seit fast zwanzig Jahren von bewaffneten Raubüberfällen. Paranoia gehört zum Geschäft, genau wie ein Stapel mit falschen Pässen und Hundert-Dollar-Scheinen unter der untersten Schublade meiner Kommode. Angefangen habe ich als Teenanger mit ein paar Banken, weil ich dachte, das Prickeln könnte mir gefallen. Ich hatte nie besonders viel Glück und wahrscheinlich auch nie besonders viel Verstand, aber ich bin immerhin noch nie von der Polizei erwischt worden, und meine Fingerabdrücke sind auch nirgends gespeichert. Ich bin sehr gut in dem, was ich tue. Überlebt habe ich, weil ich äußerst vorsichtig bin. Ich lebe allein, ich schlafe allein, ich esse allein. Ich traue niemandem. [...]

Dieses Beispiel finde ich fast genauso schlimm wie das mit dem allwissenden Erzähler. Warum? Weil es bei diesem Buch seeehr viele solcher Passagen gibt - gerade am Anfang. Damit meine ich, dass es einen oder wenige Sätze mit aktiver Handlung gibt: "Mein Computer machte noch einmal "Pling"", gefolgt von mehreren Absätzen mit ausschweifenden Gedanken. Die nebenbei bemerkt und aus dem Kontext gerissen null Sinn ergeben, weil sie sich scheinbar nicht auf die aktiven Passagen beziehen. Der Autor drückt also immer wieder auf den Pause-Knopf und textet den Leser mit Wissen zu. Dieses Wissen kann der Leser aber nicht wirklich verarbeiten, weil er kaum etwas bekommt (Handlung, Verhalten, Dialog, etc.), womit er es verknüpfen kann. Heißt, das Wissen ist zwar wichtig, es fühlt sich aber nicht so an.

Auch dieses Buch ist ein Debüt. Anfänger-Autoren haben anscheinend den Drang viel zu viel zu labern und nicht auf den Punkt zu kommen. Das Witzige oder Traurige (je nachdem) bei diesem Buch ist, dass der Autor am Anfang nicht mit dem Geschwafel aufhören kann, es dann aber im Verlauf der Geschichte fast nur noch Dialog und Handlung gibt und es sich dadurch mehr wie ein Drehbuch lesen lässt. Vom "Show don't tell"-Aspekt her ist das gut, allerdings fehlen die Emotionen und allgemein die Atmosphäre.

Für mich hat sich der Ich-Erzähler wie ein Roboter ohne Gefühle lesen lassen. Dabei sollte doch gerade dieser Erzähler mittendrin statt nur dabei sein. Und das hat es mir sehr schwer gemacht, mit ihm mitzufiebern. Denn egal, was passiert ist, es hatte keine Bedeutung für ihn. Für den Charakter stand gefühlt nichts auf dem Spiel. Er findet eine Lösung (was meistens den Tod anderer Figuren bedeutet hat), haut dabei einen "One-liner" (=Spruch, meist ein kurzer Satz) raus und geht dann zum nächsten Tagesordnungspunkt über. Das kann man vielleicht in Actionfilmen machen, bei denen nichts anderes erwartet wird. Tiefgründig ist für mich jedenfalls etwas anderes.

Keine Frage, auf eine verquere Weise hat dieses Buch Spaß gemacht (zufällig stehe ich auf coole "One-liner"), im Nachhinein kann ich aber echt nicht mehr sagen, ob der Charakter aufgrund der fehlenden Gefühle überhaupt eine Wandlung durchgemacht hat. Ich glaube, es ging nur um die Handlung (also den Auftrag, den der Protagonist ausführen sollte) und nicht darum, dass der Charakter irgendetwas lernt. Denn er war ja schon von Anfang an ein taffer Kerl. Halt, das stimmt nicht ganz. Seine Vergangenheit erfährt man in ein paar zwischengestreuten einzelnen Kapiteln, die tatsächlich das Beste an dem Buch waren und mich erst dazu gebracht haben, weiterlesen zu wollen.

Positives Beispiel aus "Silber - Das zweite Buch der Träume" (sorry, ich besitze leider nur das zweite Buch in physischer Form) von Kerstin Gier (Seite 122-123)

[...] Als Mia und ich am nächsten Morgen um sieben verschlafen in der Küche auftauchten, waren alle schon dort. Und sie schienen in heller Aufregung zu sein. Ernest telefonierte mit hektischer Stimme nebenan im Esszimmer, und Florence saß am Tisch und weinte. Mum tätschelte ihr die Schulter.
"Was ist passiert?", fragte ich erschrocken. Vielleicht war ein lieber Verwandter gestorben? Oder ein Atomkraftwerk in die Luft gegangen? Grayson sah auch irgendwie verstört aus.
Lottie presste Pampelmusensaft aus wie jeden Morgen, aber auch sie hatte rote Wangen vor lauter Aufregung. "Stellt euch vor, heute Nacht hat man in Mrs Spencers Garten einen Baum abgesägt."
Ich starrte sie für einen Moment ungläubig an. Kein lieber Verwandter also, kein Atomkraftwerk. Mein Blick glitt zurück zu Florence' tränenfeuchten Wangen. Sie heulte wegen Mr Snuggles?
Unauffällig schlich ich mich an Lottie vorbei zur Kaffeemaschine, schob die größte Tasse darunter, die ich finden konnte, und drückte auf den Cappuccino-Knopf. Zweimal.
"Einen Baum? Warum das denn?", erkundigte sich Mia mit einer perfekt dosierten Mischung aus Neugier und mildem Staunen.
"Das weiß niemand", sagte Lottie. "Aber Mrs Spencer hat bereits Scotland Yard eingeschaltet. Es war ein sehr wertvoller Baum."
Ich hätte beinahe laut losgelacht. Ja, klar. Die hatten bestimmt eine eigene Gartenermittlungsabteilung für solche Fälle. Scotland Frontyard. "Guten Tag, mein Name ist Inspektor Griffin, und ich ermittle im Mordfall Mr Snuggles."
"Und warum weint Florence?"
"Sie weint, weil sie den Baum so geliebt hat", sagte Mum.
Herrje - es war kein Baum gewesen, sondern ein Busch. Ein Busch, den man in eine fragwürdige Form gezwängt hatte.
[...]

Was soll ich dazu noch groß sagen? Ja, die Mischung aus Handlung, Dialog und Gedanken ist hier super gelungen. Allerdings gibt es auch bei "Silber" mehrere Stellen, in denen der Ich-Erzähler zu ausschweifenden Gedankengängen neigt. Im Vergleich zu "Ghostman" oder "Die Therapie" sind diese jedoch immer in einem ironischen Unterton verfasst und lassen sich somit genauso lesen wie der Rest - in einem Rutsch. Außerdem steckt in diesen Ausschweifungen innerer Konflikt, den Liv zu bewältigen versucht. Und das ist nicht nur lustig, sondern auch spannend verpackt.

Wenn auch eher für ein jüngeres Publikum, wie man anhand der Wortwahl und der teilweise offensichtlichen Bestätigungen erkennen kann. Ein erwachsener Leser muss nämlich nicht unbedingt darauf hingewiesen werden, dass Lotties Wangen vor Aufregung rot sind. Es würde reichen, wenn er die Tatsache vermittelt bekommt, dass Lottie rote Wangen hat. Den Rest kann er sich selbst durch die gegebene Situation erschließen. Beziehungsweise steht ja am Anfang der Szene/des Kapitels da, dass alle "in heller Aufregung zu sein" scheinen.

2. Person (Du)

- Erzähler spricht den Leser direkt an, was sofort zu einer intensiven emotionalen Bindung führen kann
- für den Leser kann es sich so anfühlen, als ob er der Protagonist ist und die Handlungen und Erfahrungen in/aus der Geschichte selbst durchlebt
- gleichzeitig kann diese Perspektive aber auch distanziert wirken, weil der Erzähler nur oberflächlich und eher beobachtend (allgemeine Reaktionen) auf die Gefühlswelt des Lesers/namenlosen Protagonisten eingehen kann, von daher wäre es besser, aus Sicht eines konkreten Protagonisten zu schreiben, um dessen Gefühlswelt (innere Konflikte) genauer zu beleuchten
- empfehlenswert ist dieser Erzähler vor allem in interaktiven und experimentellen Geschichten - insbesondere Kurzgeschichten (oder Videospiele) in den Genres Abenteuer, Krimi, Science Fiction, Fantasy, Horror, Survival
- bei Romanen würde ich eher zu Charakteren greifen, mit denen sich der Leser identifizieren kann, weil er einen direkten Einblick in ihre individuelle Gefühlswelt bekommt und/oder ihnen über die Schulter schaut, und dadurch mit ihnen mitfiebert

(bekannte) Beispiele
- "Choose Your Own Adventure"-Buchserie (ursprünglich von Edward Packard und R.A. Montgomery entwickelt)
- "Die drei ??? Kids - Dein Fall!"-Reihe
- "Gänsehaut"-Reihe von R. L. Stine (Autor u.a. von "Fear Street")

UNZUVERLÄSSIGER ERZÄHLER

- der jeweilige unzuverlässige Erzähler (naiv, bewusst oder psychologisch) präsentiert dem Leser eine bewusst oder unbewusst verzerrte oder unvollständige Version der Ereignisse
- in Verbindung mit dem Allwissenden Erzähler, dem Personalen Erzähler in der 3. Person (Sie/Er), in der 1. Person (Ich) oder in der 2. Person (Du)
- empfehlenswert bei Geschichten, in denen es um komplexe Charaktere, Spannung und Wahrheit geht und der Leser zum Nachdenken und Infragestellen angeregt werden soll

Arten von unzuverlässigen Erzählern
naiv-unzuverlässig, bewusst-unzuverlässig, psychologisch-unzuverlässig

naiv-unzuverlässig
mangelnde Erfahrung oder Verständnis

bewusst-unzuverlässig
absichtlich lügen oder Informationen zurückhalten

psychologisch-unzuverlässig
- psychische Störung
- (halluzinogene) Drogen
- Alkohol
- Halbschlaf
- Angst
- Trauma
- Traurigkeit
- Glück
- Wut
- Euphorie

Beispiel aus "Die Therapie" von Sebastian Fitzek (Seite 15-16)

[...] "Aber, Viktor, was ist denn in dich gefahren?", rief Dr. Grohlke hinter ihm her, doch Larenz schoss bereits wieder aus dem Raum an ihm vorbei in den Flur.
"Josy?"
Er rannte den Gang nach hinten und stieß dabei jede Tür auf.
"Josy, wo bist du?", brüllte er panisch.
"Um Himmels willen, Viktor!"
Der alte Allergologe folgte ihm, so schnell er konnte, doch Viktor schenkte ihm keine Beachtung. Die Angst ließ seinen Verstand aussetzen.
"Was ist hier drin?", schie er, als er die letzte Tür links vor dem Wartezimmer nicht öffnen konnte.
"Putzmittel. Nur Putzmittel, Viktor. Das ist unsere Abstellkammer."
"Öffnen!" Viktor rüttelte wie ein Wahnsinniger an der Türklinke.
"Jetzt hör mir mal zu ..."
"ÖFFNEN!"
Dr. Grohlke packte Larenz mit unvermuteter Kraft an beiden Oberarmen und hielt ihn fest.
"Beruhige dich, Viktor! Und hör mir zu. Deine Tochter kann nicht da drin sein. Die Putzfrau hat den Schlüssel heute Vormittag mitgenommen, und sie kommt erst morgen früh wieder."
Larenz atmete schwer und registrierte die Worte, ohne ihren Inhalt zu verstehen.
"Lass uns also bitte logisch vorgehen." Dr. Grohlke lockerte seinen Griff und legte eine Hand auf Viktors Schulter.
"Wann hast du deine Tochter zuletzt gesehen?"
"Vor einer halben Stunde, hier im Wartezimmer", hörte Viktor sich sagen. "Sie ist zu dir reingegangen."
Der alte Arzt schüttelte besorgt den Kopf und wandte sich zu Maria, die ihnen gefolgt war.
"Ich habe Josephine nicht gesehen", sagte sie zu ihrem Chef. "Und sie hat heute keinen Termin."
Blödsinn, schrie Larenz in Gedanken und griff sich an die Schläfen.
[...]

So sehr ich auch über den allwissenden Erzähler in "Die Therapie" ein ganzes Stück weiter oben hergezogen habe, für mich funktioniert das Buch trotzdem, weil mich die Handlung und die Atmosphäre mitreißen konnten. Die Geschichte LEBT von der Infragestellung, was wahr ist und was nicht. Denn es wird bereits am Anfang klar, dass man es mit einem unzuverlässigen (allwissenden) Erzähler zu tun bekommt. Das Ausmaß, wie unzuverlässig er tatsächlich ist, bekommt man aber erst am Ende zu spüren. Und das hat es meiner Meinung nach in sich. Trotz allwissender Erzähler und Anfängerfehler, ist "Die Therapie" für mich deshalb immer noch einer der besten Psychothriller von Sebastian Fitzek.

Und im Übrigen mal wieder viel besser als die Verfilmung. Die Serie ist zwar nicht schlecht (für eine deutsche Produktion), allerdings hat mir persönlich die horrormäßige Stimmung (mit dem Sturm) auf der Insel gefehlt, die im Buch im Vordergrund steht.

Weitere (bekannte) Beispiele
- "Der Große Gatsby" von F. Scott Fritzgerald
- "Gone Girl" von Gillian Flynn
- "Fight Club" von Chuck Palahniuk

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